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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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haben, werden so betrieben, daß jede Vollständigkeit, jede unbedingte Durch¬
dringung des Gegenstandes ausgeschlossen bleibt, denn das würde, wie man
meint, den Anstrich der Pedanterie hervorbringen, und eine pedantische Dame
könnte sich doch in der guten Gesellschaft nicht sehen lassen. Dadurch wird
jene Dreistigkeit des Urtheils herbeigeführt, die uns bei "gebildeten" Frauen so
häufig überrascht, und deren Grund einfach darin liegt, daß sie die Schwie¬
rigkeiten' nicht sehen. -- Die schlimmste Verirrung der Töchterschulen zeigt sich
in den sogenannten deutschen Aufsätzen. Mit Recht glaubt man, daß vie Ge-
sühlsbildung bei den Frauen die Hauptsache ist, viel wichtiger, als die Ver¬
standesbildung, Statt nun aber das Gefühl einer strengen Zucht zu unter¬
werfen und es auf Wahrheit und Natur zurückzuführe", gewöhnt man das
junge Mädchen an eine Virtuosität des Empfindens; sie muß über jeden
Baum, über jede Blume, über den Begriff der Freundschaft, über Störche und
Schwalben, über Gott und ähnliche Dinge sich Empfindungen zu machen ver¬
stehen; mit andern Worten, und wer ruhig überlegt, wird diese Bezeichnung
nicht zu stark finden, man gewöhnt sie daran, sich selbst und andern etwas vor¬
zulügen und vorzuheucheln, und ist dann außer sich vor Verwunderung, wenn
sie dies Talent im spätern Leben in Anwendung bringt. Das echte, wahr¬
hafte Gefühl wird zwar dadurch nicht erstickt, aber es wird doch wenigstens
sein Ausdruck verkümmert.

Der Einfluß dieses Jugendunterrichts ist bei den Frauen um so grö¬
ßer, da einerseits ihre Bildung damit fertig ist, andererseits aber immer ihr
Streben und ihre Aufgabe bleibt, Bildung zu repräsentiren. Der Mann, der
nach Ablauf seiner Schulzeit in ein bestimmtes Geschäft tritt, hört bald ans,
dieser Art der Bildung nachzustreben. Die Wirkung der Schulzeit geht deshalb
nicht verloren, denn sie lehrt ihn in seinem eignen Fach tüchtig und ganz zu
Hause zu sein und so den Eindruck einer harmonischen Natur hervorzubringen,
von der bei einem Halbgebildeten nie die Rebe sein kann. Die Frau sährt
fort, zu lesen und zu urtheilen, aber sie liest-in der Regel nichts weiter alö
Romane oder allenfalls Journale. Wir wollen ganz davon absehen, wie er¬
bärmlich der Stoff ist, der^ ihnen >n der Regel damit geboten wird, aber auch
im besten Fall lernen sie daraus nur noch mehr die Virtuosität der indivi¬
duellen Empfindung und des unmittelbaren Urtheils ausbilden; das Gefühl
des Allgemeinen geht mehr und mehr darüber verloren.

, Zum Theil liegt das an der unzugänglichen Form, hinter der sich unsere
ernsthaften Schriftsteller verstecken. Die eigentlichen Wissenschaften verlangen
diese Form, aber eS gibt eine mittlere Region, in der wissenschaftliche Strenge
und künstlerische Anmuth gepaart sein können. Es ist z. B. kein Grund vor¬
handen, warum eine gebildete Frau in unsern Tagen nicht Mommsens römi¬
sche Geschichte, Rankes Päpste, oder ein ähnliches Werk lesen sollte, in wei-


haben, werden so betrieben, daß jede Vollständigkeit, jede unbedingte Durch¬
dringung des Gegenstandes ausgeschlossen bleibt, denn das würde, wie man
meint, den Anstrich der Pedanterie hervorbringen, und eine pedantische Dame
könnte sich doch in der guten Gesellschaft nicht sehen lassen. Dadurch wird
jene Dreistigkeit des Urtheils herbeigeführt, die uns bei „gebildeten" Frauen so
häufig überrascht, und deren Grund einfach darin liegt, daß sie die Schwie¬
rigkeiten' nicht sehen. — Die schlimmste Verirrung der Töchterschulen zeigt sich
in den sogenannten deutschen Aufsätzen. Mit Recht glaubt man, daß vie Ge-
sühlsbildung bei den Frauen die Hauptsache ist, viel wichtiger, als die Ver¬
standesbildung, Statt nun aber das Gefühl einer strengen Zucht zu unter¬
werfen und es auf Wahrheit und Natur zurückzuführe», gewöhnt man das
junge Mädchen an eine Virtuosität des Empfindens; sie muß über jeden
Baum, über jede Blume, über den Begriff der Freundschaft, über Störche und
Schwalben, über Gott und ähnliche Dinge sich Empfindungen zu machen ver¬
stehen; mit andern Worten, und wer ruhig überlegt, wird diese Bezeichnung
nicht zu stark finden, man gewöhnt sie daran, sich selbst und andern etwas vor¬
zulügen und vorzuheucheln, und ist dann außer sich vor Verwunderung, wenn
sie dies Talent im spätern Leben in Anwendung bringt. Das echte, wahr¬
hafte Gefühl wird zwar dadurch nicht erstickt, aber es wird doch wenigstens
sein Ausdruck verkümmert.

Der Einfluß dieses Jugendunterrichts ist bei den Frauen um so grö¬
ßer, da einerseits ihre Bildung damit fertig ist, andererseits aber immer ihr
Streben und ihre Aufgabe bleibt, Bildung zu repräsentiren. Der Mann, der
nach Ablauf seiner Schulzeit in ein bestimmtes Geschäft tritt, hört bald ans,
dieser Art der Bildung nachzustreben. Die Wirkung der Schulzeit geht deshalb
nicht verloren, denn sie lehrt ihn in seinem eignen Fach tüchtig und ganz zu
Hause zu sein und so den Eindruck einer harmonischen Natur hervorzubringen,
von der bei einem Halbgebildeten nie die Rebe sein kann. Die Frau sährt
fort, zu lesen und zu urtheilen, aber sie liest-in der Regel nichts weiter alö
Romane oder allenfalls Journale. Wir wollen ganz davon absehen, wie er¬
bärmlich der Stoff ist, der^ ihnen >n der Regel damit geboten wird, aber auch
im besten Fall lernen sie daraus nur noch mehr die Virtuosität der indivi¬
duellen Empfindung und des unmittelbaren Urtheils ausbilden; das Gefühl
des Allgemeinen geht mehr und mehr darüber verloren.

, Zum Theil liegt das an der unzugänglichen Form, hinter der sich unsere
ernsthaften Schriftsteller verstecken. Die eigentlichen Wissenschaften verlangen
diese Form, aber eS gibt eine mittlere Region, in der wissenschaftliche Strenge
und künstlerische Anmuth gepaart sein können. Es ist z. B. kein Grund vor¬
handen, warum eine gebildete Frau in unsern Tagen nicht Mommsens römi¬
sche Geschichte, Rankes Päpste, oder ein ähnliches Werk lesen sollte, in wei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/520>, abgerufen am 22.06.2024.