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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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vorführt, ohne Unterschied den Makel der Unentschlossenheit oder gar der
innern Verderben'ß. Die politische Umgestaltung des Reichs erfolgt nicht durch
einen großen, die Einbildungskraft ergreifenden Act, sondern durch eine Reihe
kleiner Intriguen, deren innere Nothwendigkeit man wol im Allgemeinen sich
nachweisen mag, die aber einzeln betrachtet in einem losen, anscheinend will¬
kürlichen Zusammenhang zueinander stehen.

Die Kunst deö Geschichtschreibers hat sehr viel zu diesem Erfolge beigetra¬
gen. Er hatte seinen Stoff novellistisch , oder, wenn man will, dramatisch ab¬
gerundet, trotz der strengen chronologischen Folge griff immer ein Glied bedeu¬
tend in das andere ein, wir konnten die Charaktere, in allmäliger Entwicklung
verfolgen, wir begriffen in jedem Augenblick die Lage der Dinge und unsre
Seele war zu einer bestimmten, das Weitere anticipirender Erwartung gestimmt.
Die Porträts traten in frischen, lebendigen Farben aus der Leinwand heraus;
die Scenen und Zustände wurden uns deutlich wie in einem Roman, der Fluß
der Rede war^ melodisch, die Empfindungen voller Kraft und aus dem Innern
der Seele hervorströmend. Das alles mußte Bewunderung und Theilnahme
hervorrufen, wie man an einem Kunstwerk Theil nimmt, ganz abgesehen von
seinem Inhalt.

Aber es lag noch ein andrer Grund vor. Die Zeit, in welcher die ersten
Bände von Macaulay erschienen, war eine kranke. Sie hatte mit kühnen Er¬
wartungen begonnen und sie mußte eine Illusion nach der andern aufgeben.
Sie hatte gehofft, daß" ihr die Freiheit wie durch eine Gabe der Götter werde
geschenkt werden und nun sah sie sich plötzlich alle Früchte entrissen, sie fand
sich ärmer, als zuvor, denn sie hatte den Glauben an sich selbst verloren. Der
große Moment hatte ein kleines Geschlecht gefunden.

Einer solchen Zeit mußte Macaulays Geschichte ein Buch deS Trostes
sein; man lernte aus ihr, daß die Freiheit sich nicht schenkt, daß man sie in
bitterer, unbequemer, täglicher Arbeit erwerben muß; man lernte, daß es
in der Geschichte noch eine höhere Macht gibt, als die geniale Begabung der
Einzelnen. So schlecht es mit den Staatsmännern und Helden von -1848 be¬
schaffen, war, sie waren doch immer noch viel edler, ritterlicher, ja selbst ver¬
ständiger, als die Staatsmänner von 1688. Alles, was auf der Oberfläche
des Staatslebens erschien, war elend und verächtlich; aber im innern Kern
des Volks schlummerte noch jene zähe Energie, die in den Zeilen der Willkür¬
herrschaft der Stuarts dem Einzelnen den Muth gab, sich lieber die Ohren ab¬
schneiden zu lassen, als widerrechtlich einen Pfennig Steuer zu zahlen, jene Ach¬
tung vor dem Gesetz, das von der Gewaltthätigkeit der Herrscher nicht unterdrückt
werden konnte, jener feste, religiöse Sinn, der zuweilen mit krankhaften Erschei¬
nungen verknüpft, doch von dem festen Gefühl des nothwendigen Zusammenhangs
zwischen Gegenwart und Zukunft durchdrungen war. Durch die Vermittlung


vorführt, ohne Unterschied den Makel der Unentschlossenheit oder gar der
innern Verderben'ß. Die politische Umgestaltung des Reichs erfolgt nicht durch
einen großen, die Einbildungskraft ergreifenden Act, sondern durch eine Reihe
kleiner Intriguen, deren innere Nothwendigkeit man wol im Allgemeinen sich
nachweisen mag, die aber einzeln betrachtet in einem losen, anscheinend will¬
kürlichen Zusammenhang zueinander stehen.

Die Kunst deö Geschichtschreibers hat sehr viel zu diesem Erfolge beigetra¬
gen. Er hatte seinen Stoff novellistisch , oder, wenn man will, dramatisch ab¬
gerundet, trotz der strengen chronologischen Folge griff immer ein Glied bedeu¬
tend in das andere ein, wir konnten die Charaktere, in allmäliger Entwicklung
verfolgen, wir begriffen in jedem Augenblick die Lage der Dinge und unsre
Seele war zu einer bestimmten, das Weitere anticipirender Erwartung gestimmt.
Die Porträts traten in frischen, lebendigen Farben aus der Leinwand heraus;
die Scenen und Zustände wurden uns deutlich wie in einem Roman, der Fluß
der Rede war^ melodisch, die Empfindungen voller Kraft und aus dem Innern
der Seele hervorströmend. Das alles mußte Bewunderung und Theilnahme
hervorrufen, wie man an einem Kunstwerk Theil nimmt, ganz abgesehen von
seinem Inhalt.

Aber es lag noch ein andrer Grund vor. Die Zeit, in welcher die ersten
Bände von Macaulay erschienen, war eine kranke. Sie hatte mit kühnen Er¬
wartungen begonnen und sie mußte eine Illusion nach der andern aufgeben.
Sie hatte gehofft, daß» ihr die Freiheit wie durch eine Gabe der Götter werde
geschenkt werden und nun sah sie sich plötzlich alle Früchte entrissen, sie fand
sich ärmer, als zuvor, denn sie hatte den Glauben an sich selbst verloren. Der
große Moment hatte ein kleines Geschlecht gefunden.

Einer solchen Zeit mußte Macaulays Geschichte ein Buch deS Trostes
sein; man lernte aus ihr, daß die Freiheit sich nicht schenkt, daß man sie in
bitterer, unbequemer, täglicher Arbeit erwerben muß; man lernte, daß es
in der Geschichte noch eine höhere Macht gibt, als die geniale Begabung der
Einzelnen. So schlecht es mit den Staatsmännern und Helden von -1848 be¬
schaffen, war, sie waren doch immer noch viel edler, ritterlicher, ja selbst ver¬
ständiger, als die Staatsmänner von 1688. Alles, was auf der Oberfläche
des Staatslebens erschien, war elend und verächtlich; aber im innern Kern
des Volks schlummerte noch jene zähe Energie, die in den Zeilen der Willkür¬
herrschaft der Stuarts dem Einzelnen den Muth gab, sich lieber die Ohren ab¬
schneiden zu lassen, als widerrechtlich einen Pfennig Steuer zu zahlen, jene Ach¬
tung vor dem Gesetz, das von der Gewaltthätigkeit der Herrscher nicht unterdrückt
werden konnte, jener feste, religiöse Sinn, der zuweilen mit krankhaften Erschei¬
nungen verknüpft, doch von dem festen Gefühl des nothwendigen Zusammenhangs
zwischen Gegenwart und Zukunft durchdrungen war. Durch die Vermittlung


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[0384] vorführt, ohne Unterschied den Makel der Unentschlossenheit oder gar der innern Verderben'ß. Die politische Umgestaltung des Reichs erfolgt nicht durch einen großen, die Einbildungskraft ergreifenden Act, sondern durch eine Reihe kleiner Intriguen, deren innere Nothwendigkeit man wol im Allgemeinen sich nachweisen mag, die aber einzeln betrachtet in einem losen, anscheinend will¬ kürlichen Zusammenhang zueinander stehen. Die Kunst deö Geschichtschreibers hat sehr viel zu diesem Erfolge beigetra¬ gen. Er hatte seinen Stoff novellistisch , oder, wenn man will, dramatisch ab¬ gerundet, trotz der strengen chronologischen Folge griff immer ein Glied bedeu¬ tend in das andere ein, wir konnten die Charaktere, in allmäliger Entwicklung verfolgen, wir begriffen in jedem Augenblick die Lage der Dinge und unsre Seele war zu einer bestimmten, das Weitere anticipirender Erwartung gestimmt. Die Porträts traten in frischen, lebendigen Farben aus der Leinwand heraus; die Scenen und Zustände wurden uns deutlich wie in einem Roman, der Fluß der Rede war^ melodisch, die Empfindungen voller Kraft und aus dem Innern der Seele hervorströmend. Das alles mußte Bewunderung und Theilnahme hervorrufen, wie man an einem Kunstwerk Theil nimmt, ganz abgesehen von seinem Inhalt. Aber es lag noch ein andrer Grund vor. Die Zeit, in welcher die ersten Bände von Macaulay erschienen, war eine kranke. Sie hatte mit kühnen Er¬ wartungen begonnen und sie mußte eine Illusion nach der andern aufgeben. Sie hatte gehofft, daß» ihr die Freiheit wie durch eine Gabe der Götter werde geschenkt werden und nun sah sie sich plötzlich alle Früchte entrissen, sie fand sich ärmer, als zuvor, denn sie hatte den Glauben an sich selbst verloren. Der große Moment hatte ein kleines Geschlecht gefunden. Einer solchen Zeit mußte Macaulays Geschichte ein Buch deS Trostes sein; man lernte aus ihr, daß die Freiheit sich nicht schenkt, daß man sie in bitterer, unbequemer, täglicher Arbeit erwerben muß; man lernte, daß es in der Geschichte noch eine höhere Macht gibt, als die geniale Begabung der Einzelnen. So schlecht es mit den Staatsmännern und Helden von -1848 be¬ schaffen, war, sie waren doch immer noch viel edler, ritterlicher, ja selbst ver¬ ständiger, als die Staatsmänner von 1688. Alles, was auf der Oberfläche des Staatslebens erschien, war elend und verächtlich; aber im innern Kern des Volks schlummerte noch jene zähe Energie, die in den Zeilen der Willkür¬ herrschaft der Stuarts dem Einzelnen den Muth gab, sich lieber die Ohren ab¬ schneiden zu lassen, als widerrechtlich einen Pfennig Steuer zu zahlen, jene Ach¬ tung vor dem Gesetz, das von der Gewaltthätigkeit der Herrscher nicht unterdrückt werden konnte, jener feste, religiöse Sinn, der zuweilen mit krankhaften Erschei¬ nungen verknüpft, doch von dem festen Gefühl des nothwendigen Zusammenhangs zwischen Gegenwart und Zukunft durchdrungen war. Durch die Vermittlung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/384>, abgerufen am 25.08.2024.