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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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vorsichtige, zähe Eroberungspolitik des lothringischen Kaiserhauses und die Ge¬
fahren, welche sie den deutschen Völkern bereitet hat, nirgend das gewalt-
thätige Uebergreifen des riesigen Rußlands über Deutschland mit so unwider¬
stehlicher Logik entwickelt worden. -- Wohlthuend sticht von dieser Behandlung das
Urtheil über Preußen ab, welches auch in seiner Schwäche und diplomatischen
Ungeschicklichkeit immer noch das Bild eines Staates gewährt, der einen höhern
Idealismus hat, als die egoistischen Wünsche der Herrschenden. Was uns
aber als die Krone von allem erscheint, noch nie ist die Theilung Polens mit
solcher Wahrheit und Entschiedenheit als eine Nothwendigkeit für Preußen
vertreten und nie die politische Nichtswürdigkeit des polnischen Staates so ein¬
dringlich geschildert worden, als in diesem Werke. Der deutsche Stolz deö
Verfassers und sein großer politischer Sinn sollen diesen Theil seines Werkes
jedem Preußen vertraut und theuer machen. Es ist nicht die kleinste Schmach,
die wir Deutsche uns selbst zugefügt haben, daß wir die Theilungen Polens,
die für uns eine Art der Selbsterhaltung waren, durch fast fünfzig Jahre vom
Standpunkt eines Polen oder Franzosen, oder einer verkehrten Weltbürgerlichkeit
bejammert haben als eine Unthat, die wir begangen. Allerdings war es ein
Unglück für Deutschland, daß Polen verschwinden mußte und Rußland unser
Nachbar wurde und es war nicht weniger ein Unglück, daß Preußen nicht
die Attractionskraft einer großen Ländermasse hatte, Polen, wenn es einmal
nicht selbstständig leben konnte, ganz an sich zu ziehen. Ja es bleibt uns un¬
benommen, in der Gegenwart den Wunsch auszusprechen, daß zwischen Preu¬
ßen und Rußland ein unabhängiges Polen wieder anstehe. Am Ende des vori¬
gen Jahrhunderts aber war die preußische Occupation eines Theiles von Polen
für die Existenz von Ostpreußen, wie für ganz Deutschland ein unvermeid¬
liches, nothwendiges Factum und nur das ist höchlich zu bedauern, daß wir
nicht mehr davon den Russen wegzunehmen die Kraft hatten. -- Die Schil¬
derung Polens am Ende des vorigen Jahrhunderts soll mit den Worten des
Verfassers (Band 2, S. 219) hier folgen. Für die Mitarbeiter d. Bl,,
welche dieselbe Auffassung zu vertreten bemüht sind, war der betreffende Ab¬
schnitt ibel Sybel eine sozusagen persönliche Freude.

"Seit Jahrhunderten trug damals Polen an dem Fluche der Leibeigenschaft.
Neun Zehntel seiner Bewohner waren hörige Bauern, die ohne irgendeinen
Rechtsschutz der Willkür ihrer Herren Preis gegeben waren. Noch bestand das
alte Gesetz, welches jeden derselben im Falle des Todtschlags auf 10 Mark
oder nach damaligem Geldwerthe etwa vier Thaler schätzte, im Uebrigen aber
verfuhr der Herr mit der Person und der Habe seines Leibeignen nach freiem
Belieben. In derselben Zeit, in welcher aller Orten sonst der Drang der
persönlichen Freiheit und bürgerlicher Gleichheit begann, mit dem Ende des
17. Jahrhunderts, vollendete sich in Polen die adlige Tyrannei. Man hat


vorsichtige, zähe Eroberungspolitik des lothringischen Kaiserhauses und die Ge¬
fahren, welche sie den deutschen Völkern bereitet hat, nirgend das gewalt-
thätige Uebergreifen des riesigen Rußlands über Deutschland mit so unwider¬
stehlicher Logik entwickelt worden. — Wohlthuend sticht von dieser Behandlung das
Urtheil über Preußen ab, welches auch in seiner Schwäche und diplomatischen
Ungeschicklichkeit immer noch das Bild eines Staates gewährt, der einen höhern
Idealismus hat, als die egoistischen Wünsche der Herrschenden. Was uns
aber als die Krone von allem erscheint, noch nie ist die Theilung Polens mit
solcher Wahrheit und Entschiedenheit als eine Nothwendigkeit für Preußen
vertreten und nie die politische Nichtswürdigkeit des polnischen Staates so ein¬
dringlich geschildert worden, als in diesem Werke. Der deutsche Stolz deö
Verfassers und sein großer politischer Sinn sollen diesen Theil seines Werkes
jedem Preußen vertraut und theuer machen. Es ist nicht die kleinste Schmach,
die wir Deutsche uns selbst zugefügt haben, daß wir die Theilungen Polens,
die für uns eine Art der Selbsterhaltung waren, durch fast fünfzig Jahre vom
Standpunkt eines Polen oder Franzosen, oder einer verkehrten Weltbürgerlichkeit
bejammert haben als eine Unthat, die wir begangen. Allerdings war es ein
Unglück für Deutschland, daß Polen verschwinden mußte und Rußland unser
Nachbar wurde und es war nicht weniger ein Unglück, daß Preußen nicht
die Attractionskraft einer großen Ländermasse hatte, Polen, wenn es einmal
nicht selbstständig leben konnte, ganz an sich zu ziehen. Ja es bleibt uns un¬
benommen, in der Gegenwart den Wunsch auszusprechen, daß zwischen Preu¬
ßen und Rußland ein unabhängiges Polen wieder anstehe. Am Ende des vori¬
gen Jahrhunderts aber war die preußische Occupation eines Theiles von Polen
für die Existenz von Ostpreußen, wie für ganz Deutschland ein unvermeid¬
liches, nothwendiges Factum und nur das ist höchlich zu bedauern, daß wir
nicht mehr davon den Russen wegzunehmen die Kraft hatten. — Die Schil¬
derung Polens am Ende des vorigen Jahrhunderts soll mit den Worten des
Verfassers (Band 2, S. 219) hier folgen. Für die Mitarbeiter d. Bl,,
welche dieselbe Auffassung zu vertreten bemüht sind, war der betreffende Ab¬
schnitt ibel Sybel eine sozusagen persönliche Freude.

„Seit Jahrhunderten trug damals Polen an dem Fluche der Leibeigenschaft.
Neun Zehntel seiner Bewohner waren hörige Bauern, die ohne irgendeinen
Rechtsschutz der Willkür ihrer Herren Preis gegeben waren. Noch bestand das
alte Gesetz, welches jeden derselben im Falle des Todtschlags auf 10 Mark
oder nach damaligem Geldwerthe etwa vier Thaler schätzte, im Uebrigen aber
verfuhr der Herr mit der Person und der Habe seines Leibeignen nach freiem
Belieben. In derselben Zeit, in welcher aller Orten sonst der Drang der
persönlichen Freiheit und bürgerlicher Gleichheit begann, mit dem Ende des
17. Jahrhunderts, vollendete sich in Polen die adlige Tyrannei. Man hat


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[0256] vorsichtige, zähe Eroberungspolitik des lothringischen Kaiserhauses und die Ge¬ fahren, welche sie den deutschen Völkern bereitet hat, nirgend das gewalt- thätige Uebergreifen des riesigen Rußlands über Deutschland mit so unwider¬ stehlicher Logik entwickelt worden. — Wohlthuend sticht von dieser Behandlung das Urtheil über Preußen ab, welches auch in seiner Schwäche und diplomatischen Ungeschicklichkeit immer noch das Bild eines Staates gewährt, der einen höhern Idealismus hat, als die egoistischen Wünsche der Herrschenden. Was uns aber als die Krone von allem erscheint, noch nie ist die Theilung Polens mit solcher Wahrheit und Entschiedenheit als eine Nothwendigkeit für Preußen vertreten und nie die politische Nichtswürdigkeit des polnischen Staates so ein¬ dringlich geschildert worden, als in diesem Werke. Der deutsche Stolz deö Verfassers und sein großer politischer Sinn sollen diesen Theil seines Werkes jedem Preußen vertraut und theuer machen. Es ist nicht die kleinste Schmach, die wir Deutsche uns selbst zugefügt haben, daß wir die Theilungen Polens, die für uns eine Art der Selbsterhaltung waren, durch fast fünfzig Jahre vom Standpunkt eines Polen oder Franzosen, oder einer verkehrten Weltbürgerlichkeit bejammert haben als eine Unthat, die wir begangen. Allerdings war es ein Unglück für Deutschland, daß Polen verschwinden mußte und Rußland unser Nachbar wurde und es war nicht weniger ein Unglück, daß Preußen nicht die Attractionskraft einer großen Ländermasse hatte, Polen, wenn es einmal nicht selbstständig leben konnte, ganz an sich zu ziehen. Ja es bleibt uns un¬ benommen, in der Gegenwart den Wunsch auszusprechen, daß zwischen Preu¬ ßen und Rußland ein unabhängiges Polen wieder anstehe. Am Ende des vori¬ gen Jahrhunderts aber war die preußische Occupation eines Theiles von Polen für die Existenz von Ostpreußen, wie für ganz Deutschland ein unvermeid¬ liches, nothwendiges Factum und nur das ist höchlich zu bedauern, daß wir nicht mehr davon den Russen wegzunehmen die Kraft hatten. — Die Schil¬ derung Polens am Ende des vorigen Jahrhunderts soll mit den Worten des Verfassers (Band 2, S. 219) hier folgen. Für die Mitarbeiter d. Bl,, welche dieselbe Auffassung zu vertreten bemüht sind, war der betreffende Ab¬ schnitt ibel Sybel eine sozusagen persönliche Freude. „Seit Jahrhunderten trug damals Polen an dem Fluche der Leibeigenschaft. Neun Zehntel seiner Bewohner waren hörige Bauern, die ohne irgendeinen Rechtsschutz der Willkür ihrer Herren Preis gegeben waren. Noch bestand das alte Gesetz, welches jeden derselben im Falle des Todtschlags auf 10 Mark oder nach damaligem Geldwerthe etwa vier Thaler schätzte, im Uebrigen aber verfuhr der Herr mit der Person und der Habe seines Leibeignen nach freiem Belieben. In derselben Zeit, in welcher aller Orten sonst der Drang der persönlichen Freiheit und bürgerlicher Gleichheit begann, mit dem Ende des 17. Jahrhunderts, vollendete sich in Polen die adlige Tyrannei. Man hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/256>, abgerufen am 23.07.2024.