Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die historische Nothwendigkeit, die Droysen in Preußens Beruf findet,
liegt nicht in der Weisheit dieses oder jenes einzelnen Königs oder Ministers.
Es ist auch nicht ganz geschickt, wenn man zur Bezeichnung dieses Berufs den
alten Ausdruck Ghibellinismus anwendet, im Gegentheil möchte die Analogie
mehr zu den alten historischen Welsen hinführen. Die historische Bedeutung
Preußens liegt darin, daß in dem deutschen Volk das Bedürfniß vorhanden
ist, sich von den alten romantischen Beziehungen zum römischen Reich loszu¬
reißen und einen eignen kräftigen Staat zu gründen, dessen Formen seinem
Lebensinhalt entsprechen. Geistig hat der Protestantismus die Emancipation
der Deutschen vermittelt, aber die wirkliche Befreiung kann nur ein kriegerisch
angelegter Staat vollenden. Daß dieser Staat freilich grade Preußen heißt
und seine Dynastie die Hohenzollern, darin liegt zunächst nichts Providentielles;
unter Umständen hätten Hannover und Sachsen dieselben Rollen spielen können,
und von dem letztern konnte man es noch zu Anfang des dreißigjährigen
Krieges erwarten. Wie nun aber die Regenten aus dem Hause Hohenzollern ihre
Aufgabe richtiger verstanden und geschickter durchgeführt haben, das darf dem
Geschichtskundigen nicht erst mitgetheilt werden. In diesem Augenblick ist
zwischen den genannten Staaten keine Wahl mehr, denn daß nur der Stärkste
die Hegemonie führen kann, das versteht sich doch wol von selbst.

Es ist ein großer Ueb-elstand, daß Herr Jürgens, und die meisten seiner
Parteigenossen nicht klar aussprechen, was für ein Ziel der deutschen Politik
ihnen vorschwebt, und daß sie ebensowenig zwischen ihren Gegnern unter¬
scheiden. Für das Erstere haben sie jetzt einen, sehr beachtenswerthen Grund.
In diesem Augenblick sind ihre hohen Freunde nicht ganz auf einer Seite; die
Politiker der mitteldeutschen Staaten neigen gerade jetzt mehr zu Preu¬
ßen, als zu Oestreich, weil sie die Angriffe nicht von dem erstern, sondern
von dem letzter" erwarten. Herr Jürgens geht also darin behutsam zu
Werke. Er läßt es z. B., obgleich er ti-e orientalische Frage sehr -ausführlich
bespricht, dahingestellt sein, ob die mitteldeutschen Staaten, welche sich mit
Preußen verbanden, Recht hatten, oder Oestreich, welches zu einem scharfen
Auftreten gegen Rußland aufforderte. Insgeheim ist seine Ansicht zwar darin
sehr bestimmt, er ist nicht auf Seite der Mittelstaate" , sondern auf Seite Oest¬
reichs; aber er macht es grade so, wie das von Uns charakterisirte Publicum,
er bürdet die Schuld der deutschen Politik nicht den Mittelstaaten, in deren
Interesse sie geschah, sondern ausschließlich Preußen auf, denn, meint er mit
Achselzucken, was soll man von den Mittelftaaten erwarten; aber Preußen
hatte die Pflicht, aufopfernd zu sein. Und zwar sind an dieser schlechte" Po¬
litik sämmtliche Parteien Preußens Schuld: Die Neupreußen, die Ministeriellen,
die Altpreußen, die Gothaer und die Demokraten. -- Aber diese Panum
haben ja alle das Verschiedenste gewollt: die Neupreußcn wollten eine in-


Die historische Nothwendigkeit, die Droysen in Preußens Beruf findet,
liegt nicht in der Weisheit dieses oder jenes einzelnen Königs oder Ministers.
Es ist auch nicht ganz geschickt, wenn man zur Bezeichnung dieses Berufs den
alten Ausdruck Ghibellinismus anwendet, im Gegentheil möchte die Analogie
mehr zu den alten historischen Welsen hinführen. Die historische Bedeutung
Preußens liegt darin, daß in dem deutschen Volk das Bedürfniß vorhanden
ist, sich von den alten romantischen Beziehungen zum römischen Reich loszu¬
reißen und einen eignen kräftigen Staat zu gründen, dessen Formen seinem
Lebensinhalt entsprechen. Geistig hat der Protestantismus die Emancipation
der Deutschen vermittelt, aber die wirkliche Befreiung kann nur ein kriegerisch
angelegter Staat vollenden. Daß dieser Staat freilich grade Preußen heißt
und seine Dynastie die Hohenzollern, darin liegt zunächst nichts Providentielles;
unter Umständen hätten Hannover und Sachsen dieselben Rollen spielen können,
und von dem letztern konnte man es noch zu Anfang des dreißigjährigen
Krieges erwarten. Wie nun aber die Regenten aus dem Hause Hohenzollern ihre
Aufgabe richtiger verstanden und geschickter durchgeführt haben, das darf dem
Geschichtskundigen nicht erst mitgetheilt werden. In diesem Augenblick ist
zwischen den genannten Staaten keine Wahl mehr, denn daß nur der Stärkste
die Hegemonie führen kann, das versteht sich doch wol von selbst.

Es ist ein großer Ueb-elstand, daß Herr Jürgens, und die meisten seiner
Parteigenossen nicht klar aussprechen, was für ein Ziel der deutschen Politik
ihnen vorschwebt, und daß sie ebensowenig zwischen ihren Gegnern unter¬
scheiden. Für das Erstere haben sie jetzt einen, sehr beachtenswerthen Grund.
In diesem Augenblick sind ihre hohen Freunde nicht ganz auf einer Seite; die
Politiker der mitteldeutschen Staaten neigen gerade jetzt mehr zu Preu¬
ßen, als zu Oestreich, weil sie die Angriffe nicht von dem erstern, sondern
von dem letzter» erwarten. Herr Jürgens geht also darin behutsam zu
Werke. Er läßt es z. B., obgleich er ti-e orientalische Frage sehr -ausführlich
bespricht, dahingestellt sein, ob die mitteldeutschen Staaten, welche sich mit
Preußen verbanden, Recht hatten, oder Oestreich, welches zu einem scharfen
Auftreten gegen Rußland aufforderte. Insgeheim ist seine Ansicht zwar darin
sehr bestimmt, er ist nicht auf Seite der Mittelstaate» , sondern auf Seite Oest¬
reichs; aber er macht es grade so, wie das von Uns charakterisirte Publicum,
er bürdet die Schuld der deutschen Politik nicht den Mittelstaaten, in deren
Interesse sie geschah, sondern ausschließlich Preußen auf, denn, meint er mit
Achselzucken, was soll man von den Mittelftaaten erwarten; aber Preußen
hatte die Pflicht, aufopfernd zu sein. Und zwar sind an dieser schlechte» Po¬
litik sämmtliche Parteien Preußens Schuld: Die Neupreußen, die Ministeriellen,
die Altpreußen, die Gothaer und die Demokraten. — Aber diese Panum
haben ja alle das Verschiedenste gewollt: die Neupreußcn wollten eine in-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/102816"/>
          <p xml:id="ID_721"> Die historische Nothwendigkeit, die Droysen in Preußens Beruf findet,<lb/>
liegt nicht in der Weisheit dieses oder jenes einzelnen Königs oder Ministers.<lb/>
Es ist auch nicht ganz geschickt, wenn man zur Bezeichnung dieses Berufs den<lb/>
alten Ausdruck Ghibellinismus anwendet, im Gegentheil möchte die Analogie<lb/>
mehr zu den alten historischen Welsen hinführen. Die historische Bedeutung<lb/>
Preußens liegt darin, daß in dem deutschen Volk das Bedürfniß vorhanden<lb/>
ist, sich von den alten romantischen Beziehungen zum römischen Reich loszu¬<lb/>
reißen und einen eignen kräftigen Staat zu gründen, dessen Formen seinem<lb/>
Lebensinhalt entsprechen. Geistig hat der Protestantismus die Emancipation<lb/>
der Deutschen vermittelt, aber die wirkliche Befreiung kann nur ein kriegerisch<lb/>
angelegter Staat vollenden. Daß dieser Staat freilich grade Preußen heißt<lb/>
und seine Dynastie die Hohenzollern, darin liegt zunächst nichts Providentielles;<lb/>
unter Umständen hätten Hannover und Sachsen dieselben Rollen spielen können,<lb/>
und von dem letztern konnte man es noch zu Anfang des dreißigjährigen<lb/>
Krieges erwarten. Wie nun aber die Regenten aus dem Hause Hohenzollern ihre<lb/>
Aufgabe richtiger verstanden und geschickter durchgeführt haben, das darf dem<lb/>
Geschichtskundigen nicht erst mitgetheilt werden. In diesem Augenblick ist<lb/>
zwischen den genannten Staaten keine Wahl mehr, denn daß nur der Stärkste<lb/>
die Hegemonie führen kann, das versteht sich doch wol von selbst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_722" next="#ID_723"> Es ist ein großer Ueb-elstand, daß Herr Jürgens, und die meisten seiner<lb/>
Parteigenossen nicht klar aussprechen, was für ein Ziel der deutschen Politik<lb/>
ihnen vorschwebt, und daß sie ebensowenig zwischen ihren Gegnern unter¬<lb/>
scheiden. Für das Erstere haben sie jetzt einen, sehr beachtenswerthen Grund.<lb/>
In diesem Augenblick sind ihre hohen Freunde nicht ganz auf einer Seite; die<lb/>
Politiker der mitteldeutschen Staaten neigen gerade jetzt mehr zu Preu¬<lb/>
ßen, als zu Oestreich, weil sie die Angriffe nicht von dem erstern, sondern<lb/>
von dem letzter» erwarten. Herr Jürgens geht also darin behutsam zu<lb/>
Werke. Er läßt es z. B., obgleich er ti-e orientalische Frage sehr -ausführlich<lb/>
bespricht, dahingestellt sein, ob die mitteldeutschen Staaten, welche sich mit<lb/>
Preußen verbanden, Recht hatten, oder Oestreich, welches zu einem scharfen<lb/>
Auftreten gegen Rußland aufforderte. Insgeheim ist seine Ansicht zwar darin<lb/>
sehr bestimmt, er ist nicht auf Seite der Mittelstaate» , sondern auf Seite Oest¬<lb/>
reichs; aber er macht es grade so, wie das von Uns charakterisirte Publicum,<lb/>
er bürdet die Schuld der deutschen Politik nicht den Mittelstaaten, in deren<lb/>
Interesse sie geschah, sondern ausschließlich Preußen auf, denn, meint er mit<lb/>
Achselzucken, was soll man von den Mittelftaaten erwarten; aber Preußen<lb/>
hatte die Pflicht, aufopfernd zu sein. Und zwar sind an dieser schlechte» Po¬<lb/>
litik sämmtliche Parteien Preußens Schuld: Die Neupreußen, die Ministeriellen,<lb/>
die Altpreußen, die Gothaer und die Demokraten. &#x2014; Aber diese Panum<lb/>
haben ja alle das Verschiedenste gewollt: die Neupreußcn wollten eine in-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0221] Die historische Nothwendigkeit, die Droysen in Preußens Beruf findet, liegt nicht in der Weisheit dieses oder jenes einzelnen Königs oder Ministers. Es ist auch nicht ganz geschickt, wenn man zur Bezeichnung dieses Berufs den alten Ausdruck Ghibellinismus anwendet, im Gegentheil möchte die Analogie mehr zu den alten historischen Welsen hinführen. Die historische Bedeutung Preußens liegt darin, daß in dem deutschen Volk das Bedürfniß vorhanden ist, sich von den alten romantischen Beziehungen zum römischen Reich loszu¬ reißen und einen eignen kräftigen Staat zu gründen, dessen Formen seinem Lebensinhalt entsprechen. Geistig hat der Protestantismus die Emancipation der Deutschen vermittelt, aber die wirkliche Befreiung kann nur ein kriegerisch angelegter Staat vollenden. Daß dieser Staat freilich grade Preußen heißt und seine Dynastie die Hohenzollern, darin liegt zunächst nichts Providentielles; unter Umständen hätten Hannover und Sachsen dieselben Rollen spielen können, und von dem letztern konnte man es noch zu Anfang des dreißigjährigen Krieges erwarten. Wie nun aber die Regenten aus dem Hause Hohenzollern ihre Aufgabe richtiger verstanden und geschickter durchgeführt haben, das darf dem Geschichtskundigen nicht erst mitgetheilt werden. In diesem Augenblick ist zwischen den genannten Staaten keine Wahl mehr, denn daß nur der Stärkste die Hegemonie führen kann, das versteht sich doch wol von selbst. Es ist ein großer Ueb-elstand, daß Herr Jürgens, und die meisten seiner Parteigenossen nicht klar aussprechen, was für ein Ziel der deutschen Politik ihnen vorschwebt, und daß sie ebensowenig zwischen ihren Gegnern unter¬ scheiden. Für das Erstere haben sie jetzt einen, sehr beachtenswerthen Grund. In diesem Augenblick sind ihre hohen Freunde nicht ganz auf einer Seite; die Politiker der mitteldeutschen Staaten neigen gerade jetzt mehr zu Preu¬ ßen, als zu Oestreich, weil sie die Angriffe nicht von dem erstern, sondern von dem letzter» erwarten. Herr Jürgens geht also darin behutsam zu Werke. Er läßt es z. B., obgleich er ti-e orientalische Frage sehr -ausführlich bespricht, dahingestellt sein, ob die mitteldeutschen Staaten, welche sich mit Preußen verbanden, Recht hatten, oder Oestreich, welches zu einem scharfen Auftreten gegen Rußland aufforderte. Insgeheim ist seine Ansicht zwar darin sehr bestimmt, er ist nicht auf Seite der Mittelstaate» , sondern auf Seite Oest¬ reichs; aber er macht es grade so, wie das von Uns charakterisirte Publicum, er bürdet die Schuld der deutschen Politik nicht den Mittelstaaten, in deren Interesse sie geschah, sondern ausschließlich Preußen auf, denn, meint er mit Achselzucken, was soll man von den Mittelftaaten erwarten; aber Preußen hatte die Pflicht, aufopfernd zu sein. Und zwar sind an dieser schlechte» Po¬ litik sämmtliche Parteien Preußens Schuld: Die Neupreußen, die Ministeriellen, die Altpreußen, die Gothaer und die Demokraten. — Aber diese Panum haben ja alle das Verschiedenste gewollt: die Neupreußcn wollten eine in-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/221>, abgerufen am 23.07.2024.