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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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vollständigsten ausgesprochen hat und dem an getreuer Naturbeobachtung viel¬
leicht kein andrer Roman gleich steht. Wir werden durch eine Menge kleiner
Züge von blendender Wahrheit überrascht; aber je bestimmter die Umrisse sind,
desto greller tritt uns die Unsittlichkeit der Lebensauffassung entgegen. Das
Buch ist eins der unsittlichsten, die in Deutschland geschrieben sind, ebenso
unsittlich, als G. Sands Jndiana. Siebenkäs ist ein Genie, das im Be¬
wußtsein seiner Genialität alle Pflichten des wirklichen Lebens über den Hausen
wirft. Leichtsinnig vertauscht er seinen Namen mit einem andern und macht
dadurch sein.Bürgerrecht in der wirklichen Welt zweifelhaft; ebenso leichtsinnig
schließt er eine unpassende Ehe; mit frevelhaftem Leichtsinn spielt er mit dem
Glück des Wesens, an das ihn nun die Pflicht bindet, blos um zu zeigen, daß
das Genie das Vorrecht habe, den Ueberlieferungen, Sitten und Gesetzen der
Gesellschaft gegenüber den Sonderling zu spielen, und als nun infolge aller
dieser Verirrungen ihm die Ehe eine unerträgliche Last geworden ist, wirft er
sie ohne Bedenken ab, indem er sich sür todt ausgibt und unter einem andern
Namen eine andre heirathet, wie er es auch seiner Frau überläßt, eine andre
Ehe einzugehen. Dies Verhalten, das im bürgerlichen Leben ins Zuchthaus
führt, wird als das wahrhaft geniale, als das dem freien Menschen geziemende
dargestellt. Bei dieser excentrischen Subjectivität des Pflichtbegriffs wird man
den Haß Jean Pauls gegen die Kantsche Philosophie begreifen; man wird
aber auch einsehen, wie nothwendig es war, daß diese Philosophie mit uner¬
bittlicher Strenge einem Zeitalter, das allen innern Halt verloren hatte, den
kategorischen Imperativ der Pflicht einschärfte. Der Siebenkäs ist ein augen¬
scheinliches Zeugniß für die vollständige Verwahrlosung, zu welcher endlich
die Subjectivität der schönen Seelen, der hohen Menschen, der Genies :c.
kurz die Losreißung von dem Boden des Gegebenen führen mußte.

Bei diesen Arbeiten hatte Jean Paul stets das Hauptwerk seines Lebens
im Auge, den Titan, der die höchsten Spitzen des Ideals vergegenwärtigen
sollte. Da die Methode seines Schaffens bereits vor dem Beginn desselben
fertig war, so ist es hier am Ort, dieselbe näher ins Auge zu fassen.

Man wird zuweilen durch die bunte Mannigfaltigkeit seiner Figuren in
Verwirrung gesetzt und glaubt ihm einen gewissen Reichthum zusprechen zu
müssen, allein dieser Reichthum ist uur auf der Oberfläche. Zwar sind die
Genrebilder, die er zur Staffage benutzt, mit außerordentlicher Virtuosität aus¬
geführt und verrathen ein mikroskopisch geschärftes Auge für die Außenseite des
Lebens. In diesen Genrebildern ist aber keine eigentlich psychologische Ent¬
wicklung, sie sind ohne innere Geschichte und bewegen sich lediglich im Gebiet
der Erscheinung. Diejenigen Charaktere dagegen, bei denen eine Analyse uno
Entwicklung stattfindet, sind trotz des umfassenden empirischen Materials, das
in sie verwebt ist, nur abgelöste Fragmente aus des Dichters eigner Natur.


vollständigsten ausgesprochen hat und dem an getreuer Naturbeobachtung viel¬
leicht kein andrer Roman gleich steht. Wir werden durch eine Menge kleiner
Züge von blendender Wahrheit überrascht; aber je bestimmter die Umrisse sind,
desto greller tritt uns die Unsittlichkeit der Lebensauffassung entgegen. Das
Buch ist eins der unsittlichsten, die in Deutschland geschrieben sind, ebenso
unsittlich, als G. Sands Jndiana. Siebenkäs ist ein Genie, das im Be¬
wußtsein seiner Genialität alle Pflichten des wirklichen Lebens über den Hausen
wirft. Leichtsinnig vertauscht er seinen Namen mit einem andern und macht
dadurch sein.Bürgerrecht in der wirklichen Welt zweifelhaft; ebenso leichtsinnig
schließt er eine unpassende Ehe; mit frevelhaftem Leichtsinn spielt er mit dem
Glück des Wesens, an das ihn nun die Pflicht bindet, blos um zu zeigen, daß
das Genie das Vorrecht habe, den Ueberlieferungen, Sitten und Gesetzen der
Gesellschaft gegenüber den Sonderling zu spielen, und als nun infolge aller
dieser Verirrungen ihm die Ehe eine unerträgliche Last geworden ist, wirft er
sie ohne Bedenken ab, indem er sich sür todt ausgibt und unter einem andern
Namen eine andre heirathet, wie er es auch seiner Frau überläßt, eine andre
Ehe einzugehen. Dies Verhalten, das im bürgerlichen Leben ins Zuchthaus
führt, wird als das wahrhaft geniale, als das dem freien Menschen geziemende
dargestellt. Bei dieser excentrischen Subjectivität des Pflichtbegriffs wird man
den Haß Jean Pauls gegen die Kantsche Philosophie begreifen; man wird
aber auch einsehen, wie nothwendig es war, daß diese Philosophie mit uner¬
bittlicher Strenge einem Zeitalter, das allen innern Halt verloren hatte, den
kategorischen Imperativ der Pflicht einschärfte. Der Siebenkäs ist ein augen¬
scheinliches Zeugniß für die vollständige Verwahrlosung, zu welcher endlich
die Subjectivität der schönen Seelen, der hohen Menschen, der Genies :c.
kurz die Losreißung von dem Boden des Gegebenen führen mußte.

Bei diesen Arbeiten hatte Jean Paul stets das Hauptwerk seines Lebens
im Auge, den Titan, der die höchsten Spitzen des Ideals vergegenwärtigen
sollte. Da die Methode seines Schaffens bereits vor dem Beginn desselben
fertig war, so ist es hier am Ort, dieselbe näher ins Auge zu fassen.

Man wird zuweilen durch die bunte Mannigfaltigkeit seiner Figuren in
Verwirrung gesetzt und glaubt ihm einen gewissen Reichthum zusprechen zu
müssen, allein dieser Reichthum ist uur auf der Oberfläche. Zwar sind die
Genrebilder, die er zur Staffage benutzt, mit außerordentlicher Virtuosität aus¬
geführt und verrathen ein mikroskopisch geschärftes Auge für die Außenseite des
Lebens. In diesen Genrebildern ist aber keine eigentlich psychologische Ent¬
wicklung, sie sind ohne innere Geschichte und bewegen sich lediglich im Gebiet
der Erscheinung. Diejenigen Charaktere dagegen, bei denen eine Analyse uno
Entwicklung stattfindet, sind trotz des umfassenden empirischen Materials, das
in sie verwebt ist, nur abgelöste Fragmente aus des Dichters eigner Natur.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/94>, abgerufen am 04.07.2024.