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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Die Geschichte WullenweverS gehört unstreitig zu den interessantesten Be¬
gebenheiten dieser Art. Die Entwicklung des deutschen Bürgerthums, die Re¬
formation, die Machtstellung gegen das Ausland, das alles krystallistrt sich in
diesem merkwürdigen Ereigniß zu einer Erscheinung, deren gründliche Analyse
uns über den Organismus des Lebens die bedeutendsten Aufschlüsse gibt. In
früherer Zeit, wo die nationalen Bestrebungen des Kaiserthums und der
Ritterschaft vorzugsweise das Interesse der Geschichtschreiber erregten, vernach¬
lässigte man diese Bewegungen innerhalb einer Volköclasse, die uns zu Nahe
stand, um uns in romantischem Lichte zu erscheinen; im gegenwärtigen Augen¬
blick, wo man zu der Erkenntniß gekommen ist, daß die reale Entwicklung
Deutschlands wesentlich mit der Entwicklung des Bürgerthums zusammenfällt,
ist man im Gegentheil geneigt, diesen Begebenheiten eine künstliche romantische
Färbung zu geben. Eine solche Aufgabe konnte sich der berühmte Historiker,
dem wir diese neue Bereicherung unsrer Literatur verdanken, nicht stellen, im
Gegentheil verliert bei seiner gründlichen Detailforschung sein Held sehr viel
von dem poetischen Nimbus, mit dem die Sympathie neuerer Schriftsteller
ihn umgeben hat. Wir befinden uns in dem Werk in der reinsten Prosa,
aber in einer Prosa, die so klar und durchsichtig und dabei von einer so con-
creten Fülle ist, daß uns die Zeit wie unmittelbare Gegenwart erscheint.

Die nächste Veranlassung des Werks war eine äußerliche. Bei seinen
Vorstudien zur Geschichte Schleswig-Holsteins stieß Herr Waitz auf eine
Menge von Ackerstücken, die auf die Geschichte Lübecks während der Reforma¬
tion ein neues Licht warfen; er suchte nach derselben Richtung weiter und
bald drängte sich ihm das Material so massenhaft und vollständig zu, daß er
gewissermaßen die Verpflichtung fühlte, es zur wissenschaftlichen Aufklärung
jener Zeit zu verwerthen. An eine vollständige Herausgabe der Urkunden war
nicht zu denken; eine bloße Benutzung derselben, zu einer historischen Skizze
wäre aber auch ein ungenügender Gewinn gewesen. Zudem bietet der Gegen¬
stand von selbst eine so natürliche Abrundung, daß er sich wie ein dramatisches
Ganze behandeln läßt. So wählte nun der Verfasser den Mittelweg, zuerst
eine vollständige, zusammenhängende Erzählung zugeben und ein Urkundenbuch
hinzuzufügen, welches zugleich die kritischen Untersuchungen enthielt. Die
Gediegenheit seiner kritischen Methode ist aus seinen frühern Werken bereits
so allgemein anerkannt, daß sie unsres Lobes nicht bedarf. Von der Dar¬
stellung darf man nichts Pikantes erwarten, sie ist ruhig, ernst und geht in
natürlichem Flusse weiter. Wir behalten uns vor, nach Vollendung deS
Werks von dem Gegenstand, der sich durch seine zahlreichen Beziehungen zur
Gegenwart auch zu einer Skizze in unsern Blättern eignet, einen Auszug
zu geben.

Nicht minder lobenswerth ist das Unternehmen von Cornelius, und eS


Die Geschichte WullenweverS gehört unstreitig zu den interessantesten Be¬
gebenheiten dieser Art. Die Entwicklung des deutschen Bürgerthums, die Re¬
formation, die Machtstellung gegen das Ausland, das alles krystallistrt sich in
diesem merkwürdigen Ereigniß zu einer Erscheinung, deren gründliche Analyse
uns über den Organismus des Lebens die bedeutendsten Aufschlüsse gibt. In
früherer Zeit, wo die nationalen Bestrebungen des Kaiserthums und der
Ritterschaft vorzugsweise das Interesse der Geschichtschreiber erregten, vernach¬
lässigte man diese Bewegungen innerhalb einer Volköclasse, die uns zu Nahe
stand, um uns in romantischem Lichte zu erscheinen; im gegenwärtigen Augen¬
blick, wo man zu der Erkenntniß gekommen ist, daß die reale Entwicklung
Deutschlands wesentlich mit der Entwicklung des Bürgerthums zusammenfällt,
ist man im Gegentheil geneigt, diesen Begebenheiten eine künstliche romantische
Färbung zu geben. Eine solche Aufgabe konnte sich der berühmte Historiker,
dem wir diese neue Bereicherung unsrer Literatur verdanken, nicht stellen, im
Gegentheil verliert bei seiner gründlichen Detailforschung sein Held sehr viel
von dem poetischen Nimbus, mit dem die Sympathie neuerer Schriftsteller
ihn umgeben hat. Wir befinden uns in dem Werk in der reinsten Prosa,
aber in einer Prosa, die so klar und durchsichtig und dabei von einer so con-
creten Fülle ist, daß uns die Zeit wie unmittelbare Gegenwart erscheint.

Die nächste Veranlassung des Werks war eine äußerliche. Bei seinen
Vorstudien zur Geschichte Schleswig-Holsteins stieß Herr Waitz auf eine
Menge von Ackerstücken, die auf die Geschichte Lübecks während der Reforma¬
tion ein neues Licht warfen; er suchte nach derselben Richtung weiter und
bald drängte sich ihm das Material so massenhaft und vollständig zu, daß er
gewissermaßen die Verpflichtung fühlte, es zur wissenschaftlichen Aufklärung
jener Zeit zu verwerthen. An eine vollständige Herausgabe der Urkunden war
nicht zu denken; eine bloße Benutzung derselben, zu einer historischen Skizze
wäre aber auch ein ungenügender Gewinn gewesen. Zudem bietet der Gegen¬
stand von selbst eine so natürliche Abrundung, daß er sich wie ein dramatisches
Ganze behandeln läßt. So wählte nun der Verfasser den Mittelweg, zuerst
eine vollständige, zusammenhängende Erzählung zugeben und ein Urkundenbuch
hinzuzufügen, welches zugleich die kritischen Untersuchungen enthielt. Die
Gediegenheit seiner kritischen Methode ist aus seinen frühern Werken bereits
so allgemein anerkannt, daß sie unsres Lobes nicht bedarf. Von der Dar¬
stellung darf man nichts Pikantes erwarten, sie ist ruhig, ernst und geht in
natürlichem Flusse weiter. Wir behalten uns vor, nach Vollendung deS
Werks von dem Gegenstand, der sich durch seine zahlreichen Beziehungen zur
Gegenwart auch zu einer Skizze in unsern Blättern eignet, einen Auszug
zu geben.

Nicht minder lobenswerth ist das Unternehmen von Cornelius, und eS


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[0462] Die Geschichte WullenweverS gehört unstreitig zu den interessantesten Be¬ gebenheiten dieser Art. Die Entwicklung des deutschen Bürgerthums, die Re¬ formation, die Machtstellung gegen das Ausland, das alles krystallistrt sich in diesem merkwürdigen Ereigniß zu einer Erscheinung, deren gründliche Analyse uns über den Organismus des Lebens die bedeutendsten Aufschlüsse gibt. In früherer Zeit, wo die nationalen Bestrebungen des Kaiserthums und der Ritterschaft vorzugsweise das Interesse der Geschichtschreiber erregten, vernach¬ lässigte man diese Bewegungen innerhalb einer Volköclasse, die uns zu Nahe stand, um uns in romantischem Lichte zu erscheinen; im gegenwärtigen Augen¬ blick, wo man zu der Erkenntniß gekommen ist, daß die reale Entwicklung Deutschlands wesentlich mit der Entwicklung des Bürgerthums zusammenfällt, ist man im Gegentheil geneigt, diesen Begebenheiten eine künstliche romantische Färbung zu geben. Eine solche Aufgabe konnte sich der berühmte Historiker, dem wir diese neue Bereicherung unsrer Literatur verdanken, nicht stellen, im Gegentheil verliert bei seiner gründlichen Detailforschung sein Held sehr viel von dem poetischen Nimbus, mit dem die Sympathie neuerer Schriftsteller ihn umgeben hat. Wir befinden uns in dem Werk in der reinsten Prosa, aber in einer Prosa, die so klar und durchsichtig und dabei von einer so con- creten Fülle ist, daß uns die Zeit wie unmittelbare Gegenwart erscheint. Die nächste Veranlassung des Werks war eine äußerliche. Bei seinen Vorstudien zur Geschichte Schleswig-Holsteins stieß Herr Waitz auf eine Menge von Ackerstücken, die auf die Geschichte Lübecks während der Reforma¬ tion ein neues Licht warfen; er suchte nach derselben Richtung weiter und bald drängte sich ihm das Material so massenhaft und vollständig zu, daß er gewissermaßen die Verpflichtung fühlte, es zur wissenschaftlichen Aufklärung jener Zeit zu verwerthen. An eine vollständige Herausgabe der Urkunden war nicht zu denken; eine bloße Benutzung derselben, zu einer historischen Skizze wäre aber auch ein ungenügender Gewinn gewesen. Zudem bietet der Gegen¬ stand von selbst eine so natürliche Abrundung, daß er sich wie ein dramatisches Ganze behandeln läßt. So wählte nun der Verfasser den Mittelweg, zuerst eine vollständige, zusammenhängende Erzählung zugeben und ein Urkundenbuch hinzuzufügen, welches zugleich die kritischen Untersuchungen enthielt. Die Gediegenheit seiner kritischen Methode ist aus seinen frühern Werken bereits so allgemein anerkannt, daß sie unsres Lobes nicht bedarf. Von der Dar¬ stellung darf man nichts Pikantes erwarten, sie ist ruhig, ernst und geht in natürlichem Flusse weiter. Wir behalten uns vor, nach Vollendung deS Werks von dem Gegenstand, der sich durch seine zahlreichen Beziehungen zur Gegenwart auch zu einer Skizze in unsern Blättern eignet, einen Auszug zu geben. Nicht minder lobenswerth ist das Unternehmen von Cornelius, und eS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/462>, abgerufen am 22.12.2024.