Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.Wenn demnach das Gemüth zum Denken ebenso unfähig ist, wie der In der Thätigkeit des Gewissens wiederholt sich dasselbe mit dem Unter¬ Wenn demnach das Gemüth zum Denken ebenso unfähig ist, wie der In der Thätigkeit des Gewissens wiederholt sich dasselbe mit dem Unter¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101179"/> <p xml:id="ID_537"> Wenn demnach das Gemüth zum Denken ebenso unfähig ist, wie der<lb/> Geist zum Empfinden und wenn ferner, wie die Verschiedenartigkeit des Glau¬<lb/> bens und der Bekenntnisse beweist, die Uebertragung der Gewissenöthätigkeit<lb/> in Worte schwierig und trüglich ist, sollte dann durch das Gemüth überhaupt<lb/> keinerlei Erkenntniß hervorgebracht werden können? Die Erfahrung beweist das<lb/> Gegentheil. Untersuchen wir z. B. den Ursprung unsers Urtheils über musi¬<lb/> kalische Kunstwerke, so findet es sich, daß dasselbe in der Reaction unsers Ge¬<lb/> müths aus den musikalischen Eindruck seine Grundlage hat. Die musikalische<lb/> Schönheit läßt sich offenbar weder auf die Uebereinstimmung mit der Natur,<lb/> wie bei den bildenden Künsten, noch mit der Bernunft, wie bei der Poesie<lb/> versucht werden könnte, zurückführen, noch weniger aber kennen wir physikalische<lb/> Gründe unsers Wohlgefallens an harmonischen Folgen, geschweige an Melodien<lb/> und Klängen. Daraus folgt zwar nicht, daß nicht bis zu einem gewissen<lb/> Punkte ein vernünftiges Urtheil über Musik möglich sei oder daß die Ge¬<lb/> müthseindrücke nicht einen natürlichen Grund hätten, wohl aber, daß ohne be¬<lb/> friedigende Erkenntniß unmittelbar durch Gemüthsbewegungen die Schöpfung<lb/> und die Beurtheilung der größten musikalischen Kunstwerke ermöglicht wird.<lb/> Hieraus folgt 1) daß das Gemüth durch Reaction auf die empfangenen Ein¬<lb/> drücke ein Prüfstein des Schönen wird, uns also fast unmittelbar zur Erkennt¬<lb/> niß desselben verhilft; 2) daß die Reactionen desselben bei den verschiedenen<lb/> Menschen wesentlich übereinstimmende sein müssen, weil sonst auf die Dauer<lb/> kein übereinstimmendes Urtheil, sondern gänzliche Zerfahrenheit desselben<lb/> sich herausstellen würde; 3) daß die auf das Gemüth sich stützenden Urtheile<lb/> im Allgemeinen trügerisch sind, indem viele Menschen durch unbedeutende, aber<lb/> "neue und ungewohnte Kunstleistungen zu einer unwahren, sehr vergänglichen<lb/> Begeisterung hingerissen werden können. Bedenken wir aber die Nothwendig¬<lb/> keit einer besonderen musikalischen Anlage und Vorbildung, die Schwierigkeit,<lb/> sich den gemüthlichen, nicht blos den sinnlichen, Eindrücken ganz unbefangen<lb/> hinzugeben und endlich sich über die erlittenen Gemüthsbewegungen klar aus¬<lb/> zusprechen, so ist erklärlich, daß trotz der wesentlichen Uebereinstimmung der<lb/> Gemüthsreactiön nur wenige Menschen ein sicheres, auf die Dauer Stichhaltiges<lb/> Urtheil über Musik besitzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_538" next="#ID_539"> In der Thätigkeit des Gewissens wiederholt sich dasselbe mit dem Unter¬<lb/> schiede, daß hier ein Unterricht zwar, dock keine specielle künstlerische Vorbil¬<lb/> dung erforderlich ist und daß uns durch die Lehre Christi eine sichere Richt¬<lb/> schnur gegeben wurde. Wir wollen daher gern annehme», daß das durch unser<lb/> Gewissen erzeugte Urtheil über Recht und Unrecht, Sittlichkeit und Unsittlich-<lb/> keit ein weit sichereres sei, als jenes ästhetische, obgleich die Erinnerung an die<lb/> greulichen Herenprveesse und an so viele schreckliche Religionsverfolgungen wol<lb/> daran irre machen kann. Aber gewiß ist, daß nicht frömmelnde Redensarten,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0186]
Wenn demnach das Gemüth zum Denken ebenso unfähig ist, wie der
Geist zum Empfinden und wenn ferner, wie die Verschiedenartigkeit des Glau¬
bens und der Bekenntnisse beweist, die Uebertragung der Gewissenöthätigkeit
in Worte schwierig und trüglich ist, sollte dann durch das Gemüth überhaupt
keinerlei Erkenntniß hervorgebracht werden können? Die Erfahrung beweist das
Gegentheil. Untersuchen wir z. B. den Ursprung unsers Urtheils über musi¬
kalische Kunstwerke, so findet es sich, daß dasselbe in der Reaction unsers Ge¬
müths aus den musikalischen Eindruck seine Grundlage hat. Die musikalische
Schönheit läßt sich offenbar weder auf die Uebereinstimmung mit der Natur,
wie bei den bildenden Künsten, noch mit der Bernunft, wie bei der Poesie
versucht werden könnte, zurückführen, noch weniger aber kennen wir physikalische
Gründe unsers Wohlgefallens an harmonischen Folgen, geschweige an Melodien
und Klängen. Daraus folgt zwar nicht, daß nicht bis zu einem gewissen
Punkte ein vernünftiges Urtheil über Musik möglich sei oder daß die Ge¬
müthseindrücke nicht einen natürlichen Grund hätten, wohl aber, daß ohne be¬
friedigende Erkenntniß unmittelbar durch Gemüthsbewegungen die Schöpfung
und die Beurtheilung der größten musikalischen Kunstwerke ermöglicht wird.
Hieraus folgt 1) daß das Gemüth durch Reaction auf die empfangenen Ein¬
drücke ein Prüfstein des Schönen wird, uns also fast unmittelbar zur Erkennt¬
niß desselben verhilft; 2) daß die Reactionen desselben bei den verschiedenen
Menschen wesentlich übereinstimmende sein müssen, weil sonst auf die Dauer
kein übereinstimmendes Urtheil, sondern gänzliche Zerfahrenheit desselben
sich herausstellen würde; 3) daß die auf das Gemüth sich stützenden Urtheile
im Allgemeinen trügerisch sind, indem viele Menschen durch unbedeutende, aber
"neue und ungewohnte Kunstleistungen zu einer unwahren, sehr vergänglichen
Begeisterung hingerissen werden können. Bedenken wir aber die Nothwendig¬
keit einer besonderen musikalischen Anlage und Vorbildung, die Schwierigkeit,
sich den gemüthlichen, nicht blos den sinnlichen, Eindrücken ganz unbefangen
hinzugeben und endlich sich über die erlittenen Gemüthsbewegungen klar aus¬
zusprechen, so ist erklärlich, daß trotz der wesentlichen Uebereinstimmung der
Gemüthsreactiön nur wenige Menschen ein sicheres, auf die Dauer Stichhaltiges
Urtheil über Musik besitzen.
In der Thätigkeit des Gewissens wiederholt sich dasselbe mit dem Unter¬
schiede, daß hier ein Unterricht zwar, dock keine specielle künstlerische Vorbil¬
dung erforderlich ist und daß uns durch die Lehre Christi eine sichere Richt¬
schnur gegeben wurde. Wir wollen daher gern annehme», daß das durch unser
Gewissen erzeugte Urtheil über Recht und Unrecht, Sittlichkeit und Unsittlich-
keit ein weit sichereres sei, als jenes ästhetische, obgleich die Erinnerung an die
greulichen Herenprveesse und an so viele schreckliche Religionsverfolgungen wol
daran irre machen kann. Aber gewiß ist, daß nicht frömmelnde Redensarten,
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