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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Erregung lange überdauert, so wird dadurch doch ein gemeinsames nationales
Moment gewonnen, welches um so höher anzuschlagen ist, je sparsamer die ge¬
meinsamen Anstalten sind, deren wir uns erfreuen. Freilich wird dadurch, daß
man das Arndtsche Vaterlandslied singt, die Einheit Deutschlands noch nicht
hergestellt, und das Lied "Schleswig-Holstein meerumschlungen" wird die Dä¬
nen nicht aus ihren Nerschanzungen vertreiben; aber es wird doch dadurch das
gemeinsame Gefühl, die gemeinsame Sehnsucht lebendig erhalten, und das
Gefühl fällt in Perioden der Entscheidung doch schwerer ins Gewicht, als alt¬
kluge Menschen sich einbilden.




Die neuesten Vorfälle in Berlin.

Wenn wir über das beklagenswerthe Ereigniß, welches nicht blos Berlin,
sondern ganz Deutschland in eine unerhörte Aufregung versetzt hat, einige Be¬
merkungen nicht unterdrücken können, so verzichten wir von vornherein darauf,
in die thatsächlichen oder persönlichen Details einzugehen. Von den erstem
wissen wir nichts weiter, als was in den Zeitungen steht: was die letztern
betrifft, so zweifeln wir nicht daran, daß in der Persönlichkeit deS verstorbenen
Gmeralpolizeidirectors viele liebenswürdige und achtunggebietende Seiten waren,
und ebensowenig haben wir einen Grund bei seinem Gegner nicht dasselbe
vorauszusetzen. Wenn für diesen das Zeugniß seiner Standesgenossen im
Herrenhause spricht, so läßt die allgemeine Theilnahme der berliner Bevölke¬
rung bei dem Leichenbegängnis? des erstern, wieviel man auch auf Rechnung der
augenblicklichen Strömung schieben mag, keine Widerlegung zu. Der Gegen¬
stand unsrer Betrachtungen ist vielmehr lediglich die öffentliche Meinung selbst,
wie sie sich an diesem Ereigniß entwickelt hat.

Daß man in dem Streit der beiden hier in Frage kommenden Principien
sich entschieden für das staatliche und gegen das ständische erklärt hat, finden
wir ganz in der Ordnung; aber wir fürchten, daß man darin zu weit geht.
Man bedenke doch nur, daß es sich bei den Lobreden auf den Verstorbenen,
wie wir sie z. B. in der Nalionalzeitung antreffen, nur zum geringsten Theil
um eine Persönlichkeit, daß es sich hauptsächlich um ein System handelt, und
hier finden wir es nicht unbedenklich, daß man auf der liberalen Seite nicht
sorgfältiger den Anschein vermeidet, als wolle man das ganze System in Schutz
nehmen. Heute in der allgemeinen Aufregung geht das unbeachtet hin, aber
nach einiger Zeit wird die Kreuzzeitung, die, wo sie will, ein recht gutes Ge¬
dächtniß hat, wieder, daraus zurückkommen und die schon häufig gehörte Be¬
hauptung darauf begründen wollen, der Liberalismus gehe mit dem polizeilichen


Erregung lange überdauert, so wird dadurch doch ein gemeinsames nationales
Moment gewonnen, welches um so höher anzuschlagen ist, je sparsamer die ge¬
meinsamen Anstalten sind, deren wir uns erfreuen. Freilich wird dadurch, daß
man das Arndtsche Vaterlandslied singt, die Einheit Deutschlands noch nicht
hergestellt, und das Lied „Schleswig-Holstein meerumschlungen" wird die Dä¬
nen nicht aus ihren Nerschanzungen vertreiben; aber es wird doch dadurch das
gemeinsame Gefühl, die gemeinsame Sehnsucht lebendig erhalten, und das
Gefühl fällt in Perioden der Entscheidung doch schwerer ins Gewicht, als alt¬
kluge Menschen sich einbilden.




Die neuesten Vorfälle in Berlin.

Wenn wir über das beklagenswerthe Ereigniß, welches nicht blos Berlin,
sondern ganz Deutschland in eine unerhörte Aufregung versetzt hat, einige Be¬
merkungen nicht unterdrücken können, so verzichten wir von vornherein darauf,
in die thatsächlichen oder persönlichen Details einzugehen. Von den erstem
wissen wir nichts weiter, als was in den Zeitungen steht: was die letztern
betrifft, so zweifeln wir nicht daran, daß in der Persönlichkeit deS verstorbenen
Gmeralpolizeidirectors viele liebenswürdige und achtunggebietende Seiten waren,
und ebensowenig haben wir einen Grund bei seinem Gegner nicht dasselbe
vorauszusetzen. Wenn für diesen das Zeugniß seiner Standesgenossen im
Herrenhause spricht, so läßt die allgemeine Theilnahme der berliner Bevölke¬
rung bei dem Leichenbegängnis? des erstern, wieviel man auch auf Rechnung der
augenblicklichen Strömung schieben mag, keine Widerlegung zu. Der Gegen¬
stand unsrer Betrachtungen ist vielmehr lediglich die öffentliche Meinung selbst,
wie sie sich an diesem Ereigniß entwickelt hat.

Daß man in dem Streit der beiden hier in Frage kommenden Principien
sich entschieden für das staatliche und gegen das ständische erklärt hat, finden
wir ganz in der Ordnung; aber wir fürchten, daß man darin zu weit geht.
Man bedenke doch nur, daß es sich bei den Lobreden auf den Verstorbenen,
wie wir sie z. B. in der Nalionalzeitung antreffen, nur zum geringsten Theil
um eine Persönlichkeit, daß es sich hauptsächlich um ein System handelt, und
hier finden wir es nicht unbedenklich, daß man auf der liberalen Seite nicht
sorgfältiger den Anschein vermeidet, als wolle man das ganze System in Schutz
nehmen. Heute in der allgemeinen Aufregung geht das unbeachtet hin, aber
nach einiger Zeit wird die Kreuzzeitung, die, wo sie will, ein recht gutes Ge¬
dächtniß hat, wieder, daraus zurückkommen und die schon häufig gehörte Be¬
hauptung darauf begründen wollen, der Liberalismus gehe mit dem polizeilichen


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[0519] Erregung lange überdauert, so wird dadurch doch ein gemeinsames nationales Moment gewonnen, welches um so höher anzuschlagen ist, je sparsamer die ge¬ meinsamen Anstalten sind, deren wir uns erfreuen. Freilich wird dadurch, daß man das Arndtsche Vaterlandslied singt, die Einheit Deutschlands noch nicht hergestellt, und das Lied „Schleswig-Holstein meerumschlungen" wird die Dä¬ nen nicht aus ihren Nerschanzungen vertreiben; aber es wird doch dadurch das gemeinsame Gefühl, die gemeinsame Sehnsucht lebendig erhalten, und das Gefühl fällt in Perioden der Entscheidung doch schwerer ins Gewicht, als alt¬ kluge Menschen sich einbilden. Die neuesten Vorfälle in Berlin. Wenn wir über das beklagenswerthe Ereigniß, welches nicht blos Berlin, sondern ganz Deutschland in eine unerhörte Aufregung versetzt hat, einige Be¬ merkungen nicht unterdrücken können, so verzichten wir von vornherein darauf, in die thatsächlichen oder persönlichen Details einzugehen. Von den erstem wissen wir nichts weiter, als was in den Zeitungen steht: was die letztern betrifft, so zweifeln wir nicht daran, daß in der Persönlichkeit deS verstorbenen Gmeralpolizeidirectors viele liebenswürdige und achtunggebietende Seiten waren, und ebensowenig haben wir einen Grund bei seinem Gegner nicht dasselbe vorauszusetzen. Wenn für diesen das Zeugniß seiner Standesgenossen im Herrenhause spricht, so läßt die allgemeine Theilnahme der berliner Bevölke¬ rung bei dem Leichenbegängnis? des erstern, wieviel man auch auf Rechnung der augenblicklichen Strömung schieben mag, keine Widerlegung zu. Der Gegen¬ stand unsrer Betrachtungen ist vielmehr lediglich die öffentliche Meinung selbst, wie sie sich an diesem Ereigniß entwickelt hat. Daß man in dem Streit der beiden hier in Frage kommenden Principien sich entschieden für das staatliche und gegen das ständische erklärt hat, finden wir ganz in der Ordnung; aber wir fürchten, daß man darin zu weit geht. Man bedenke doch nur, daß es sich bei den Lobreden auf den Verstorbenen, wie wir sie z. B. in der Nalionalzeitung antreffen, nur zum geringsten Theil um eine Persönlichkeit, daß es sich hauptsächlich um ein System handelt, und hier finden wir es nicht unbedenklich, daß man auf der liberalen Seite nicht sorgfältiger den Anschein vermeidet, als wolle man das ganze System in Schutz nehmen. Heute in der allgemeinen Aufregung geht das unbeachtet hin, aber nach einiger Zeit wird die Kreuzzeitung, die, wo sie will, ein recht gutes Ge¬ dächtniß hat, wieder, daraus zurückkommen und die schon häufig gehörte Be¬ hauptung darauf begründen wollen, der Liberalismus gehe mit dem polizeilichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/519>, abgerufen am 23.07.2024.