Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.So beginnt David Strauß sein neues Werk, wiederum eine höchst Die vollständige Anschauung eines historischen Zeitalters gewinnen wir Die Glaubensverbesserung, wie sie im Anfang des Jahrhunderts angestrebt So beginnt David Strauß sein neues Werk, wiederum eine höchst Die vollständige Anschauung eines historischen Zeitalters gewinnen wir Die Glaubensverbesserung, wie sie im Anfang des Jahrhunderts angestrebt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101123"/> <p xml:id="ID_351"> So beginnt David Strauß sein neues Werk, wiederum eine höchst<lb/> dankenswerthe Bereicherung der deutschen Sittengeschichte. Es ist wunderlich,<lb/> was zuweilen das Publicum an seine Schriftsteller für Forderungen stellt.<lb/> Strauß hatte mit seinem Leben Jesu einen Feuerbrand in das Lager der Theo¬<lb/> logie geworfen, seine Dogmatik ging wenigstens ungefähr in derselben Richtung,<lb/> und nun verlangte man fortwährend neue revolutionäre Thaten und war sehr<lb/> unangenehm überrascht, als Strauß sich in gelehrte Detailstudien vertiefte, die<lb/> mit dem revolutionären Trieb der Zeit nicht das Geringste gemein hatten. So¬<lb/> bald in Deutschland irgendeine neue Bewegung entstand, rief der französische<lb/> Kritiker unsrer deutschen Zustände, Herr Taillandier: Wo ist denn Strauß?<lb/> Warum gibt er nicht sein Gutachten über diese neue Wendung der Dinge ab und<lb/> erfüllt damit die Verpflichtung, die er gegen das deutsche Publicum übernahm,<lb/> als er das Leben Jesu schrieb? Zum Theil, wenn auch nur indirect, hat Strauß<lb/> auf diese Fragen in seinem Märklin geantwortet. Er ist durchaus eine theoretische<lb/> Natur. Die religiösen Fragen, die in der Zeit seines ersten Auftretens das<lb/> Gemüth und die Einbildungskraft der Menge bewegten, waren für ihn nur<lb/> wissenschaftliche Probleme. Die Lösung, die er überhaupt geben konnte, hat<lb/> er bereits gegeben, und dieselbe aus das wirkliche Leben anzuwenden, konnte<lb/> ihm nicht einfallen, weil sie ihm selbst nicht klar war. Die Stellung, die er<lb/> in der revolutionären Entwicklung unsrer Tage einnimmt, ist fast eine zufällige.<lb/> Strauß ist eine viel zu keusche und zarte Natur, um ernsthaft in eine Bewegung<lb/> eingreifen zu können, die eine rücksichtslose und durchgreifende Hand verlangt.<lb/> Das Feld, auf das er sich in neuerer Zeit begeben hat, ist vielmehr seiner<lb/> Natur vollkommen angemessen. Er hat ein sehr feines Auge für einzelne<lb/> keine Züge deS Seelenlebens und einen ungewöhnlichen Scharfsinn, die Fäden<lb/> aufzufinden, welche dieselben mit der philosophischen Entwicklung der Zeit ver¬<lb/> binden.</p><lb/> <p xml:id="ID_352"> Die vollständige Anschauung eines historischen Zeitalters gewinnen wir<lb/> nur aus der detaillirten Darstellung, wie sie die eigentliche Geschichtschreibung<lb/> nicht geben kann; und da der historische Roman bei uns nicht gedeihen will,<lb/> so ist die biographische Entwicklung merkwürdiger Persönlichkeiten das einzige<lb/> Mittel, diese Seite der Geschichte zu ergänzen. Mancher Leser wird sich wun¬<lb/> dern, wie man einen an sich nicht bedeutenden Mann mit so großer Aus¬<lb/> führlichkeit behandeln darf; aber die Bedeutung ist etwas Relatives; grade<lb/> seine Schwächen machen Frischlin zum getreuen Abbild seiner gleichfalls ab-<lb/> geschwächten Zeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_353" next="#ID_354"> Die Glaubensverbesserung, wie sie im Anfang des Jahrhunderts angestrebt<lb/> wurde, hatte ihre productive Kraft verloren und war in dem Pfuhl theologischer<lb/> Streitigkeit« versunken; dagegen versuchte der Humanismus, der zuerst von<lb/> der Reformation in Schatten gestellt und beeinträchtigt war, sich von dem</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
So beginnt David Strauß sein neues Werk, wiederum eine höchst
dankenswerthe Bereicherung der deutschen Sittengeschichte. Es ist wunderlich,
was zuweilen das Publicum an seine Schriftsteller für Forderungen stellt.
Strauß hatte mit seinem Leben Jesu einen Feuerbrand in das Lager der Theo¬
logie geworfen, seine Dogmatik ging wenigstens ungefähr in derselben Richtung,
und nun verlangte man fortwährend neue revolutionäre Thaten und war sehr
unangenehm überrascht, als Strauß sich in gelehrte Detailstudien vertiefte, die
mit dem revolutionären Trieb der Zeit nicht das Geringste gemein hatten. So¬
bald in Deutschland irgendeine neue Bewegung entstand, rief der französische
Kritiker unsrer deutschen Zustände, Herr Taillandier: Wo ist denn Strauß?
Warum gibt er nicht sein Gutachten über diese neue Wendung der Dinge ab und
erfüllt damit die Verpflichtung, die er gegen das deutsche Publicum übernahm,
als er das Leben Jesu schrieb? Zum Theil, wenn auch nur indirect, hat Strauß
auf diese Fragen in seinem Märklin geantwortet. Er ist durchaus eine theoretische
Natur. Die religiösen Fragen, die in der Zeit seines ersten Auftretens das
Gemüth und die Einbildungskraft der Menge bewegten, waren für ihn nur
wissenschaftliche Probleme. Die Lösung, die er überhaupt geben konnte, hat
er bereits gegeben, und dieselbe aus das wirkliche Leben anzuwenden, konnte
ihm nicht einfallen, weil sie ihm selbst nicht klar war. Die Stellung, die er
in der revolutionären Entwicklung unsrer Tage einnimmt, ist fast eine zufällige.
Strauß ist eine viel zu keusche und zarte Natur, um ernsthaft in eine Bewegung
eingreifen zu können, die eine rücksichtslose und durchgreifende Hand verlangt.
Das Feld, auf das er sich in neuerer Zeit begeben hat, ist vielmehr seiner
Natur vollkommen angemessen. Er hat ein sehr feines Auge für einzelne
keine Züge deS Seelenlebens und einen ungewöhnlichen Scharfsinn, die Fäden
aufzufinden, welche dieselben mit der philosophischen Entwicklung der Zeit ver¬
binden.
Die vollständige Anschauung eines historischen Zeitalters gewinnen wir
nur aus der detaillirten Darstellung, wie sie die eigentliche Geschichtschreibung
nicht geben kann; und da der historische Roman bei uns nicht gedeihen will,
so ist die biographische Entwicklung merkwürdiger Persönlichkeiten das einzige
Mittel, diese Seite der Geschichte zu ergänzen. Mancher Leser wird sich wun¬
dern, wie man einen an sich nicht bedeutenden Mann mit so großer Aus¬
führlichkeit behandeln darf; aber die Bedeutung ist etwas Relatives; grade
seine Schwächen machen Frischlin zum getreuen Abbild seiner gleichfalls ab-
geschwächten Zeit.
Die Glaubensverbesserung, wie sie im Anfang des Jahrhunderts angestrebt
wurde, hatte ihre productive Kraft verloren und war in dem Pfuhl theologischer
Streitigkeit« versunken; dagegen versuchte der Humanismus, der zuerst von
der Reformation in Schatten gestellt und beeinträchtigt war, sich von dem
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