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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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zu. So wild und phantastisch zuweilen seine Stoffe sind, der Erzähler versenkt
sich nie so tief in dieselben, daß er sein eignes sittliches Bewußtsein darüber
verliert; er weiß uns stets den Abstand zwischen den Vorstellungen der dar¬
gestellten und der gegenwärtigen Zeit im Gedächtniß zu halten; er führt uns
in eine reiche, von Meisterhand entworfene Bildergalerie, aber er verschweigt
es niemals, daß es Bilder sind, er sucht uns nicht einzureden, daß wir uns
selbst mitten unter den dargestellten Gegenständen befinden, er läßt den Rah¬
men vielmehr sehr deutlich hervortreten. So ist sein Zweck auch niemals, das
Zeitalter, mit dem er sich beschäftigt, in seiner ganzen Fülle und Lebendigkeit
wieder herzustellen; er wählt nur dasjenige aus, was seinen novellistischen
Zwecken dient. Freilich ist dann seine Hand so geübt und sein Auge so sicher,
daß diese wenigen Einzelnheiten uns zuweilen ein viel anschaulicheres Bild
geben, als das Werk eines Geschichtschreibers. So möchten wir namentlich
aus Old Mortality, Quentin Durward, Woodstock und ähnliche Romane auf¬
merksam machen: um Figuren wie Burlep, Ludwig XI., Cromwell u. f. w.
könnte ihn wol jeder Historiker beneiden. -- In neuerer Zeit dagegen tritt
das novellistische Interesse zurück und die Gesammtschilderung des Zeitalters
wird die Hauptsache. Am lebhaftesten können wir den Contrast ermessen, wenn
wir das vorliegende Buch mit Kenilworth in Parallele stellen. Der letztere
Roman gehört, als Kunstwerk betrachtet, zu den vorzüglichsten Leistungen
W. Scotts; der historische Inhalt dagegen ist gering. Wir sehen zwar Elisa¬
beth mit ihrem Hof und was sich aus den untern Volksschichten unmittelbar
daran knüpft, von den herrschenden Ideen und Strömungen der Zeit erfahren
wir wenig. Selbst die Königin, so fein ihr Charakter entwickelt ist, wird doch
mehr novellistisch als historisch aufgefaßt.

Kingsley führt uns in die nämliche Zeit, aber ihre Farbe hat sich so ver¬
ändert, daß wir sie kaum wiedererkennen. Wir werden in eine Periode ein¬
geführt, die uns im Geschichtswerk gar nicht so fremdartig erscheint, in der
wir hier aber merken, daß man damals ganz anders empfand, dachte, wünschte
und strebte, als in unsern Tagen. Die Fremdartigkeit dieser ganzen Zeit ist
der erste lebhafte Eindruck, den das Buch auf uns macht. Der Dichter hat
sie nicht willkürlich erfunden; sein Gemälde beruht auf sehr gewissenhaften
Studien; und doch ist sein Bild ein subjectives, denn was er suchte, war schon
vorher in seiner Seele gegenwärtig. Um das zu verstehen, werfen wir noch
einen kurzen Blick auf seine frühere Entwicklung.

Kingsley, ein unbekannter Landpfarrer, erregte zuerst durch seinen
Roman Akkon Locke, dem ein Jahr darauf Ueast folgte, die Aufmerksamkeit
des lesenden Publicums. Beide Romane beschäftigen sich mit den innern
Zeitwirren, sie schildern das Streben der Menschen nach einem unnennbaren
Glück, für das sie keinen Ausdruck finden, und wozu der Weg ihnen verschlossen


zu. So wild und phantastisch zuweilen seine Stoffe sind, der Erzähler versenkt
sich nie so tief in dieselben, daß er sein eignes sittliches Bewußtsein darüber
verliert; er weiß uns stets den Abstand zwischen den Vorstellungen der dar¬
gestellten und der gegenwärtigen Zeit im Gedächtniß zu halten; er führt uns
in eine reiche, von Meisterhand entworfene Bildergalerie, aber er verschweigt
es niemals, daß es Bilder sind, er sucht uns nicht einzureden, daß wir uns
selbst mitten unter den dargestellten Gegenständen befinden, er läßt den Rah¬
men vielmehr sehr deutlich hervortreten. So ist sein Zweck auch niemals, das
Zeitalter, mit dem er sich beschäftigt, in seiner ganzen Fülle und Lebendigkeit
wieder herzustellen; er wählt nur dasjenige aus, was seinen novellistischen
Zwecken dient. Freilich ist dann seine Hand so geübt und sein Auge so sicher,
daß diese wenigen Einzelnheiten uns zuweilen ein viel anschaulicheres Bild
geben, als das Werk eines Geschichtschreibers. So möchten wir namentlich
aus Old Mortality, Quentin Durward, Woodstock und ähnliche Romane auf¬
merksam machen: um Figuren wie Burlep, Ludwig XI., Cromwell u. f. w.
könnte ihn wol jeder Historiker beneiden. — In neuerer Zeit dagegen tritt
das novellistische Interesse zurück und die Gesammtschilderung des Zeitalters
wird die Hauptsache. Am lebhaftesten können wir den Contrast ermessen, wenn
wir das vorliegende Buch mit Kenilworth in Parallele stellen. Der letztere
Roman gehört, als Kunstwerk betrachtet, zu den vorzüglichsten Leistungen
W. Scotts; der historische Inhalt dagegen ist gering. Wir sehen zwar Elisa¬
beth mit ihrem Hof und was sich aus den untern Volksschichten unmittelbar
daran knüpft, von den herrschenden Ideen und Strömungen der Zeit erfahren
wir wenig. Selbst die Königin, so fein ihr Charakter entwickelt ist, wird doch
mehr novellistisch als historisch aufgefaßt.

Kingsley führt uns in die nämliche Zeit, aber ihre Farbe hat sich so ver¬
ändert, daß wir sie kaum wiedererkennen. Wir werden in eine Periode ein¬
geführt, die uns im Geschichtswerk gar nicht so fremdartig erscheint, in der
wir hier aber merken, daß man damals ganz anders empfand, dachte, wünschte
und strebte, als in unsern Tagen. Die Fremdartigkeit dieser ganzen Zeit ist
der erste lebhafte Eindruck, den das Buch auf uns macht. Der Dichter hat
sie nicht willkürlich erfunden; sein Gemälde beruht auf sehr gewissenhaften
Studien; und doch ist sein Bild ein subjectives, denn was er suchte, war schon
vorher in seiner Seele gegenwärtig. Um das zu verstehen, werfen wir noch
einen kurzen Blick auf seine frühere Entwicklung.

Kingsley, ein unbekannter Landpfarrer, erregte zuerst durch seinen
Roman Akkon Locke, dem ein Jahr darauf Ueast folgte, die Aufmerksamkeit
des lesenden Publicums. Beide Romane beschäftigen sich mit den innern
Zeitwirren, sie schildern das Streben der Menschen nach einem unnennbaren
Glück, für das sie keinen Ausdruck finden, und wozu der Weg ihnen verschlossen


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[0410] zu. So wild und phantastisch zuweilen seine Stoffe sind, der Erzähler versenkt sich nie so tief in dieselben, daß er sein eignes sittliches Bewußtsein darüber verliert; er weiß uns stets den Abstand zwischen den Vorstellungen der dar¬ gestellten und der gegenwärtigen Zeit im Gedächtniß zu halten; er führt uns in eine reiche, von Meisterhand entworfene Bildergalerie, aber er verschweigt es niemals, daß es Bilder sind, er sucht uns nicht einzureden, daß wir uns selbst mitten unter den dargestellten Gegenständen befinden, er läßt den Rah¬ men vielmehr sehr deutlich hervortreten. So ist sein Zweck auch niemals, das Zeitalter, mit dem er sich beschäftigt, in seiner ganzen Fülle und Lebendigkeit wieder herzustellen; er wählt nur dasjenige aus, was seinen novellistischen Zwecken dient. Freilich ist dann seine Hand so geübt und sein Auge so sicher, daß diese wenigen Einzelnheiten uns zuweilen ein viel anschaulicheres Bild geben, als das Werk eines Geschichtschreibers. So möchten wir namentlich aus Old Mortality, Quentin Durward, Woodstock und ähnliche Romane auf¬ merksam machen: um Figuren wie Burlep, Ludwig XI., Cromwell u. f. w. könnte ihn wol jeder Historiker beneiden. — In neuerer Zeit dagegen tritt das novellistische Interesse zurück und die Gesammtschilderung des Zeitalters wird die Hauptsache. Am lebhaftesten können wir den Contrast ermessen, wenn wir das vorliegende Buch mit Kenilworth in Parallele stellen. Der letztere Roman gehört, als Kunstwerk betrachtet, zu den vorzüglichsten Leistungen W. Scotts; der historische Inhalt dagegen ist gering. Wir sehen zwar Elisa¬ beth mit ihrem Hof und was sich aus den untern Volksschichten unmittelbar daran knüpft, von den herrschenden Ideen und Strömungen der Zeit erfahren wir wenig. Selbst die Königin, so fein ihr Charakter entwickelt ist, wird doch mehr novellistisch als historisch aufgefaßt. Kingsley führt uns in die nämliche Zeit, aber ihre Farbe hat sich so ver¬ ändert, daß wir sie kaum wiedererkennen. Wir werden in eine Periode ein¬ geführt, die uns im Geschichtswerk gar nicht so fremdartig erscheint, in der wir hier aber merken, daß man damals ganz anders empfand, dachte, wünschte und strebte, als in unsern Tagen. Die Fremdartigkeit dieser ganzen Zeit ist der erste lebhafte Eindruck, den das Buch auf uns macht. Der Dichter hat sie nicht willkürlich erfunden; sein Gemälde beruht auf sehr gewissenhaften Studien; und doch ist sein Bild ein subjectives, denn was er suchte, war schon vorher in seiner Seele gegenwärtig. Um das zu verstehen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf seine frühere Entwicklung. Kingsley, ein unbekannter Landpfarrer, erregte zuerst durch seinen Roman Akkon Locke, dem ein Jahr darauf Ueast folgte, die Aufmerksamkeit des lesenden Publicums. Beide Romane beschäftigen sich mit den innern Zeitwirren, sie schildern das Streben der Menschen nach einem unnennbaren Glück, für das sie keinen Ausdruck finden, und wozu der Weg ihnen verschlossen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/410>, abgerufen am 25.08.2024.