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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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irgend einen der neuern Dichter mit Goethe oder Schiller oder auch mit Hein¬
rich von Kleist in Vergleich stellen zu wollen, wäre eine Thorheit. Aber die
Dichter zweiten und dritten Ranges halten den Vergleich sehr wohl aus. Die
tragischen Dichtungen von Collin, Kotzebue, Körner, Zacharias Werner, Müll¬
ner, Houwald u. s. w., die doch in jener Zeit neben Goethe und Schiller
einen großen Erfolg errangen, sind als Kunstwerke betrachtet um nichts besser,
als die Leistungen unsrer heutigen Theaterdichter; ja, Stücke, wie der Erb¬
förster, die Makkabäer, Maria Magdalena, Judith, selbst Uriel Acosta, nehmen
trotz aller Ausstellungen im Ganzen einen höhern Rang ein. Wenn man nun da¬
gegen anführt, daß bei einem Drama es doch wesentlich auch auf die Ausführung
ankommt und daß diese hinter den Leistungen jener Periode unendlich zurück¬
bleibt, so könnte man die Schuld lediglich auf die Theater schieben, deren
immer steigende Verwilderung niemand in, Abrede stellen wird. Aber diese
Erklärung wäre einseitig. Der Grund des Verfalls liegt doch mit am
Dichter.

Der Rohheit des naturalistischen Theaters setzten Schiller und Goethe
eine vollendete ideale Kunstform entgegen, die nicht aus der innern Natur des
deutschen Geistes hervorging, sondern aus ästhetischen Gesetzen, die sie aus
der Beobachtung großer ausländischer Dichter geschöpft hatten. Was bei ihnen
angestrengtes Streben war und daher beständig zur wirklichen Production anregte,
wurde bei ihren Nachfolgern Fertigkeit und Manier und es bildete sich von den
Bühnen aus eine neue ästhetisch-sittliche Convenienz, die zwar dem Bewußtsein
des Volks nicht ganz entsprach, die ihm aber doch allmälig geläufig wurde. So
entstand zwischen den Dichtern der alten Schule, den Schauspielern und dem
Theaterpublicum jene Wechselwirkung, die nothwendig ist, wenn die Kunst ge¬
deihen soll.

Die Eintracht hörte mit dem Ende der 80er Jahre auf. Die Halmschen
Dramen waren die letzten Schöpfungen der alten Schule und der fortwährend
abnehmende Anklang, den sie fanden, zeigte deutlich, daß es mit der idealisti¬
schen Schule vorbei sei. Die Kritik machte sich geltend und man gewann all¬
mälig die Ueberzeugung, daß, um wirkliche Theaterstücke zu schaffen, eine Um¬
kehr nothwendig sei. Es wurde von neuem der Realismus als das Princip
der Dichtkunst ausgestellt.

Allein mit dieser an sich ganz richtigen Erkenntniß war noch nicht viel
gewonnen, denn trotz der Anstrengung, mit der man nun die Wirklichkeit beob¬
achtete, um den Charakteren ein innerliches, der Natur entsprechendes Leben zu
verleihen, hatte man noch immer unbewußt die alte Theaterconvenienz im Sinn.
Die eine Vorstellung mischte sich in die andre und so entstand eine wahrhaft
babylonische Verwirrung aller sittlichen und ästhetischen Begriffe. Die alte
Schule hatte so wenig als möglich individualisirt, sie konnte daher von den


Grenzboten. I. 186t>. g7

irgend einen der neuern Dichter mit Goethe oder Schiller oder auch mit Hein¬
rich von Kleist in Vergleich stellen zu wollen, wäre eine Thorheit. Aber die
Dichter zweiten und dritten Ranges halten den Vergleich sehr wohl aus. Die
tragischen Dichtungen von Collin, Kotzebue, Körner, Zacharias Werner, Müll¬
ner, Houwald u. s. w., die doch in jener Zeit neben Goethe und Schiller
einen großen Erfolg errangen, sind als Kunstwerke betrachtet um nichts besser,
als die Leistungen unsrer heutigen Theaterdichter; ja, Stücke, wie der Erb¬
förster, die Makkabäer, Maria Magdalena, Judith, selbst Uriel Acosta, nehmen
trotz aller Ausstellungen im Ganzen einen höhern Rang ein. Wenn man nun da¬
gegen anführt, daß bei einem Drama es doch wesentlich auch auf die Ausführung
ankommt und daß diese hinter den Leistungen jener Periode unendlich zurück¬
bleibt, so könnte man die Schuld lediglich auf die Theater schieben, deren
immer steigende Verwilderung niemand in, Abrede stellen wird. Aber diese
Erklärung wäre einseitig. Der Grund des Verfalls liegt doch mit am
Dichter.

Der Rohheit des naturalistischen Theaters setzten Schiller und Goethe
eine vollendete ideale Kunstform entgegen, die nicht aus der innern Natur des
deutschen Geistes hervorging, sondern aus ästhetischen Gesetzen, die sie aus
der Beobachtung großer ausländischer Dichter geschöpft hatten. Was bei ihnen
angestrengtes Streben war und daher beständig zur wirklichen Production anregte,
wurde bei ihren Nachfolgern Fertigkeit und Manier und es bildete sich von den
Bühnen aus eine neue ästhetisch-sittliche Convenienz, die zwar dem Bewußtsein
des Volks nicht ganz entsprach, die ihm aber doch allmälig geläufig wurde. So
entstand zwischen den Dichtern der alten Schule, den Schauspielern und dem
Theaterpublicum jene Wechselwirkung, die nothwendig ist, wenn die Kunst ge¬
deihen soll.

Die Eintracht hörte mit dem Ende der 80er Jahre auf. Die Halmschen
Dramen waren die letzten Schöpfungen der alten Schule und der fortwährend
abnehmende Anklang, den sie fanden, zeigte deutlich, daß es mit der idealisti¬
schen Schule vorbei sei. Die Kritik machte sich geltend und man gewann all¬
mälig die Ueberzeugung, daß, um wirkliche Theaterstücke zu schaffen, eine Um¬
kehr nothwendig sei. Es wurde von neuem der Realismus als das Princip
der Dichtkunst ausgestellt.

Allein mit dieser an sich ganz richtigen Erkenntniß war noch nicht viel
gewonnen, denn trotz der Anstrengung, mit der man nun die Wirklichkeit beob¬
achtete, um den Charakteren ein innerliches, der Natur entsprechendes Leben zu
verleihen, hatte man noch immer unbewußt die alte Theaterconvenienz im Sinn.
Die eine Vorstellung mischte sich in die andre und so entstand eine wahrhaft
babylonische Verwirrung aller sittlichen und ästhetischen Begriffe. Die alte
Schule hatte so wenig als möglich individualisirt, sie konnte daher von den


Grenzboten. I. 186t>. g7
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[0457] irgend einen der neuern Dichter mit Goethe oder Schiller oder auch mit Hein¬ rich von Kleist in Vergleich stellen zu wollen, wäre eine Thorheit. Aber die Dichter zweiten und dritten Ranges halten den Vergleich sehr wohl aus. Die tragischen Dichtungen von Collin, Kotzebue, Körner, Zacharias Werner, Müll¬ ner, Houwald u. s. w., die doch in jener Zeit neben Goethe und Schiller einen großen Erfolg errangen, sind als Kunstwerke betrachtet um nichts besser, als die Leistungen unsrer heutigen Theaterdichter; ja, Stücke, wie der Erb¬ förster, die Makkabäer, Maria Magdalena, Judith, selbst Uriel Acosta, nehmen trotz aller Ausstellungen im Ganzen einen höhern Rang ein. Wenn man nun da¬ gegen anführt, daß bei einem Drama es doch wesentlich auch auf die Ausführung ankommt und daß diese hinter den Leistungen jener Periode unendlich zurück¬ bleibt, so könnte man die Schuld lediglich auf die Theater schieben, deren immer steigende Verwilderung niemand in, Abrede stellen wird. Aber diese Erklärung wäre einseitig. Der Grund des Verfalls liegt doch mit am Dichter. Der Rohheit des naturalistischen Theaters setzten Schiller und Goethe eine vollendete ideale Kunstform entgegen, die nicht aus der innern Natur des deutschen Geistes hervorging, sondern aus ästhetischen Gesetzen, die sie aus der Beobachtung großer ausländischer Dichter geschöpft hatten. Was bei ihnen angestrengtes Streben war und daher beständig zur wirklichen Production anregte, wurde bei ihren Nachfolgern Fertigkeit und Manier und es bildete sich von den Bühnen aus eine neue ästhetisch-sittliche Convenienz, die zwar dem Bewußtsein des Volks nicht ganz entsprach, die ihm aber doch allmälig geläufig wurde. So entstand zwischen den Dichtern der alten Schule, den Schauspielern und dem Theaterpublicum jene Wechselwirkung, die nothwendig ist, wenn die Kunst ge¬ deihen soll. Die Eintracht hörte mit dem Ende der 80er Jahre auf. Die Halmschen Dramen waren die letzten Schöpfungen der alten Schule und der fortwährend abnehmende Anklang, den sie fanden, zeigte deutlich, daß es mit der idealisti¬ schen Schule vorbei sei. Die Kritik machte sich geltend und man gewann all¬ mälig die Ueberzeugung, daß, um wirkliche Theaterstücke zu schaffen, eine Um¬ kehr nothwendig sei. Es wurde von neuem der Realismus als das Princip der Dichtkunst ausgestellt. Allein mit dieser an sich ganz richtigen Erkenntniß war noch nicht viel gewonnen, denn trotz der Anstrengung, mit der man nun die Wirklichkeit beob¬ achtete, um den Charakteren ein innerliches, der Natur entsprechendes Leben zu verleihen, hatte man noch immer unbewußt die alte Theaterconvenienz im Sinn. Die eine Vorstellung mischte sich in die andre und so entstand eine wahrhaft babylonische Verwirrung aller sittlichen und ästhetischen Begriffe. Die alte Schule hatte so wenig als möglich individualisirt, sie konnte daher von den Grenzboten. I. 186t>. g7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/457>, abgerufen am 23.07.2024.