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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Satze Geltung zu verschaffen suchte: "Die Defensive ist eine Lehre der Erhal¬
tung"'"), so hat dies nur insofern Sinn, als er den Begriff der Vertheidigung
im allerengsten >und abstraktesten Sinne erfaßt, in welchem sie allerdings nur
eine Abwehr ist. Ein Staat entscheidet sich dazu, seiner Kriegführung die
defensive Form zu geben, wenn er zu der offensiven nicht die ausreichenden
Mittel besitzt, was selbstredend immer eine numerische Verhältnißfrage sein wird,
wenn nicht moralische Elemente überwiegend in Betracht kommen. Wären
die Ressourcen eines Staates dermaßen gering, daß sie keine Hoffnung zu
einem Erreichen des vorgesteckten Zieles, welches der Sieg ist, übriglassen,
so würde es ein Verstoß gegen alle politisch-militärische Logik sein, wenn
derselbe deßungcachtet zum Kriege schritte, da das Ende desselben ihn unter
allen Umständen in ungünstigerer Lage wie der Anfang vorfinden würde.
Eine Ausnahme hiervon wird nur insofern bestehen, als der Krieg von der
anderen Macht in der Absicht provocirt wird, die Existenz des anzugreifenden
Theiles selbst in Frage zu stellen, und falls die für solchen Zweck verfügbaren
Mittel den Erfolg außer Zweifel stellen. Der Widerstand gegen einen solchen
Versuch scheidet alsdann aus dem Bereich der normalen Kriegsverhältnisse aus
und wird zu einem besonderen Fall, der von seinem eignen Standpunkt aus
beurtheilt sein will. Wiewol im Interesse der zarischen Politik in preußischen
Organen wiederholt der Versuch gemacht worden ist, Rußland als gegenwärtig
in seiner Eristenz bedrohte und lediglich im allerengsten defensiven Sinne krieg¬
führende Macht darzustellen, so müssen wir doch auf das allerbestimmteste da¬
gegen protestiren, und, auch wenn das Vorgehen in Kleinasien uns nicht zum
Gegenbeweise diente, schon der jetzigen Proportion der Streitkräfte wegen und
sollten wir auch von dieser Abstand nehmen, dann ganz gewiß aus Vorsicht der
Annahme beipflichten, daß jedem russischen Rückgange vorerst nur das Princip
des reoulor pour mivux Sander zu Grunde liegt.

Also der Zar betrachtet seine defensive Kriegsform, nicht minder wie die
verbündeten Mächte ihre offensive, als ein Mittel zum Siege, und er wird
darnach seine Dispositionen treffen. Da man nun niemanden schlägt, wenn
man ihm beständig ausweichen wollte, so wird, auch wenn die russischen Massen
sich, gegenüber dem Einbruch ihrer Gegner in Bessarabien, zurückziehen sollten,
dieser Rückgang dennoch derart angelegt sein, daß er zum Vorgehen um¬
schlagen kann, wenn der geeignete Moment gekommen. Mit anderen Worten:
die Defensive wird hier, wie in allen anderen normalen Fällen, sofern sie sich
auf einen rationellen Calcül gründet, beim etwaigen Nückgehen nur die Her¬
beiführung von Verhältnissen bezwecken, die ihr den Uebergang zum Angriff
gestatten.



*) Siehe "Theorie des großen Krieges" Seite 127.

Satze Geltung zu verschaffen suchte: „Die Defensive ist eine Lehre der Erhal¬
tung"'"), so hat dies nur insofern Sinn, als er den Begriff der Vertheidigung
im allerengsten >und abstraktesten Sinne erfaßt, in welchem sie allerdings nur
eine Abwehr ist. Ein Staat entscheidet sich dazu, seiner Kriegführung die
defensive Form zu geben, wenn er zu der offensiven nicht die ausreichenden
Mittel besitzt, was selbstredend immer eine numerische Verhältnißfrage sein wird,
wenn nicht moralische Elemente überwiegend in Betracht kommen. Wären
die Ressourcen eines Staates dermaßen gering, daß sie keine Hoffnung zu
einem Erreichen des vorgesteckten Zieles, welches der Sieg ist, übriglassen,
so würde es ein Verstoß gegen alle politisch-militärische Logik sein, wenn
derselbe deßungcachtet zum Kriege schritte, da das Ende desselben ihn unter
allen Umständen in ungünstigerer Lage wie der Anfang vorfinden würde.
Eine Ausnahme hiervon wird nur insofern bestehen, als der Krieg von der
anderen Macht in der Absicht provocirt wird, die Existenz des anzugreifenden
Theiles selbst in Frage zu stellen, und falls die für solchen Zweck verfügbaren
Mittel den Erfolg außer Zweifel stellen. Der Widerstand gegen einen solchen
Versuch scheidet alsdann aus dem Bereich der normalen Kriegsverhältnisse aus
und wird zu einem besonderen Fall, der von seinem eignen Standpunkt aus
beurtheilt sein will. Wiewol im Interesse der zarischen Politik in preußischen
Organen wiederholt der Versuch gemacht worden ist, Rußland als gegenwärtig
in seiner Eristenz bedrohte und lediglich im allerengsten defensiven Sinne krieg¬
führende Macht darzustellen, so müssen wir doch auf das allerbestimmteste da¬
gegen protestiren, und, auch wenn das Vorgehen in Kleinasien uns nicht zum
Gegenbeweise diente, schon der jetzigen Proportion der Streitkräfte wegen und
sollten wir auch von dieser Abstand nehmen, dann ganz gewiß aus Vorsicht der
Annahme beipflichten, daß jedem russischen Rückgange vorerst nur das Princip
des reoulor pour mivux Sander zu Grunde liegt.

Also der Zar betrachtet seine defensive Kriegsform, nicht minder wie die
verbündeten Mächte ihre offensive, als ein Mittel zum Siege, und er wird
darnach seine Dispositionen treffen. Da man nun niemanden schlägt, wenn
man ihm beständig ausweichen wollte, so wird, auch wenn die russischen Massen
sich, gegenüber dem Einbruch ihrer Gegner in Bessarabien, zurückziehen sollten,
dieser Rückgang dennoch derart angelegt sein, daß er zum Vorgehen um¬
schlagen kann, wenn der geeignete Moment gekommen. Mit anderen Worten:
die Defensive wird hier, wie in allen anderen normalen Fällen, sofern sie sich
auf einen rationellen Calcül gründet, beim etwaigen Nückgehen nur die Her¬
beiführung von Verhältnissen bezwecken, die ihr den Uebergang zum Angriff
gestatten.



*) Siehe „Theorie des großen Krieges" Seite 127.
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[0079] Satze Geltung zu verschaffen suchte: „Die Defensive ist eine Lehre der Erhal¬ tung"'"), so hat dies nur insofern Sinn, als er den Begriff der Vertheidigung im allerengsten >und abstraktesten Sinne erfaßt, in welchem sie allerdings nur eine Abwehr ist. Ein Staat entscheidet sich dazu, seiner Kriegführung die defensive Form zu geben, wenn er zu der offensiven nicht die ausreichenden Mittel besitzt, was selbstredend immer eine numerische Verhältnißfrage sein wird, wenn nicht moralische Elemente überwiegend in Betracht kommen. Wären die Ressourcen eines Staates dermaßen gering, daß sie keine Hoffnung zu einem Erreichen des vorgesteckten Zieles, welches der Sieg ist, übriglassen, so würde es ein Verstoß gegen alle politisch-militärische Logik sein, wenn derselbe deßungcachtet zum Kriege schritte, da das Ende desselben ihn unter allen Umständen in ungünstigerer Lage wie der Anfang vorfinden würde. Eine Ausnahme hiervon wird nur insofern bestehen, als der Krieg von der anderen Macht in der Absicht provocirt wird, die Existenz des anzugreifenden Theiles selbst in Frage zu stellen, und falls die für solchen Zweck verfügbaren Mittel den Erfolg außer Zweifel stellen. Der Widerstand gegen einen solchen Versuch scheidet alsdann aus dem Bereich der normalen Kriegsverhältnisse aus und wird zu einem besonderen Fall, der von seinem eignen Standpunkt aus beurtheilt sein will. Wiewol im Interesse der zarischen Politik in preußischen Organen wiederholt der Versuch gemacht worden ist, Rußland als gegenwärtig in seiner Eristenz bedrohte und lediglich im allerengsten defensiven Sinne krieg¬ führende Macht darzustellen, so müssen wir doch auf das allerbestimmteste da¬ gegen protestiren, und, auch wenn das Vorgehen in Kleinasien uns nicht zum Gegenbeweise diente, schon der jetzigen Proportion der Streitkräfte wegen und sollten wir auch von dieser Abstand nehmen, dann ganz gewiß aus Vorsicht der Annahme beipflichten, daß jedem russischen Rückgange vorerst nur das Princip des reoulor pour mivux Sander zu Grunde liegt. Also der Zar betrachtet seine defensive Kriegsform, nicht minder wie die verbündeten Mächte ihre offensive, als ein Mittel zum Siege, und er wird darnach seine Dispositionen treffen. Da man nun niemanden schlägt, wenn man ihm beständig ausweichen wollte, so wird, auch wenn die russischen Massen sich, gegenüber dem Einbruch ihrer Gegner in Bessarabien, zurückziehen sollten, dieser Rückgang dennoch derart angelegt sein, daß er zum Vorgehen um¬ schlagen kann, wenn der geeignete Moment gekommen. Mit anderen Worten: die Defensive wird hier, wie in allen anderen normalen Fällen, sofern sie sich auf einen rationellen Calcül gründet, beim etwaigen Nückgehen nur die Her¬ beiführung von Verhältnissen bezwecken, die ihr den Uebergang zum Angriff gestatten. *) Siehe „Theorie des großen Krieges" Seite 127.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/79>, abgerufen am 25.08.2024.