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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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einem Ganzen verband, einen Vorzug vor den Gemeinschaften besaß, die diese
Institute nicht hatten. Der Mangel an Rath und Versammlung bei den
Cyklopen bezeichnet den gänzlichen Mangel an Civilisation. Doch freilich
war auch die Gesellschaft, die die homerischen Gedichte schildern, locker und
ungeordnet genug. Dies hat nun Grote vortrefflich ausgeführt, daß wir in
Homer zwar eine außerordentliche Reinheit, Stärke, Nichtigkeit und selbst
Zartheit des individuellen sittlichen Gefühls finden, aber sehr wenige allgemein-
giltige moralische Gesetze. Das persönliche Gefühl war in sehr vielen Füllen
der einzige Regulator für die Handlungsweise, da es an gesetzlicher Einschrän¬
kung und noch mehr an gesetzlichem Schutz in hohem Grade mangelte.

Die Verhältnisse der Familie waren durch die Stärke und Gesundheit des
natürlichen Gefühls zu einem Grade von Adel erhoben, den sie in der histo¬
rischen Zeit nicht immer bewahrten. Die Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern
war groß und die Scheu vor dem elterlichen Fluche ein starker Antrieb zum
Thun oder Lassen. Die Frau wurde zwar durch Geschenke förmlich erkauft,
daher die Jungfrauen die "rindererwerbenden" hießen, denn Vieh war das
gewöhnliche Tauschmittel, aber die rechtmäßige Gattin war die völlig gleich¬
berechtigte Genossin des Mannes und stand in einer Achtung, deren sich die
Frauen im Zeitalter des Perikles nicht zu erfreuen hatten. Monogamie war
die ausschließliche Form der Ehe bei den Griechen; Barbarenfürsten (wie Pria-
mus) mochten mehre Weiber haben. Wol mochte der Mann eine seiner Skla¬
vinnen zur Concubine nehmen, aber in der Regel geschah es nur im Felde,
zu Hause ward es aus Rücksicht auf die rechtmäßige Frau vermieden. Jeder
wackere und verständige Mann hielt sein Weib werth und sorgte für sie und
man braucht nur Andromache und Penelope zu nennen, um an die Begriffe
des homerischen Zeitalters von Frauenwürde und ehelichen Verhältniß zu er¬
innern. Und doch ist behauptet worden, die Griechen hätten das Verhältniß
der Frau zum Manne nur in dem der Schwester, nicht der Gattin gekannt!
Das Verhältniß der beiden Geschlechter war überhaupt ein naturgemäßes und
gesundes, von Rohheit ebensoweit, als von Ueberfeinerung entfernt. Bluts¬
verwandte waren gewöhnlich eng befreundet. Die rechtmäßigen Kinder wurden
bevorzugt, besonders bei der Erbschaft, aber auch Bastarde wurden gut gehalten
und blieben nicht unbedacht. Ein Makel lastete auf ihnen ebensowenig, als
im Mittelalter, wo so viele uneheliche Söhne fürstlicher Eltern sich ihrer Ab¬
kunft rühmten. Daß Tochter edler Häuser sich außer der Ehe einem Manne
Hingaben, gehörte zu den seltensten Ausnahmen und die Väter waren gegen
Fehltritte dieser Art unerbittlich streng; ebenso gehörte Ehebruch zu den Selten¬
heiten.

Nächst den Familienbanden war das stärkste das der Gastfreundschaft, wie
in allen wenig entwickelten gesellschaftlichen Zuständen. Nicht nur unverletzlich


einem Ganzen verband, einen Vorzug vor den Gemeinschaften besaß, die diese
Institute nicht hatten. Der Mangel an Rath und Versammlung bei den
Cyklopen bezeichnet den gänzlichen Mangel an Civilisation. Doch freilich
war auch die Gesellschaft, die die homerischen Gedichte schildern, locker und
ungeordnet genug. Dies hat nun Grote vortrefflich ausgeführt, daß wir in
Homer zwar eine außerordentliche Reinheit, Stärke, Nichtigkeit und selbst
Zartheit des individuellen sittlichen Gefühls finden, aber sehr wenige allgemein-
giltige moralische Gesetze. Das persönliche Gefühl war in sehr vielen Füllen
der einzige Regulator für die Handlungsweise, da es an gesetzlicher Einschrän¬
kung und noch mehr an gesetzlichem Schutz in hohem Grade mangelte.

Die Verhältnisse der Familie waren durch die Stärke und Gesundheit des
natürlichen Gefühls zu einem Grade von Adel erhoben, den sie in der histo¬
rischen Zeit nicht immer bewahrten. Die Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern
war groß und die Scheu vor dem elterlichen Fluche ein starker Antrieb zum
Thun oder Lassen. Die Frau wurde zwar durch Geschenke förmlich erkauft,
daher die Jungfrauen die „rindererwerbenden" hießen, denn Vieh war das
gewöhnliche Tauschmittel, aber die rechtmäßige Gattin war die völlig gleich¬
berechtigte Genossin des Mannes und stand in einer Achtung, deren sich die
Frauen im Zeitalter des Perikles nicht zu erfreuen hatten. Monogamie war
die ausschließliche Form der Ehe bei den Griechen; Barbarenfürsten (wie Pria-
mus) mochten mehre Weiber haben. Wol mochte der Mann eine seiner Skla¬
vinnen zur Concubine nehmen, aber in der Regel geschah es nur im Felde,
zu Hause ward es aus Rücksicht auf die rechtmäßige Frau vermieden. Jeder
wackere und verständige Mann hielt sein Weib werth und sorgte für sie und
man braucht nur Andromache und Penelope zu nennen, um an die Begriffe
des homerischen Zeitalters von Frauenwürde und ehelichen Verhältniß zu er¬
innern. Und doch ist behauptet worden, die Griechen hätten das Verhältniß
der Frau zum Manne nur in dem der Schwester, nicht der Gattin gekannt!
Das Verhältniß der beiden Geschlechter war überhaupt ein naturgemäßes und
gesundes, von Rohheit ebensoweit, als von Ueberfeinerung entfernt. Bluts¬
verwandte waren gewöhnlich eng befreundet. Die rechtmäßigen Kinder wurden
bevorzugt, besonders bei der Erbschaft, aber auch Bastarde wurden gut gehalten
und blieben nicht unbedacht. Ein Makel lastete auf ihnen ebensowenig, als
im Mittelalter, wo so viele uneheliche Söhne fürstlicher Eltern sich ihrer Ab¬
kunft rühmten. Daß Tochter edler Häuser sich außer der Ehe einem Manne
Hingaben, gehörte zu den seltensten Ausnahmen und die Väter waren gegen
Fehltritte dieser Art unerbittlich streng; ebenso gehörte Ehebruch zu den Selten¬
heiten.

Nächst den Familienbanden war das stärkste das der Gastfreundschaft, wie
in allen wenig entwickelten gesellschaftlichen Zuständen. Nicht nur unverletzlich


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[0333] einem Ganzen verband, einen Vorzug vor den Gemeinschaften besaß, die diese Institute nicht hatten. Der Mangel an Rath und Versammlung bei den Cyklopen bezeichnet den gänzlichen Mangel an Civilisation. Doch freilich war auch die Gesellschaft, die die homerischen Gedichte schildern, locker und ungeordnet genug. Dies hat nun Grote vortrefflich ausgeführt, daß wir in Homer zwar eine außerordentliche Reinheit, Stärke, Nichtigkeit und selbst Zartheit des individuellen sittlichen Gefühls finden, aber sehr wenige allgemein- giltige moralische Gesetze. Das persönliche Gefühl war in sehr vielen Füllen der einzige Regulator für die Handlungsweise, da es an gesetzlicher Einschrän¬ kung und noch mehr an gesetzlichem Schutz in hohem Grade mangelte. Die Verhältnisse der Familie waren durch die Stärke und Gesundheit des natürlichen Gefühls zu einem Grade von Adel erhoben, den sie in der histo¬ rischen Zeit nicht immer bewahrten. Die Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern war groß und die Scheu vor dem elterlichen Fluche ein starker Antrieb zum Thun oder Lassen. Die Frau wurde zwar durch Geschenke förmlich erkauft, daher die Jungfrauen die „rindererwerbenden" hießen, denn Vieh war das gewöhnliche Tauschmittel, aber die rechtmäßige Gattin war die völlig gleich¬ berechtigte Genossin des Mannes und stand in einer Achtung, deren sich die Frauen im Zeitalter des Perikles nicht zu erfreuen hatten. Monogamie war die ausschließliche Form der Ehe bei den Griechen; Barbarenfürsten (wie Pria- mus) mochten mehre Weiber haben. Wol mochte der Mann eine seiner Skla¬ vinnen zur Concubine nehmen, aber in der Regel geschah es nur im Felde, zu Hause ward es aus Rücksicht auf die rechtmäßige Frau vermieden. Jeder wackere und verständige Mann hielt sein Weib werth und sorgte für sie und man braucht nur Andromache und Penelope zu nennen, um an die Begriffe des homerischen Zeitalters von Frauenwürde und ehelichen Verhältniß zu er¬ innern. Und doch ist behauptet worden, die Griechen hätten das Verhältniß der Frau zum Manne nur in dem der Schwester, nicht der Gattin gekannt! Das Verhältniß der beiden Geschlechter war überhaupt ein naturgemäßes und gesundes, von Rohheit ebensoweit, als von Ueberfeinerung entfernt. Bluts¬ verwandte waren gewöhnlich eng befreundet. Die rechtmäßigen Kinder wurden bevorzugt, besonders bei der Erbschaft, aber auch Bastarde wurden gut gehalten und blieben nicht unbedacht. Ein Makel lastete auf ihnen ebensowenig, als im Mittelalter, wo so viele uneheliche Söhne fürstlicher Eltern sich ihrer Ab¬ kunft rühmten. Daß Tochter edler Häuser sich außer der Ehe einem Manne Hingaben, gehörte zu den seltensten Ausnahmen und die Väter waren gegen Fehltritte dieser Art unerbittlich streng; ebenso gehörte Ehebruch zu den Selten¬ heiten. Nächst den Familienbanden war das stärkste das der Gastfreundschaft, wie in allen wenig entwickelten gesellschaftlichen Zuständen. Nicht nur unverletzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/333>, abgerufen am 23.07.2024.