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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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Fritz von Gagern und Kaiser Nikolaus.

Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß die Deutschen erst acht Jahre nach
dem Tode Friedrichs von Gagern erfahren, wie viel die Kugel eines Tropfes
dem Vaterland im Jahr 1848 geraubt. Wenn der erste Band seines Lebens
und seiner Schriften, welche die Brüder zu seinem Gedächtniß herausgeben,
uns schon die imponirenden Umrisse seines Wesens zeigte, so werden die näch¬
sten Bände seine Züge noch tiefer in die Seele der Leser drücken, und zu der
Trauer über seinen Verlust wird die Sehnsucht nach einem solchen Manne
kommen. In der That war Friedrich von Gagern der Mann, in den Jahren
unsrer großen Bewegung eine entscheidende Rolle zu spielen, und so müßig
der Gedanke ist, daß durch ihn der Kampf zu anderem Verlauf gebracht worden
wäre, so ist er doch bei der Durchsicht seines Nachlasses kaum abzuwehren.
Er hatte alle Eigenschaften, eine große politische Rolle zu spielen und der
schwierigsten Situationen Herr zu werden. Er vertrat aus Ueberzeugung und
innerster Neigung die Grundsätze, denen unsere Partei folgt; aber so liberal
er war, so war er doch ein stolzer, kühner, ritterlicher Geist, der alle Sicherheit
und Geschlossenheit eines Aristokraten besaß. Sehr geneigt, zu reflectiren und
die Geschäfte vom höchsten Standpunkt anzusehn, war er doch in der Action
selbst immer kurz, fest, entschlossen. Es war ihm nicht zu imponiren, er war
nicht zu täuschen. Er übersah die Persönlichkeiten, wie hoch sie stehn mochten,
mit einer unbestechlichen Sicherheit und Schärfe. Er erscheint im Verkehr
trotz seines gehaltenen Wesens gewandt und sehr schlagfertig. Immer weiß
er genau, was er will, und man empfindet, daß seine innere Freiheit ihm nie
verkümmert wird. Er war nicht nur Soldat, sondern vielleicht noch mehr
Politiker. Seine Aufsätze, die er doch nur für sich oder für seine Familie
hinwarf, ohne den Gedanken an die Veröffentlichung, sind Documente eines
ruhigen, klaren, consequenten Geistes, musterhaft auch in der Form. Es ist
die Kürze und Präcision eines Staatsmanns, und wo dies nöthig war, alle
Feinheit und Ironie eines Diplomaten darin zu finden. Von seinen hinter¬
lassenen Schriften hat ein Theil für uns Werth, weil wir ihn selbst daraus
kennen lernen, Vieles aber gibt neues Material für Beurtheilung von poli¬
tischen Charakteren und wichtigen Ereignissen.


Grenzboten. IV. -I8S6., > 21
Fritz von Gagern und Kaiser Nikolaus.

Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß die Deutschen erst acht Jahre nach
dem Tode Friedrichs von Gagern erfahren, wie viel die Kugel eines Tropfes
dem Vaterland im Jahr 1848 geraubt. Wenn der erste Band seines Lebens
und seiner Schriften, welche die Brüder zu seinem Gedächtniß herausgeben,
uns schon die imponirenden Umrisse seines Wesens zeigte, so werden die näch¬
sten Bände seine Züge noch tiefer in die Seele der Leser drücken, und zu der
Trauer über seinen Verlust wird die Sehnsucht nach einem solchen Manne
kommen. In der That war Friedrich von Gagern der Mann, in den Jahren
unsrer großen Bewegung eine entscheidende Rolle zu spielen, und so müßig
der Gedanke ist, daß durch ihn der Kampf zu anderem Verlauf gebracht worden
wäre, so ist er doch bei der Durchsicht seines Nachlasses kaum abzuwehren.
Er hatte alle Eigenschaften, eine große politische Rolle zu spielen und der
schwierigsten Situationen Herr zu werden. Er vertrat aus Ueberzeugung und
innerster Neigung die Grundsätze, denen unsere Partei folgt; aber so liberal
er war, so war er doch ein stolzer, kühner, ritterlicher Geist, der alle Sicherheit
und Geschlossenheit eines Aristokraten besaß. Sehr geneigt, zu reflectiren und
die Geschäfte vom höchsten Standpunkt anzusehn, war er doch in der Action
selbst immer kurz, fest, entschlossen. Es war ihm nicht zu imponiren, er war
nicht zu täuschen. Er übersah die Persönlichkeiten, wie hoch sie stehn mochten,
mit einer unbestechlichen Sicherheit und Schärfe. Er erscheint im Verkehr
trotz seines gehaltenen Wesens gewandt und sehr schlagfertig. Immer weiß
er genau, was er will, und man empfindet, daß seine innere Freiheit ihm nie
verkümmert wird. Er war nicht nur Soldat, sondern vielleicht noch mehr
Politiker. Seine Aufsätze, die er doch nur für sich oder für seine Familie
hinwarf, ohne den Gedanken an die Veröffentlichung, sind Documente eines
ruhigen, klaren, consequenten Geistes, musterhaft auch in der Form. Es ist
die Kürze und Präcision eines Staatsmanns, und wo dies nöthig war, alle
Feinheit und Ironie eines Diplomaten darin zu finden. Von seinen hinter¬
lassenen Schriften hat ein Theil für uns Werth, weil wir ihn selbst daraus
kennen lernen, Vieles aber gibt neues Material für Beurtheilung von poli¬
tischen Charakteren und wichtigen Ereignissen.


Grenzboten. IV. -I8S6., > 21
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[0169] Fritz von Gagern und Kaiser Nikolaus. Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß die Deutschen erst acht Jahre nach dem Tode Friedrichs von Gagern erfahren, wie viel die Kugel eines Tropfes dem Vaterland im Jahr 1848 geraubt. Wenn der erste Band seines Lebens und seiner Schriften, welche die Brüder zu seinem Gedächtniß herausgeben, uns schon die imponirenden Umrisse seines Wesens zeigte, so werden die näch¬ sten Bände seine Züge noch tiefer in die Seele der Leser drücken, und zu der Trauer über seinen Verlust wird die Sehnsucht nach einem solchen Manne kommen. In der That war Friedrich von Gagern der Mann, in den Jahren unsrer großen Bewegung eine entscheidende Rolle zu spielen, und so müßig der Gedanke ist, daß durch ihn der Kampf zu anderem Verlauf gebracht worden wäre, so ist er doch bei der Durchsicht seines Nachlasses kaum abzuwehren. Er hatte alle Eigenschaften, eine große politische Rolle zu spielen und der schwierigsten Situationen Herr zu werden. Er vertrat aus Ueberzeugung und innerster Neigung die Grundsätze, denen unsere Partei folgt; aber so liberal er war, so war er doch ein stolzer, kühner, ritterlicher Geist, der alle Sicherheit und Geschlossenheit eines Aristokraten besaß. Sehr geneigt, zu reflectiren und die Geschäfte vom höchsten Standpunkt anzusehn, war er doch in der Action selbst immer kurz, fest, entschlossen. Es war ihm nicht zu imponiren, er war nicht zu täuschen. Er übersah die Persönlichkeiten, wie hoch sie stehn mochten, mit einer unbestechlichen Sicherheit und Schärfe. Er erscheint im Verkehr trotz seines gehaltenen Wesens gewandt und sehr schlagfertig. Immer weiß er genau, was er will, und man empfindet, daß seine innere Freiheit ihm nie verkümmert wird. Er war nicht nur Soldat, sondern vielleicht noch mehr Politiker. Seine Aufsätze, die er doch nur für sich oder für seine Familie hinwarf, ohne den Gedanken an die Veröffentlichung, sind Documente eines ruhigen, klaren, consequenten Geistes, musterhaft auch in der Form. Es ist die Kürze und Präcision eines Staatsmanns, und wo dies nöthig war, alle Feinheit und Ironie eines Diplomaten darin zu finden. Von seinen hinter¬ lassenen Schriften hat ein Theil für uns Werth, weil wir ihn selbst daraus kennen lernen, Vieles aber gibt neues Material für Beurtheilung von poli¬ tischen Charakteren und wichtigen Ereignissen. Grenzboten. IV. -I8S6., > 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/169>, abgerufen am 23.07.2024.