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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Die Frage, ob man die Geschichte überhaupt poetisch verwerthen darf, wollen
wir hier als eine offene betrachten, da sie eine weitläufige Auseinandersetzung
erfordern würde, aber wenn Gervinus in seinem Werke über Shakespeare dem
Theaterdichter das Recht zuschreibt, die Geschichte zu verarbeiten, so ist nicht
einzusehen, warum er es dem Romanschreil'er abspricht, umsoweniger, da
dem letztern unendlich reichere Mittel zu Gebote stehen, der historischen Wahr¬
heit nahe zu kommen.

Gewiß wird es bei der Würdigung der politischen Geschichte des 19. Jahr¬
hunderts wenig darauf ankommen, ob man über die Novellisten der Zeit ein
richtiges oder ein falsches Urtheil hat; aber wozu diese ganze Episode? Wollte
Gervinus seiner Abneigung gegen W. Scott Luft machen, so gab es dazu
hundert andere Mittel. In dieses Buch gehört es ebensowenig, als die
DiScusston über Schellings Naturphilosophie.

Entschädigt werden wir durch das folgende Capitel über Oestreich, von
dem wir bereits in diesen Blättern einen Auszug gegeben haben. Was uns
in demselben hauptsächlich einnimmt, ist der männliche, edle Freimuth, die
kühne Rücksichtslosigkeit, die jedes Ding beim rechten Namen nennt. Hier
hätten wir nun gern eine ausführlichere Darstellung, denn über manche Punkte
geht der Historiker zu leicht hinweg, aber das Ganze macht einen überzeugen¬
den, mächtigen Eindruck, der selbst durch Nachlässigkeiten wie die folgende nicht
verwischt wird: "Seit ihn (Metternich) Napoleon ins Angesicht von England
bestochen nannte (in dem Augenblick, wo andere gesehen haben wollten, wie
er von Rußland durch die Herzogin von Sagan bestochen ward), wie oft sind
nicht die Summen genannt worden!, die er als einen Sold für Privatberichte
von den russischen Kaisern mit Vorwissen des seinen empfangen haben sollte
u. s. w." -- Es war grade die Ausgabe des Historikers, zu untersuchen, ob
diese Gerüchte gegründet oder ungegründet waren, denn die Aufzählung von
leeren Gerüchten gehört nicht in die Geschichte.

Zum- Schluß noch folgende Bemerkung. Wir haben lange Anstand ge¬
nommen das Buch zu besprechen, und wir sühlen auch jetzt ein gewisses Mi߬
behagen. Voraussichtlich werden die Blätter der Reaction darüber herfallen
und die liberalen Blätter könnten ihnen die Mühe überlassen. Allein wir
haben dies Bedenken überwunden, denn es handelt sich nicht um ein fertiges,
sondern um ein beginnendes Buch. Der Verleger kündigt auf dem Umschlage
das jährliche Erscheinen von zwei neuen Bänden an. Möge ein günstiger
Stern den Schriftsteller, der sich ein so außerordentliches Verdienst um die
deutsche Literatur erworben hat, dem wir für die Aufklärung unserer Begriffe
nie genug Dank sagen können, vor dieser Schnellfertigkeit bewahren. Gervi¬
nus besitzt eine ungewöhnliche Productivität und eine Arbeitskraft ohne Gleichen;
aber niemand kann über das Maß hinausgehen, das dem Menschen gesetzt


Die Frage, ob man die Geschichte überhaupt poetisch verwerthen darf, wollen
wir hier als eine offene betrachten, da sie eine weitläufige Auseinandersetzung
erfordern würde, aber wenn Gervinus in seinem Werke über Shakespeare dem
Theaterdichter das Recht zuschreibt, die Geschichte zu verarbeiten, so ist nicht
einzusehen, warum er es dem Romanschreil'er abspricht, umsoweniger, da
dem letztern unendlich reichere Mittel zu Gebote stehen, der historischen Wahr¬
heit nahe zu kommen.

Gewiß wird es bei der Würdigung der politischen Geschichte des 19. Jahr¬
hunderts wenig darauf ankommen, ob man über die Novellisten der Zeit ein
richtiges oder ein falsches Urtheil hat; aber wozu diese ganze Episode? Wollte
Gervinus seiner Abneigung gegen W. Scott Luft machen, so gab es dazu
hundert andere Mittel. In dieses Buch gehört es ebensowenig, als die
DiScusston über Schellings Naturphilosophie.

Entschädigt werden wir durch das folgende Capitel über Oestreich, von
dem wir bereits in diesen Blättern einen Auszug gegeben haben. Was uns
in demselben hauptsächlich einnimmt, ist der männliche, edle Freimuth, die
kühne Rücksichtslosigkeit, die jedes Ding beim rechten Namen nennt. Hier
hätten wir nun gern eine ausführlichere Darstellung, denn über manche Punkte
geht der Historiker zu leicht hinweg, aber das Ganze macht einen überzeugen¬
den, mächtigen Eindruck, der selbst durch Nachlässigkeiten wie die folgende nicht
verwischt wird: „Seit ihn (Metternich) Napoleon ins Angesicht von England
bestochen nannte (in dem Augenblick, wo andere gesehen haben wollten, wie
er von Rußland durch die Herzogin von Sagan bestochen ward), wie oft sind
nicht die Summen genannt worden!, die er als einen Sold für Privatberichte
von den russischen Kaisern mit Vorwissen des seinen empfangen haben sollte
u. s. w." — Es war grade die Ausgabe des Historikers, zu untersuchen, ob
diese Gerüchte gegründet oder ungegründet waren, denn die Aufzählung von
leeren Gerüchten gehört nicht in die Geschichte.

Zum- Schluß noch folgende Bemerkung. Wir haben lange Anstand ge¬
nommen das Buch zu besprechen, und wir sühlen auch jetzt ein gewisses Mi߬
behagen. Voraussichtlich werden die Blätter der Reaction darüber herfallen
und die liberalen Blätter könnten ihnen die Mühe überlassen. Allein wir
haben dies Bedenken überwunden, denn es handelt sich nicht um ein fertiges,
sondern um ein beginnendes Buch. Der Verleger kündigt auf dem Umschlage
das jährliche Erscheinen von zwei neuen Bänden an. Möge ein günstiger
Stern den Schriftsteller, der sich ein so außerordentliches Verdienst um die
deutsche Literatur erworben hat, dem wir für die Aufklärung unserer Begriffe
nie genug Dank sagen können, vor dieser Schnellfertigkeit bewahren. Gervi¬
nus besitzt eine ungewöhnliche Productivität und eine Arbeitskraft ohne Gleichen;
aber niemand kann über das Maß hinausgehen, das dem Menschen gesetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/460>, abgerufen am 22.12.2024.