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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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die Vorwürfe einseitiger Moralisten zu rechtfertigen, denn Thackeray ist nicht ein
Pessimist in der Weise Balzacs, der zuweilen mit einer wahrhaft infernalischen
Freude das Schlechte als den Kern der menschlichen Natur entwickelt; er glaubte
im Gegentheil, die menschliche Natur wieder zu Ehren zu bringen, wenn er das
Böse im Guten, daS Gute im Bösen aufzeigt, und die chemische Mischung aus
beiden als die Wirklichkeit darstellt. "Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe
den ersten Stein auf!" Das ist der durchgehende Gedanke seines Buchs. Seine
Fabel ist aber auch nicht eigentlich humoristisch, obgleich hin und wieder eine
glänzende humoristische Stelle vorkommt, denn der wahre Humor, der sich den
tollen Eingebungen der Laune mit Zuversicht überlassen darf, muß sich
auf ein starkes Rechtsgefühl stützen, um sich darauf verlassen zu können,
" daß er den Faden in diesem Labyrinth nicht verliert. Einen solchen
Humor hat im größten Stil Shakespeare, in kleinerem Maßstab W. Scott,
Jean Paul, Dickens. Alle diese Männer ziehen eine sehr strenge Scheide¬
linie zwischen Gut und Böse, und um diesen festen Grundstamm des
Glaubens schlingt sich dann das üppige Rankengewächs ihrer Phantasie in
reichster Fülle. Der Skepticismus dagegen muß seine Gefühle fortwährend
bekämpfen; er muß vorsichtig gegen die Eingebungen seines Herzens sein, sie
dämpfen und zurückhalten, um nicht in die Lage versetzt zu werden, sie zurück¬
nehmen zu müssen. Ein freier übermüthiger Humor kann aus dieser Stimmung
niemals hervorgehen.

Vanity-Fair gewann außerordentlich durch den historischen Hintergrund.
In der Einförmigkeit des kleinbürgerlichen Lebens wird man durch die
mikroskopische Beobachtung leicht ermüdet; aber die Episode der Schlacht
bei Waterloo brachte in das graue Gemälde einen höchst wohlthuenden Con¬
trast, durch den die Aufmerksamkeit wieder aufgerüttelt wurde. -- Dieser Vor¬
zug fehlt dem zweiten Roman: Pendennis, der übrigens nicht minder zierlich
und fein ausgearbeitet war, als das frühere Werk, bei dem man aber doch
herausfühlte, daß der anscheinende Reichthum des Dichters eine bestimmte
Grenze habe; denn .die Hauptfiguren des neuen Romans glichen denen deS al¬
ten bis zum Verwechseln, obgleich der Dichter sichtlich bemüht gewesen war,
durch scharf hervorgehobene Nuancen den Unterschied deutlich zu machen. Wer
Pendennis nach Vanity-Fair las, sand in der Regel eine Abschwächung deS
Talents. Wir haben aber die Beobachtung gemacht, daß bei einer umgekehr¬
ten Reihenfolge ein entgegengesetztes Urtheil erfolgte, und finden es ganz be¬
greiflich, denn das Virtuosenthum imponirt nur zum ersten Mal; sobald man
den Kunstgriff weghat, wird man kritisch gestimmt und sieht dem Künstler schär¬
fer auf die Finger, als zum ersten Mal. -- Henry Esmond tritt durch seine
vorwiegend historische Localfarbe aus dieser Reihe heraus. Dagegen ist der
neue Roman wieder ganz im Stil von Vanity-Fair, wieder eine unendliche


die Vorwürfe einseitiger Moralisten zu rechtfertigen, denn Thackeray ist nicht ein
Pessimist in der Weise Balzacs, der zuweilen mit einer wahrhaft infernalischen
Freude das Schlechte als den Kern der menschlichen Natur entwickelt; er glaubte
im Gegentheil, die menschliche Natur wieder zu Ehren zu bringen, wenn er das
Böse im Guten, daS Gute im Bösen aufzeigt, und die chemische Mischung aus
beiden als die Wirklichkeit darstellt. „Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe
den ersten Stein auf!" Das ist der durchgehende Gedanke seines Buchs. Seine
Fabel ist aber auch nicht eigentlich humoristisch, obgleich hin und wieder eine
glänzende humoristische Stelle vorkommt, denn der wahre Humor, der sich den
tollen Eingebungen der Laune mit Zuversicht überlassen darf, muß sich
auf ein starkes Rechtsgefühl stützen, um sich darauf verlassen zu können,
" daß er den Faden in diesem Labyrinth nicht verliert. Einen solchen
Humor hat im größten Stil Shakespeare, in kleinerem Maßstab W. Scott,
Jean Paul, Dickens. Alle diese Männer ziehen eine sehr strenge Scheide¬
linie zwischen Gut und Böse, und um diesen festen Grundstamm des
Glaubens schlingt sich dann das üppige Rankengewächs ihrer Phantasie in
reichster Fülle. Der Skepticismus dagegen muß seine Gefühle fortwährend
bekämpfen; er muß vorsichtig gegen die Eingebungen seines Herzens sein, sie
dämpfen und zurückhalten, um nicht in die Lage versetzt zu werden, sie zurück¬
nehmen zu müssen. Ein freier übermüthiger Humor kann aus dieser Stimmung
niemals hervorgehen.

Vanity-Fair gewann außerordentlich durch den historischen Hintergrund.
In der Einförmigkeit des kleinbürgerlichen Lebens wird man durch die
mikroskopische Beobachtung leicht ermüdet; aber die Episode der Schlacht
bei Waterloo brachte in das graue Gemälde einen höchst wohlthuenden Con¬
trast, durch den die Aufmerksamkeit wieder aufgerüttelt wurde. — Dieser Vor¬
zug fehlt dem zweiten Roman: Pendennis, der übrigens nicht minder zierlich
und fein ausgearbeitet war, als das frühere Werk, bei dem man aber doch
herausfühlte, daß der anscheinende Reichthum des Dichters eine bestimmte
Grenze habe; denn .die Hauptfiguren des neuen Romans glichen denen deS al¬
ten bis zum Verwechseln, obgleich der Dichter sichtlich bemüht gewesen war,
durch scharf hervorgehobene Nuancen den Unterschied deutlich zu machen. Wer
Pendennis nach Vanity-Fair las, sand in der Regel eine Abschwächung deS
Talents. Wir haben aber die Beobachtung gemacht, daß bei einer umgekehr¬
ten Reihenfolge ein entgegengesetztes Urtheil erfolgte, und finden es ganz be¬
greiflich, denn das Virtuosenthum imponirt nur zum ersten Mal; sobald man
den Kunstgriff weghat, wird man kritisch gestimmt und sieht dem Künstler schär¬
fer auf die Finger, als zum ersten Mal. — Henry Esmond tritt durch seine
vorwiegend historische Localfarbe aus dieser Reihe heraus. Dagegen ist der
neue Roman wieder ganz im Stil von Vanity-Fair, wieder eine unendliche


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[0415] die Vorwürfe einseitiger Moralisten zu rechtfertigen, denn Thackeray ist nicht ein Pessimist in der Weise Balzacs, der zuweilen mit einer wahrhaft infernalischen Freude das Schlechte als den Kern der menschlichen Natur entwickelt; er glaubte im Gegentheil, die menschliche Natur wieder zu Ehren zu bringen, wenn er das Böse im Guten, daS Gute im Bösen aufzeigt, und die chemische Mischung aus beiden als die Wirklichkeit darstellt. „Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf!" Das ist der durchgehende Gedanke seines Buchs. Seine Fabel ist aber auch nicht eigentlich humoristisch, obgleich hin und wieder eine glänzende humoristische Stelle vorkommt, denn der wahre Humor, der sich den tollen Eingebungen der Laune mit Zuversicht überlassen darf, muß sich auf ein starkes Rechtsgefühl stützen, um sich darauf verlassen zu können, " daß er den Faden in diesem Labyrinth nicht verliert. Einen solchen Humor hat im größten Stil Shakespeare, in kleinerem Maßstab W. Scott, Jean Paul, Dickens. Alle diese Männer ziehen eine sehr strenge Scheide¬ linie zwischen Gut und Böse, und um diesen festen Grundstamm des Glaubens schlingt sich dann das üppige Rankengewächs ihrer Phantasie in reichster Fülle. Der Skepticismus dagegen muß seine Gefühle fortwährend bekämpfen; er muß vorsichtig gegen die Eingebungen seines Herzens sein, sie dämpfen und zurückhalten, um nicht in die Lage versetzt zu werden, sie zurück¬ nehmen zu müssen. Ein freier übermüthiger Humor kann aus dieser Stimmung niemals hervorgehen. Vanity-Fair gewann außerordentlich durch den historischen Hintergrund. In der Einförmigkeit des kleinbürgerlichen Lebens wird man durch die mikroskopische Beobachtung leicht ermüdet; aber die Episode der Schlacht bei Waterloo brachte in das graue Gemälde einen höchst wohlthuenden Con¬ trast, durch den die Aufmerksamkeit wieder aufgerüttelt wurde. — Dieser Vor¬ zug fehlt dem zweiten Roman: Pendennis, der übrigens nicht minder zierlich und fein ausgearbeitet war, als das frühere Werk, bei dem man aber doch herausfühlte, daß der anscheinende Reichthum des Dichters eine bestimmte Grenze habe; denn .die Hauptfiguren des neuen Romans glichen denen deS al¬ ten bis zum Verwechseln, obgleich der Dichter sichtlich bemüht gewesen war, durch scharf hervorgehobene Nuancen den Unterschied deutlich zu machen. Wer Pendennis nach Vanity-Fair las, sand in der Regel eine Abschwächung deS Talents. Wir haben aber die Beobachtung gemacht, daß bei einer umgekehr¬ ten Reihenfolge ein entgegengesetztes Urtheil erfolgte, und finden es ganz be¬ greiflich, denn das Virtuosenthum imponirt nur zum ersten Mal; sobald man den Kunstgriff weghat, wird man kritisch gestimmt und sieht dem Künstler schär¬ fer auf die Finger, als zum ersten Mal. — Henry Esmond tritt durch seine vorwiegend historische Localfarbe aus dieser Reihe heraus. Dagegen ist der neue Roman wieder ganz im Stil von Vanity-Fair, wieder eine unendliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/415>, abgerufen am 23.07.2024.