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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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Jahre gelernt, was unserm Vaterlande Noth thut. Was sie auch für den
größern Leserkreis schreiben, ihnen allen stürmt der Gedanke an die Zukunft
der deutschen Nation durch das Herz, auf jeder Seite erkennt man das ernste
Bestreben, das Volk zu belehren über seine gegenwärtige Stellung, über seinen
Staat, seine politische Zukunft, über die großen Gefahren, welche dem deutschen
Leben drohen, über die Wege zu Rettung und Sieg und dasselbe zu einem bestimm¬
ten Ziele hinzuführen. Und bei allen ist der Weg derselbe, alle die Genannten haben
dasselbe Glaubensbekenntniß. Das letzte Resultat der politischen Kämpfe von
18i8--bildet jetzt auch die Grundlage, der politischen Ueberzeugung, für
welche die historischen Lehrer der Nation arbeiten: größere Concentration der
deutschen Staaten und Stämme, im Anschluß an den Staatsbäu, der, wie
auch seine gegenwärtige Physiognomie sein möge, seinen Grundzügen nach der
einzige ist, der die Möglichkeit einer großartigen deutschen Politik darbietet, an
den preußischen. Aber nicht minder bedeutsam ist, daß diese feste Whiggesin¬
nung die Gründlichkeit und Unparteilichkeit der Forschungen nicht verringert,
ja die Tüchtigkeit derselben vermehrt hat. Während bis jetzt die deutsche Ge¬
schichtschreibung nur zu oft und grade in ihrem glänzendsten Repräsentanten,
Ranke, am meisten in Gefahr war, aus übcrverfeinerter Humanität gewissenlos
zu werden, und das eigne moralische Urtheil einer falschen Objektivität zu opfern,
sehen wir bei all den obengenannten Männern und bei nicht wenigen, die
ihnen ähnlich sind, eine sittliche Würde und eine innere Festigkeit bei Beur¬
theilung von Personen und Begebenheiten, welche grade uns Deutschen wie
ein neues Evangelium entgegentritt. Denn auch in unsrer gutgearteten, aber
verschüchterten Natur ist gegenwärtig der größte Fehler, daß wir viel mehr den
weibischen Muth haben, zu leiden, als zu kämpfen, daß wir uns resigniren,
wenn Schelme das Schwarz Weiß und das Schlechte gesetzlich nennen, und
daß wir in unsrer höchsten Angelegenheit, dem Staat, unser gemüthliches Be¬
hagen durch unbeugsame Opposition gegen das Unrecht zu gefährden nur selten
fähig sind. Da bei solchem Wesen Sittlichkeit und Urtheil der Deutschen
in politischen Dingen ebenso unsicher, als im Privatleben ehrenfest sind, so
thun uns jetzt vor allem Lehrer Noth, welche unermüdlich auf die Fehler der
deutschen Natur und ihren hohen Beruf hinweisen und in dem Spiegel der
nächsten Vergangenheit unser Bild zeigen, nicht wie wir selbstgenügsam uns
gern träumen, sondern wie wir wirklich sind, und wie wir werden sollen.

Wol ist auch das charakteristisch für uns Deutsche, daß es grade be¬
dächtige Gelehrte aus der Studirstube, sind, welche nur durch gedruckte Buch¬
staben das Volk ernähren und zu seiner Pflicht rufen. Aber es ist nicht das
erste Mal, daß unsre Wissenschaft so Großes beginnt. Die mächtige Bewegung
der Reformation leitet sich von denselben stillen Arbeitszimmern her. Immer
war eS unsre Art, daß starke Erhebungen des Volksgeistes vorbereitet wurden


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Jahre gelernt, was unserm Vaterlande Noth thut. Was sie auch für den
größern Leserkreis schreiben, ihnen allen stürmt der Gedanke an die Zukunft
der deutschen Nation durch das Herz, auf jeder Seite erkennt man das ernste
Bestreben, das Volk zu belehren über seine gegenwärtige Stellung, über seinen
Staat, seine politische Zukunft, über die großen Gefahren, welche dem deutschen
Leben drohen, über die Wege zu Rettung und Sieg und dasselbe zu einem bestimm¬
ten Ziele hinzuführen. Und bei allen ist der Weg derselbe, alle die Genannten haben
dasselbe Glaubensbekenntniß. Das letzte Resultat der politischen Kämpfe von
18i8—bildet jetzt auch die Grundlage, der politischen Ueberzeugung, für
welche die historischen Lehrer der Nation arbeiten: größere Concentration der
deutschen Staaten und Stämme, im Anschluß an den Staatsbäu, der, wie
auch seine gegenwärtige Physiognomie sein möge, seinen Grundzügen nach der
einzige ist, der die Möglichkeit einer großartigen deutschen Politik darbietet, an
den preußischen. Aber nicht minder bedeutsam ist, daß diese feste Whiggesin¬
nung die Gründlichkeit und Unparteilichkeit der Forschungen nicht verringert,
ja die Tüchtigkeit derselben vermehrt hat. Während bis jetzt die deutsche Ge¬
schichtschreibung nur zu oft und grade in ihrem glänzendsten Repräsentanten,
Ranke, am meisten in Gefahr war, aus übcrverfeinerter Humanität gewissenlos
zu werden, und das eigne moralische Urtheil einer falschen Objektivität zu opfern,
sehen wir bei all den obengenannten Männern und bei nicht wenigen, die
ihnen ähnlich sind, eine sittliche Würde und eine innere Festigkeit bei Beur¬
theilung von Personen und Begebenheiten, welche grade uns Deutschen wie
ein neues Evangelium entgegentritt. Denn auch in unsrer gutgearteten, aber
verschüchterten Natur ist gegenwärtig der größte Fehler, daß wir viel mehr den
weibischen Muth haben, zu leiden, als zu kämpfen, daß wir uns resigniren,
wenn Schelme das Schwarz Weiß und das Schlechte gesetzlich nennen, und
daß wir in unsrer höchsten Angelegenheit, dem Staat, unser gemüthliches Be¬
hagen durch unbeugsame Opposition gegen das Unrecht zu gefährden nur selten
fähig sind. Da bei solchem Wesen Sittlichkeit und Urtheil der Deutschen
in politischen Dingen ebenso unsicher, als im Privatleben ehrenfest sind, so
thun uns jetzt vor allem Lehrer Noth, welche unermüdlich auf die Fehler der
deutschen Natur und ihren hohen Beruf hinweisen und in dem Spiegel der
nächsten Vergangenheit unser Bild zeigen, nicht wie wir selbstgenügsam uns
gern träumen, sondern wie wir wirklich sind, und wie wir werden sollen.

Wol ist auch das charakteristisch für uns Deutsche, daß es grade be¬
dächtige Gelehrte aus der Studirstube, sind, welche nur durch gedruckte Buch¬
staben das Volk ernähren und zu seiner Pflicht rufen. Aber es ist nicht das
erste Mal, daß unsre Wissenschaft so Großes beginnt. Die mächtige Bewegung
der Reformation leitet sich von denselben stillen Arbeitszimmern her. Immer
war eS unsre Art, daß starke Erhebungen des Volksgeistes vorbereitet wurden


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[0251] Jahre gelernt, was unserm Vaterlande Noth thut. Was sie auch für den größern Leserkreis schreiben, ihnen allen stürmt der Gedanke an die Zukunft der deutschen Nation durch das Herz, auf jeder Seite erkennt man das ernste Bestreben, das Volk zu belehren über seine gegenwärtige Stellung, über seinen Staat, seine politische Zukunft, über die großen Gefahren, welche dem deutschen Leben drohen, über die Wege zu Rettung und Sieg und dasselbe zu einem bestimm¬ ten Ziele hinzuführen. Und bei allen ist der Weg derselbe, alle die Genannten haben dasselbe Glaubensbekenntniß. Das letzte Resultat der politischen Kämpfe von 18i8—bildet jetzt auch die Grundlage, der politischen Ueberzeugung, für welche die historischen Lehrer der Nation arbeiten: größere Concentration der deutschen Staaten und Stämme, im Anschluß an den Staatsbäu, der, wie auch seine gegenwärtige Physiognomie sein möge, seinen Grundzügen nach der einzige ist, der die Möglichkeit einer großartigen deutschen Politik darbietet, an den preußischen. Aber nicht minder bedeutsam ist, daß diese feste Whiggesin¬ nung die Gründlichkeit und Unparteilichkeit der Forschungen nicht verringert, ja die Tüchtigkeit derselben vermehrt hat. Während bis jetzt die deutsche Ge¬ schichtschreibung nur zu oft und grade in ihrem glänzendsten Repräsentanten, Ranke, am meisten in Gefahr war, aus übcrverfeinerter Humanität gewissenlos zu werden, und das eigne moralische Urtheil einer falschen Objektivität zu opfern, sehen wir bei all den obengenannten Männern und bei nicht wenigen, die ihnen ähnlich sind, eine sittliche Würde und eine innere Festigkeit bei Beur¬ theilung von Personen und Begebenheiten, welche grade uns Deutschen wie ein neues Evangelium entgegentritt. Denn auch in unsrer gutgearteten, aber verschüchterten Natur ist gegenwärtig der größte Fehler, daß wir viel mehr den weibischen Muth haben, zu leiden, als zu kämpfen, daß wir uns resigniren, wenn Schelme das Schwarz Weiß und das Schlechte gesetzlich nennen, und daß wir in unsrer höchsten Angelegenheit, dem Staat, unser gemüthliches Be¬ hagen durch unbeugsame Opposition gegen das Unrecht zu gefährden nur selten fähig sind. Da bei solchem Wesen Sittlichkeit und Urtheil der Deutschen in politischen Dingen ebenso unsicher, als im Privatleben ehrenfest sind, so thun uns jetzt vor allem Lehrer Noth, welche unermüdlich auf die Fehler der deutschen Natur und ihren hohen Beruf hinweisen und in dem Spiegel der nächsten Vergangenheit unser Bild zeigen, nicht wie wir selbstgenügsam uns gern träumen, sondern wie wir wirklich sind, und wie wir werden sollen. Wol ist auch das charakteristisch für uns Deutsche, daß es grade be¬ dächtige Gelehrte aus der Studirstube, sind, welche nur durch gedruckte Buch¬ staben das Volk ernähren und zu seiner Pflicht rufen. Aber es ist nicht das erste Mal, daß unsre Wissenschaft so Großes beginnt. Die mächtige Bewegung der Reformation leitet sich von denselben stillen Arbeitszimmern her. Immer war eS unsre Art, daß starke Erhebungen des Volksgeistes vorbereitet wurden 31*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/251>, abgerufen am 23.07.2024.