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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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ligen Vorfechter dieser Idee mit ihrer flachen rationalistischen Weisheit waren
nicht im Stande, die starken Sympathien und Borurtheile eines Mannes zu
überwinden, der ihnen an politischer Bildung wie an Naturkraft so bedeutend
überlegen war. Er sollte seinen Stand opfern, um einem neuen politischen
Element Raum zu geben, von dem man sich damals noch keine bestimmte Vor¬
stellung machen konnte. Dazu kam seine entschieden preußische Gesinnung.
Die Vorkämpfer des .Liberalismus waren meistens in Süddeutschland, und
wenn ihnen auch ihr Verstand zeigte, daß Preußen bei der Entwicklung
Deutschlands nicht zu umgehen sei, so war ihr Herz doch keineswegs auf
Seite dieses Staats. Dieser Punkt war auch der Gegenstand fortwährender
Streitigkeiten mit Gagern, und wir machen namentlich auf S. 2ö0--234 auf¬
merksam, wo das Preußenthum gegen den weltbürgerlichen Diplomaten auf
eine sehr entschiedene und erfreuliche Weise vertreten ist. -- Stein hat in dem
Adel seines Landes, als er am Ruder stand, einzelne sehr verächtliche Erschei¬
nungen wahrgenommen; aber die edlen Männer, von denen vorzugsweise die
Befreiung Preußens ausging, gehörten, so weit sie mit ihm in Berührung
kamen, doch meistens dem Adel an. Den Bürgerstand konnte er als Masse
achten; in der äußern Erscheinung war wenig, was ihn fesseln konnte. Von
den Bürgerlichen, die damals in der Politik eine große Rolle spielten, stand
ihm Niebuhr am nächsten (jüngere Männer wie Arndt sah er mehr als Unter¬
gebene an), und dieser wirklich große Mann hatte so viel kleine Seiten, daß
Stein sich seiner Ueberlegenheit bewußt werden und sie als Ueberlegenheit
seines Standes empfinden konnte. Der Anlage nach war Niebuhr der ideale
Typus eines edlen Bürgersmannes; aber diese Anlage hatte nicht seine ganze
Erscheinung erfüllt. Obgleich er klar erkannte, daß in der bürgerlichen folge¬
richtigen Arbeit und in der Unabhängigkeit derselben die einzige Bürgschaft
für die gedeihliche Entwicklung des Staats lag, so konnte er sich doch jenes
eigenthümlichen Gefühls nicht erwehren, das uns Goethe in Wilhelm Meister
schildert: er hatte in Beziehung auf seinen Stand ein gewisses Bewußtsein der
Inferiorität und war daher argwöhnisch, mißtrauisch gegen alle Welt, fort¬
während reizbar und verstimmt und geneigt, an der Möglichkeit eines gedeih¬
lichen Ausgangs zu verzweifeln. Stein hatte fortwährend damit zu thun, ihn,
den er aufrichtig schätzte und liebte, aufzurichten und in seinem wankenden
Glauben zu befestigen. "Ich kann.eS mir nicht verhehlen," schreibt Niebuhr,
24. Februar 182i, "daß der Liberalismus ein Kreuzige allgemein über mich
ausruft, und ich erfahre bei allen Gelegenheiten einen allgemein"" Eonsens
unserer Gelehrten, mich wie einen Ausgeschlossenen und in den Bann Ge¬
thanen zu behandeln." -- "Der Ausdruck von Gram und Trübsinn," ant¬
wortete ihm Stein, "der in Ihrem Schreiben, mein verehrter und edler Freund,
herrscht, betrübt mich. Bekämpfen Sie diesen Hang zur Schwermuth und
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ligen Vorfechter dieser Idee mit ihrer flachen rationalistischen Weisheit waren
nicht im Stande, die starken Sympathien und Borurtheile eines Mannes zu
überwinden, der ihnen an politischer Bildung wie an Naturkraft so bedeutend
überlegen war. Er sollte seinen Stand opfern, um einem neuen politischen
Element Raum zu geben, von dem man sich damals noch keine bestimmte Vor¬
stellung machen konnte. Dazu kam seine entschieden preußische Gesinnung.
Die Vorkämpfer des .Liberalismus waren meistens in Süddeutschland, und
wenn ihnen auch ihr Verstand zeigte, daß Preußen bei der Entwicklung
Deutschlands nicht zu umgehen sei, so war ihr Herz doch keineswegs auf
Seite dieses Staats. Dieser Punkt war auch der Gegenstand fortwährender
Streitigkeiten mit Gagern, und wir machen namentlich auf S. 2ö0—234 auf¬
merksam, wo das Preußenthum gegen den weltbürgerlichen Diplomaten auf
eine sehr entschiedene und erfreuliche Weise vertreten ist. — Stein hat in dem
Adel seines Landes, als er am Ruder stand, einzelne sehr verächtliche Erschei¬
nungen wahrgenommen; aber die edlen Männer, von denen vorzugsweise die
Befreiung Preußens ausging, gehörten, so weit sie mit ihm in Berührung
kamen, doch meistens dem Adel an. Den Bürgerstand konnte er als Masse
achten; in der äußern Erscheinung war wenig, was ihn fesseln konnte. Von
den Bürgerlichen, die damals in der Politik eine große Rolle spielten, stand
ihm Niebuhr am nächsten (jüngere Männer wie Arndt sah er mehr als Unter¬
gebene an), und dieser wirklich große Mann hatte so viel kleine Seiten, daß
Stein sich seiner Ueberlegenheit bewußt werden und sie als Ueberlegenheit
seines Standes empfinden konnte. Der Anlage nach war Niebuhr der ideale
Typus eines edlen Bürgersmannes; aber diese Anlage hatte nicht seine ganze
Erscheinung erfüllt. Obgleich er klar erkannte, daß in der bürgerlichen folge¬
richtigen Arbeit und in der Unabhängigkeit derselben die einzige Bürgschaft
für die gedeihliche Entwicklung des Staats lag, so konnte er sich doch jenes
eigenthümlichen Gefühls nicht erwehren, das uns Goethe in Wilhelm Meister
schildert: er hatte in Beziehung auf seinen Stand ein gewisses Bewußtsein der
Inferiorität und war daher argwöhnisch, mißtrauisch gegen alle Welt, fort¬
während reizbar und verstimmt und geneigt, an der Möglichkeit eines gedeih¬
lichen Ausgangs zu verzweifeln. Stein hatte fortwährend damit zu thun, ihn,
den er aufrichtig schätzte und liebte, aufzurichten und in seinem wankenden
Glauben zu befestigen. „Ich kann.eS mir nicht verhehlen," schreibt Niebuhr,
24. Februar 182i, „daß der Liberalismus ein Kreuzige allgemein über mich
ausruft, und ich erfahre bei allen Gelegenheiten einen allgemein«» Eonsens
unserer Gelehrten, mich wie einen Ausgeschlossenen und in den Bann Ge¬
thanen zu behandeln." — „Der Ausdruck von Gram und Trübsinn," ant¬
wortete ihm Stein, „der in Ihrem Schreiben, mein verehrter und edler Freund,
herrscht, betrübt mich. Bekämpfen Sie diesen Hang zur Schwermuth und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/11>, abgerufen am 23.07.2024.