Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Rede, die hier gehalten wurde, sagte mir ein gut unterrichteter Freund, hätte
ihrem.Inhalte, manche selbst ihrer Form nach recht wohl von einem Wollsacke
in Westminster gehalten werden können. Die Armenpflege ist durch die Ge¬
meinden selbst aufs verständigste geordnet, und wo sie sich einigermaßen selbst
regieren, offenbaren sie ein ungewöhnliches Talent zur Verwaltung. Die
Schulen waren bis auf das wahnsinnige Sprachedict sehr gut eingerichtet und
ebenso gut besucht. Jetzt ist das Gegentheil der Fall. Die Kirche versäumte
früher niemand, den nicht die unabweisbare Nothwendigkeit daheim bleiben
hieß. Jetzt sährt man statt zum Gottesdienste spazieren oder setzt sich in die
Schenke, um mit Gleichgesinnten über die gute alte Zeit zu Philosophiren und
Schandgeschichren von den Geistlichen auszutauschen, die inzwischen leeren
Bänken predigen. Frömmere lesen ihr Gesangbuch, ihre Bibel oder Postille.
Wieder andere studiren agronomische oder historische Bücher, von denen ich
bei den Wohlhabenden wohlausgewählte kleine Bibliotheken antraf. Sehr
fleißig werden von den letztern auch die Zeitungen gelesen, und ich fand eine
Kenntniß der politischen Verhältnisse, die mich unter Bauern des mittlern
Deutschlands in Erstaunen versetzt haben würde, hier aber sich sehr wohl be¬
greifen ließ.

Ein besonders hervorstechender Charakterzug des Angler ist seine über¬
große Vorsicht, die bei Gesprächen leicht in ein mißtrauisches Aufhorchen
ausartet. Man hat diese argwöhnische Manier mit der Natur des Lan¬
des in Verbindung gebracht, dessen hohe Hecken allenthalben Hinterhalte
gestatten und so den zwischen ihnen Gehenden auffordern, auf der Hut zu sein,
und man hat auf die dänischen Spione hingewiesen, welche die Patrioten aller-
dings veranlassen können, auf ihrer Hut zu sei". Das mißtrauische Wesen liegt
aber tiefer begründet und wird auf die Zeiten zurückzuführen sein, wo der
Ausdruck: "He is 'nen sühnschen Keerl" entstand. Ein fühnenscher Kerl ist in
Angeln die Bezeichnung für einen arglistigen, schmeichlerisch heimtückischen Ge¬
sellen. Daß man grade einen Jnseldänen so auffaßte, zeigt, daß die Angeln
über die Eigenheiten dieses Volkes zu allen Zeiten ihre Ansicht hatten. Die
Leibeigenschaft mag dann den auf diese Weise entstandenen Hang gesteigert
haben und die jetzige Zeit ist nicht dazu angethan, die Leute von ihrer Ge¬
wohnheit abzubringen. Diese ist übrigens mehr von komischer, als ver¬
letzender Wirkung. Es ist ohne Zweifel angenehmer, mit offnen Seelen zu thun
haben, als mit solchen, die erst ihr Terrain sondiren, ehe sie mit der Sprache
herausgehen. Aber scherzhaft bleibt es, den Angler, der bei seinem Pfarrer
ein Testament bestellen oder mit seinem Gutsherrn einen Vertrag abschließen
will, erst von aller andrer Dinge Großmutter reden zu hören, bis er, schon
nach der Thürklinke fassend, mit verschmitzter Miene umkehrt und mit einem
"Ach, wat et se noch Seggen wollt" sein eigentliches Anliegen vorbringt.


Rede, die hier gehalten wurde, sagte mir ein gut unterrichteter Freund, hätte
ihrem.Inhalte, manche selbst ihrer Form nach recht wohl von einem Wollsacke
in Westminster gehalten werden können. Die Armenpflege ist durch die Ge¬
meinden selbst aufs verständigste geordnet, und wo sie sich einigermaßen selbst
regieren, offenbaren sie ein ungewöhnliches Talent zur Verwaltung. Die
Schulen waren bis auf das wahnsinnige Sprachedict sehr gut eingerichtet und
ebenso gut besucht. Jetzt ist das Gegentheil der Fall. Die Kirche versäumte
früher niemand, den nicht die unabweisbare Nothwendigkeit daheim bleiben
hieß. Jetzt sährt man statt zum Gottesdienste spazieren oder setzt sich in die
Schenke, um mit Gleichgesinnten über die gute alte Zeit zu Philosophiren und
Schandgeschichren von den Geistlichen auszutauschen, die inzwischen leeren
Bänken predigen. Frömmere lesen ihr Gesangbuch, ihre Bibel oder Postille.
Wieder andere studiren agronomische oder historische Bücher, von denen ich
bei den Wohlhabenden wohlausgewählte kleine Bibliotheken antraf. Sehr
fleißig werden von den letztern auch die Zeitungen gelesen, und ich fand eine
Kenntniß der politischen Verhältnisse, die mich unter Bauern des mittlern
Deutschlands in Erstaunen versetzt haben würde, hier aber sich sehr wohl be¬
greifen ließ.

Ein besonders hervorstechender Charakterzug des Angler ist seine über¬
große Vorsicht, die bei Gesprächen leicht in ein mißtrauisches Aufhorchen
ausartet. Man hat diese argwöhnische Manier mit der Natur des Lan¬
des in Verbindung gebracht, dessen hohe Hecken allenthalben Hinterhalte
gestatten und so den zwischen ihnen Gehenden auffordern, auf der Hut zu sein,
und man hat auf die dänischen Spione hingewiesen, welche die Patrioten aller-
dings veranlassen können, auf ihrer Hut zu sei». Das mißtrauische Wesen liegt
aber tiefer begründet und wird auf die Zeiten zurückzuführen sein, wo der
Ausdruck: „He is 'nen sühnschen Keerl" entstand. Ein fühnenscher Kerl ist in
Angeln die Bezeichnung für einen arglistigen, schmeichlerisch heimtückischen Ge¬
sellen. Daß man grade einen Jnseldänen so auffaßte, zeigt, daß die Angeln
über die Eigenheiten dieses Volkes zu allen Zeiten ihre Ansicht hatten. Die
Leibeigenschaft mag dann den auf diese Weise entstandenen Hang gesteigert
haben und die jetzige Zeit ist nicht dazu angethan, die Leute von ihrer Ge¬
wohnheit abzubringen. Diese ist übrigens mehr von komischer, als ver¬
letzender Wirkung. Es ist ohne Zweifel angenehmer, mit offnen Seelen zu thun
haben, als mit solchen, die erst ihr Terrain sondiren, ehe sie mit der Sprache
herausgehen. Aber scherzhaft bleibt es, den Angler, der bei seinem Pfarrer
ein Testament bestellen oder mit seinem Gutsherrn einen Vertrag abschließen
will, erst von aller andrer Dinge Großmutter reden zu hören, bis er, schon
nach der Thürklinke fassend, mit verschmitzter Miene umkehrt und mit einem
„Ach, wat et se noch Seggen wollt" sein eigentliches Anliegen vorbringt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101032"/>
            <p xml:id="ID_103" prev="#ID_102"> Rede, die hier gehalten wurde, sagte mir ein gut unterrichteter Freund, hätte<lb/>
ihrem.Inhalte, manche selbst ihrer Form nach recht wohl von einem Wollsacke<lb/>
in Westminster gehalten werden können. Die Armenpflege ist durch die Ge¬<lb/>
meinden selbst aufs verständigste geordnet, und wo sie sich einigermaßen selbst<lb/>
regieren, offenbaren sie ein ungewöhnliches Talent zur Verwaltung. Die<lb/>
Schulen waren bis auf das wahnsinnige Sprachedict sehr gut eingerichtet und<lb/>
ebenso gut besucht. Jetzt ist das Gegentheil der Fall. Die Kirche versäumte<lb/>
früher niemand, den nicht die unabweisbare Nothwendigkeit daheim bleiben<lb/>
hieß. Jetzt sährt man statt zum Gottesdienste spazieren oder setzt sich in die<lb/>
Schenke, um mit Gleichgesinnten über die gute alte Zeit zu Philosophiren und<lb/>
Schandgeschichren von den Geistlichen auszutauschen, die inzwischen leeren<lb/>
Bänken predigen. Frömmere lesen ihr Gesangbuch, ihre Bibel oder Postille.<lb/>
Wieder andere studiren agronomische oder historische Bücher, von denen ich<lb/>
bei den Wohlhabenden wohlausgewählte kleine Bibliotheken antraf. Sehr<lb/>
fleißig werden von den letztern auch die Zeitungen gelesen, und ich fand eine<lb/>
Kenntniß der politischen Verhältnisse, die mich unter Bauern des mittlern<lb/>
Deutschlands in Erstaunen versetzt haben würde, hier aber sich sehr wohl be¬<lb/>
greifen ließ.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_104"> Ein besonders hervorstechender Charakterzug des Angler ist seine über¬<lb/>
große Vorsicht, die bei Gesprächen leicht in ein mißtrauisches Aufhorchen<lb/>
ausartet. Man hat diese argwöhnische Manier mit der Natur des Lan¬<lb/>
des in Verbindung gebracht, dessen hohe Hecken allenthalben Hinterhalte<lb/>
gestatten und so den zwischen ihnen Gehenden auffordern, auf der Hut zu sein,<lb/>
und man hat auf die dänischen Spione hingewiesen, welche die Patrioten aller-<lb/>
dings veranlassen können, auf ihrer Hut zu sei». Das mißtrauische Wesen liegt<lb/>
aber tiefer begründet und wird auf die Zeiten zurückzuführen sein, wo der<lb/>
Ausdruck: &#x201E;He is 'nen sühnschen Keerl" entstand. Ein fühnenscher Kerl ist in<lb/>
Angeln die Bezeichnung für einen arglistigen, schmeichlerisch heimtückischen Ge¬<lb/>
sellen. Daß man grade einen Jnseldänen so auffaßte, zeigt, daß die Angeln<lb/>
über die Eigenheiten dieses Volkes zu allen Zeiten ihre Ansicht hatten. Die<lb/>
Leibeigenschaft mag dann den auf diese Weise entstandenen Hang gesteigert<lb/>
haben und die jetzige Zeit ist nicht dazu angethan, die Leute von ihrer Ge¬<lb/>
wohnheit abzubringen. Diese ist übrigens mehr von komischer, als ver¬<lb/>
letzender Wirkung. Es ist ohne Zweifel angenehmer, mit offnen Seelen zu thun<lb/>
haben, als mit solchen, die erst ihr Terrain sondiren, ehe sie mit der Sprache<lb/>
herausgehen. Aber scherzhaft bleibt es, den Angler, der bei seinem Pfarrer<lb/>
ein Testament bestellen oder mit seinem Gutsherrn einen Vertrag abschließen<lb/>
will, erst von aller andrer Dinge Großmutter reden zu hören, bis er, schon<lb/>
nach der Thürklinke fassend, mit verschmitzter Miene umkehrt und mit einem<lb/>
&#x201E;Ach, wat et se noch Seggen wollt" sein eigentliches Anliegen vorbringt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] Rede, die hier gehalten wurde, sagte mir ein gut unterrichteter Freund, hätte ihrem.Inhalte, manche selbst ihrer Form nach recht wohl von einem Wollsacke in Westminster gehalten werden können. Die Armenpflege ist durch die Ge¬ meinden selbst aufs verständigste geordnet, und wo sie sich einigermaßen selbst regieren, offenbaren sie ein ungewöhnliches Talent zur Verwaltung. Die Schulen waren bis auf das wahnsinnige Sprachedict sehr gut eingerichtet und ebenso gut besucht. Jetzt ist das Gegentheil der Fall. Die Kirche versäumte früher niemand, den nicht die unabweisbare Nothwendigkeit daheim bleiben hieß. Jetzt sährt man statt zum Gottesdienste spazieren oder setzt sich in die Schenke, um mit Gleichgesinnten über die gute alte Zeit zu Philosophiren und Schandgeschichren von den Geistlichen auszutauschen, die inzwischen leeren Bänken predigen. Frömmere lesen ihr Gesangbuch, ihre Bibel oder Postille. Wieder andere studiren agronomische oder historische Bücher, von denen ich bei den Wohlhabenden wohlausgewählte kleine Bibliotheken antraf. Sehr fleißig werden von den letztern auch die Zeitungen gelesen, und ich fand eine Kenntniß der politischen Verhältnisse, die mich unter Bauern des mittlern Deutschlands in Erstaunen versetzt haben würde, hier aber sich sehr wohl be¬ greifen ließ. Ein besonders hervorstechender Charakterzug des Angler ist seine über¬ große Vorsicht, die bei Gesprächen leicht in ein mißtrauisches Aufhorchen ausartet. Man hat diese argwöhnische Manier mit der Natur des Lan¬ des in Verbindung gebracht, dessen hohe Hecken allenthalben Hinterhalte gestatten und so den zwischen ihnen Gehenden auffordern, auf der Hut zu sein, und man hat auf die dänischen Spione hingewiesen, welche die Patrioten aller- dings veranlassen können, auf ihrer Hut zu sei». Das mißtrauische Wesen liegt aber tiefer begründet und wird auf die Zeiten zurückzuführen sein, wo der Ausdruck: „He is 'nen sühnschen Keerl" entstand. Ein fühnenscher Kerl ist in Angeln die Bezeichnung für einen arglistigen, schmeichlerisch heimtückischen Ge¬ sellen. Daß man grade einen Jnseldänen so auffaßte, zeigt, daß die Angeln über die Eigenheiten dieses Volkes zu allen Zeiten ihre Ansicht hatten. Die Leibeigenschaft mag dann den auf diese Weise entstandenen Hang gesteigert haben und die jetzige Zeit ist nicht dazu angethan, die Leute von ihrer Ge¬ wohnheit abzubringen. Diese ist übrigens mehr von komischer, als ver¬ letzender Wirkung. Es ist ohne Zweifel angenehmer, mit offnen Seelen zu thun haben, als mit solchen, die erst ihr Terrain sondiren, ehe sie mit der Sprache herausgehen. Aber scherzhaft bleibt es, den Angler, der bei seinem Pfarrer ein Testament bestellen oder mit seinem Gutsherrn einen Vertrag abschließen will, erst von aller andrer Dinge Großmutter reden zu hören, bis er, schon nach der Thürklinke fassend, mit verschmitzter Miene umkehrt und mit einem „Ach, wat et se noch Seggen wollt" sein eigentliches Anliegen vorbringt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/39>, abgerufen am 25.08.2024.