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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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der Pflichten, welche die Umstände unserm Patriotismus auferlegen, zu ver¬
stehe" wissen." Offenbar war das eine Art von Kriegserklärung gegen das
Cabinet, die so plötzlich und unerwartet auftauchte. Herr Dedecker erklärte
gleich, daß die Annahme dieses Amendements ein Mißtrauensvotum sein
würde; ja er machte sogar eine Cabinetsfrage daraus, und äußerte sich, daß
er kein Verwaltungseommis, sondern ein wirklicher Minister sein wolle oder
alidanken werde. Er verlangte, daß die Kammer anerkenne, daß das jetzige
Ministerium dasjenige wäre, welches unter den gegenwärtigen Umständen
dem Lande am besten zusage. Das war so aufrichtig wie möglich gesprochen.
Von der Linken und von der Rechten ließen sich gewichtige Redner vernehmen.
Herr Verhaegcn sprach am offenherzigsten; er erklärte, daß er gegen die Adresse
stimmen werde, welches auch das Schicksal des Amendements sein würde; er
erkannte an, daß die Majorität der klerikalen Partei angehöre, und das Mini¬
sterium daher das Recht habe, im Sinne dieser Partei zu regieren; bis zum
äußersten aber würde er die Projecte bekämpfen, die seinen politischen Ueber¬
zeugungen entgegen wären, alle Handlungen, wodurch das Ministerium, mit
Verachtung der Gesetze, seinen Freunden dienen wolle. Gras, de Theur be¬
schwor die Kammer, Die Geschicke des Landes allein im Auge zu behalten,
und bei der kritischen Lage Europas patriotische Rücksicht auf die Stellung
Belgiens zu nehmen; er erinnerte an die lange ministerielle Krisis, deren
Product das Cabinet Dedecker war, wie gefährlich die Wiederholung einer
solchen Krisis sein würde", die vielleicht noch länger wie jene dauern könnte,
indem die Linke jetzt noch weniger wie damals im Stande wäre, ein Cabinet
zu bilden. Das endliche Resultat der Abstimmung war, daß sich 43 liberale
Stimmen für das Amendement, also für den Sturz des Ministeriums, und
48 Stimmen dagegen, und somit zu Gunsten des Ministeriunis, erklärten.
Ein Sieg war das nicht für das Ministerium, sondern vielmehr eine harte
Lehre hat es empfangen, mit derber Hand ist es aus dem zu frühzeitigen
Traume seiner Siegesgewißheit aufgerüttelt worden. Von den Ministern selbst
provocirt, bildet sich eine formidable Opposition. Ist eine ministerielle Majo¬
rität wirklich vorhanden? Herr Dedecker und seine Freunde haben sich zwei¬
felsohne diese Frage schon mit Angst und Bangen gestellt. Die fünf Stim¬
men Mehrheit sind der Politik der Rechten zuletzt nur in dem Sinne zuge¬
fallen, als die Deputirten von Gent und Mons, die sie dem Cabinet bringen,
ihr Mandat von liberalen Wählern empfangen haben. Das sind die Stützen
eines Ministeriums, welches vorgibt, der Ausdruck der Wünsche des Landes
zu sein: eine Minorität der Rechten, und einige Ueberläufer ohne persönlichen
und politischen Werth. Für die letztern ist die Lehre ebenso hart gewesen.
Im Vertrauen aus die Lauigkeit des öffentlichen Geistes, auf die Uneinigkeit,
die sich noch neulich unter der Linken gezeigt hatte, glaubten sie den Namen


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der Pflichten, welche die Umstände unserm Patriotismus auferlegen, zu ver¬
stehe» wissen." Offenbar war das eine Art von Kriegserklärung gegen das
Cabinet, die so plötzlich und unerwartet auftauchte. Herr Dedecker erklärte
gleich, daß die Annahme dieses Amendements ein Mißtrauensvotum sein
würde; ja er machte sogar eine Cabinetsfrage daraus, und äußerte sich, daß
er kein Verwaltungseommis, sondern ein wirklicher Minister sein wolle oder
alidanken werde. Er verlangte, daß die Kammer anerkenne, daß das jetzige
Ministerium dasjenige wäre, welches unter den gegenwärtigen Umständen
dem Lande am besten zusage. Das war so aufrichtig wie möglich gesprochen.
Von der Linken und von der Rechten ließen sich gewichtige Redner vernehmen.
Herr Verhaegcn sprach am offenherzigsten; er erklärte, daß er gegen die Adresse
stimmen werde, welches auch das Schicksal des Amendements sein würde; er
erkannte an, daß die Majorität der klerikalen Partei angehöre, und das Mini¬
sterium daher das Recht habe, im Sinne dieser Partei zu regieren; bis zum
äußersten aber würde er die Projecte bekämpfen, die seinen politischen Ueber¬
zeugungen entgegen wären, alle Handlungen, wodurch das Ministerium, mit
Verachtung der Gesetze, seinen Freunden dienen wolle. Gras, de Theur be¬
schwor die Kammer, Die Geschicke des Landes allein im Auge zu behalten,
und bei der kritischen Lage Europas patriotische Rücksicht auf die Stellung
Belgiens zu nehmen; er erinnerte an die lange ministerielle Krisis, deren
Product das Cabinet Dedecker war, wie gefährlich die Wiederholung einer
solchen Krisis sein würde«, die vielleicht noch länger wie jene dauern könnte,
indem die Linke jetzt noch weniger wie damals im Stande wäre, ein Cabinet
zu bilden. Das endliche Resultat der Abstimmung war, daß sich 43 liberale
Stimmen für das Amendement, also für den Sturz des Ministeriums, und
48 Stimmen dagegen, und somit zu Gunsten des Ministeriunis, erklärten.
Ein Sieg war das nicht für das Ministerium, sondern vielmehr eine harte
Lehre hat es empfangen, mit derber Hand ist es aus dem zu frühzeitigen
Traume seiner Siegesgewißheit aufgerüttelt worden. Von den Ministern selbst
provocirt, bildet sich eine formidable Opposition. Ist eine ministerielle Majo¬
rität wirklich vorhanden? Herr Dedecker und seine Freunde haben sich zwei¬
felsohne diese Frage schon mit Angst und Bangen gestellt. Die fünf Stim¬
men Mehrheit sind der Politik der Rechten zuletzt nur in dem Sinne zuge¬
fallen, als die Deputirten von Gent und Mons, die sie dem Cabinet bringen,
ihr Mandat von liberalen Wählern empfangen haben. Das sind die Stützen
eines Ministeriums, welches vorgibt, der Ausdruck der Wünsche des Landes
zu sein: eine Minorität der Rechten, und einige Ueberläufer ohne persönlichen
und politischen Werth. Für die letztern ist die Lehre ebenso hart gewesen.
Im Vertrauen aus die Lauigkeit des öffentlichen Geistes, auf die Uneinigkeit,
die sich noch neulich unter der Linken gezeigt hatte, glaubten sie den Namen


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[0163] der Pflichten, welche die Umstände unserm Patriotismus auferlegen, zu ver¬ stehe» wissen." Offenbar war das eine Art von Kriegserklärung gegen das Cabinet, die so plötzlich und unerwartet auftauchte. Herr Dedecker erklärte gleich, daß die Annahme dieses Amendements ein Mißtrauensvotum sein würde; ja er machte sogar eine Cabinetsfrage daraus, und äußerte sich, daß er kein Verwaltungseommis, sondern ein wirklicher Minister sein wolle oder alidanken werde. Er verlangte, daß die Kammer anerkenne, daß das jetzige Ministerium dasjenige wäre, welches unter den gegenwärtigen Umständen dem Lande am besten zusage. Das war so aufrichtig wie möglich gesprochen. Von der Linken und von der Rechten ließen sich gewichtige Redner vernehmen. Herr Verhaegcn sprach am offenherzigsten; er erklärte, daß er gegen die Adresse stimmen werde, welches auch das Schicksal des Amendements sein würde; er erkannte an, daß die Majorität der klerikalen Partei angehöre, und das Mini¬ sterium daher das Recht habe, im Sinne dieser Partei zu regieren; bis zum äußersten aber würde er die Projecte bekämpfen, die seinen politischen Ueber¬ zeugungen entgegen wären, alle Handlungen, wodurch das Ministerium, mit Verachtung der Gesetze, seinen Freunden dienen wolle. Gras, de Theur be¬ schwor die Kammer, Die Geschicke des Landes allein im Auge zu behalten, und bei der kritischen Lage Europas patriotische Rücksicht auf die Stellung Belgiens zu nehmen; er erinnerte an die lange ministerielle Krisis, deren Product das Cabinet Dedecker war, wie gefährlich die Wiederholung einer solchen Krisis sein würde«, die vielleicht noch länger wie jene dauern könnte, indem die Linke jetzt noch weniger wie damals im Stande wäre, ein Cabinet zu bilden. Das endliche Resultat der Abstimmung war, daß sich 43 liberale Stimmen für das Amendement, also für den Sturz des Ministeriums, und 48 Stimmen dagegen, und somit zu Gunsten des Ministeriunis, erklärten. Ein Sieg war das nicht für das Ministerium, sondern vielmehr eine harte Lehre hat es empfangen, mit derber Hand ist es aus dem zu frühzeitigen Traume seiner Siegesgewißheit aufgerüttelt worden. Von den Ministern selbst provocirt, bildet sich eine formidable Opposition. Ist eine ministerielle Majo¬ rität wirklich vorhanden? Herr Dedecker und seine Freunde haben sich zwei¬ felsohne diese Frage schon mit Angst und Bangen gestellt. Die fünf Stim¬ men Mehrheit sind der Politik der Rechten zuletzt nur in dem Sinne zuge¬ fallen, als die Deputirten von Gent und Mons, die sie dem Cabinet bringen, ihr Mandat von liberalen Wählern empfangen haben. Das sind die Stützen eines Ministeriums, welches vorgibt, der Ausdruck der Wünsche des Landes zu sein: eine Minorität der Rechten, und einige Ueberläufer ohne persönlichen und politischen Werth. Für die letztern ist die Lehre ebenso hart gewesen. Im Vertrauen aus die Lauigkeit des öffentlichen Geistes, auf die Uneinigkeit, die sich noch neulich unter der Linken gezeigt hatte, glaubten sie den Namen 20* > -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/163>, abgerufen am 25.08.2024.