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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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deck verwirft den Plan Phulls vielmehr auf das entschiedenste mit den Wor¬
ten: "Phull sah nichts wie sein Lager bei Drissa;" er hatte also über einen
weitern Theil desselben, mit Dispositionen sür den Rückzug nach Moskau, kein
Wort gehört, und es ist vollkommen unglaublich, daß Alexander, der in lan¬
gen vertraulichen Unterredungen, für welche die Nachtstunden zu Hilfe genom¬
men wurden, die Auseinandersetzungen des preußischen Offiziers anhörte, nie
die Bemerkung gemacht haben sollte, daß ihm dieselben Ideen von Phull nicht
blos vorgetragen, sondern bereits zu einem ausführlichen Plane verarbeitet
wären. Und die Ereignisse zeigten bald bis zur Evidenz, daß Phulls Plan nur
bis Drissa reichte; sobald es sich als unmöglich erwies, sich in diesem Lager
zu halten und von hier aus Napoleons Flanke zu bedrohen, war Phulls Plan
definitiv beseitigt, Phull selbst, bis zu diesem Moment maßgebend, wurde eine
unbedeutende, unbeachtete Persönlichkeit, der Kaiser, der sich gewissermaßen mit
Phulls Ideen identificirt hatte, verließ das Heer -- während es doch, wenn
nun die entscheidende Hälfte des phullschen Planes hätte zur Ausführung
kommen sollen, natürlich gewesen wäre, daß Phull und der Kaiser von diesem
Moment ab recht eigentlich in den Mittelpunkt der Entscheidung traten. Nach¬
dem man bis Drissa gewichen, war durchaus kein Grund vorhanden, Phulls
Plan eines weitern Rückzugs, wenn ein solcher vorhanden gewesen wäre, plötz¬
lich fallen zu lassen, zumal die Thatsachen, die richtigere Schätzung der na¬
poleonischen Macht und die durch den Rückzug nach Drissa vermehrte Schwierig¬
keit, die Armeen Barclays und Bagrations bald zu vereinigen, die Noth¬
wendigkeit eines noch längere Zeit fortdauernden Rückzugs ziemlich klar
machten.

So viel kann man schon aus den allgemeinen Verhältnissen folgern. Herr
von Bernhardt hat das Verdienst, durch geschickte Zusammenstellung beweisen¬
der Thatsachen und neue Details im Einzelnen bewiesen zu haben, daß das
russische Hauptquartier nicht im entferntesten an einen Rückzug bis Moskau
gedacht, vielmehr gehofft hat, den Feind innerhalb einer Linie, die durch die
Dura und Bereszina gebildet wird, aufreiben zu können.

Der Gedanke, daß es nothwendig sei, gegen die gewaltigen Heeresmassen
Napoleons den Raum zu Hilfe zu nehmen, lag den leitenden Persönlichkeiten
schon deshalb fern, weil sie sich über das Verhältniß der beiderseitigen Kräfte
vollständig täuschten. Die Nachricht, die, wie Knesebeck erzählt, Tschernitschew
schon im März nach Petersburg brachte, daß Napoleon 600,000 Mann nach
Nußland führen werde, war auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen; man
schätzte die Stärke des Gegners auf etwa 200,000 Mann, selbst Toll veran¬
schlagte sie kurz vor dem Ausbruch des Krieges nur auf 220,000 Mann. Anderer¬
seits glaubte man in Petersburg, daß man an .den Grenzen 300,000 Mann russi¬
scher Krieger zum Kampf bereit finden werde; natürlich hoffte man mit dieser


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deck verwirft den Plan Phulls vielmehr auf das entschiedenste mit den Wor¬
ten: „Phull sah nichts wie sein Lager bei Drissa;" er hatte also über einen
weitern Theil desselben, mit Dispositionen sür den Rückzug nach Moskau, kein
Wort gehört, und es ist vollkommen unglaublich, daß Alexander, der in lan¬
gen vertraulichen Unterredungen, für welche die Nachtstunden zu Hilfe genom¬
men wurden, die Auseinandersetzungen des preußischen Offiziers anhörte, nie
die Bemerkung gemacht haben sollte, daß ihm dieselben Ideen von Phull nicht
blos vorgetragen, sondern bereits zu einem ausführlichen Plane verarbeitet
wären. Und die Ereignisse zeigten bald bis zur Evidenz, daß Phulls Plan nur
bis Drissa reichte; sobald es sich als unmöglich erwies, sich in diesem Lager
zu halten und von hier aus Napoleons Flanke zu bedrohen, war Phulls Plan
definitiv beseitigt, Phull selbst, bis zu diesem Moment maßgebend, wurde eine
unbedeutende, unbeachtete Persönlichkeit, der Kaiser, der sich gewissermaßen mit
Phulls Ideen identificirt hatte, verließ das Heer — während es doch, wenn
nun die entscheidende Hälfte des phullschen Planes hätte zur Ausführung
kommen sollen, natürlich gewesen wäre, daß Phull und der Kaiser von diesem
Moment ab recht eigentlich in den Mittelpunkt der Entscheidung traten. Nach¬
dem man bis Drissa gewichen, war durchaus kein Grund vorhanden, Phulls
Plan eines weitern Rückzugs, wenn ein solcher vorhanden gewesen wäre, plötz¬
lich fallen zu lassen, zumal die Thatsachen, die richtigere Schätzung der na¬
poleonischen Macht und die durch den Rückzug nach Drissa vermehrte Schwierig¬
keit, die Armeen Barclays und Bagrations bald zu vereinigen, die Noth¬
wendigkeit eines noch längere Zeit fortdauernden Rückzugs ziemlich klar
machten.

So viel kann man schon aus den allgemeinen Verhältnissen folgern. Herr
von Bernhardt hat das Verdienst, durch geschickte Zusammenstellung beweisen¬
der Thatsachen und neue Details im Einzelnen bewiesen zu haben, daß das
russische Hauptquartier nicht im entferntesten an einen Rückzug bis Moskau
gedacht, vielmehr gehofft hat, den Feind innerhalb einer Linie, die durch die
Dura und Bereszina gebildet wird, aufreiben zu können.

Der Gedanke, daß es nothwendig sei, gegen die gewaltigen Heeresmassen
Napoleons den Raum zu Hilfe zu nehmen, lag den leitenden Persönlichkeiten
schon deshalb fern, weil sie sich über das Verhältniß der beiderseitigen Kräfte
vollständig täuschten. Die Nachricht, die, wie Knesebeck erzählt, Tschernitschew
schon im März nach Petersburg brachte, daß Napoleon 600,000 Mann nach
Nußland führen werde, war auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen; man
schätzte die Stärke des Gegners auf etwa 200,000 Mann, selbst Toll veran¬
schlagte sie kurz vor dem Ausbruch des Krieges nur auf 220,000 Mann. Anderer¬
seits glaubte man in Petersburg, daß man an .den Grenzen 300,000 Mann russi¬
scher Krieger zum Kampf bereit finden werde; natürlich hoffte man mit dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/347>, abgerufen am 23.07.2024.