Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.öfters einen andern Anschein nahm, so hätte Gervinus nicht nöthig gehabt, Im dritten Abschnitt erhalten wir eine kurze Uebersicht der europäischen öfters einen andern Anschein nahm, so hätte Gervinus nicht nöthig gehabt, Im dritten Abschnitt erhalten wir eine kurze Uebersicht der europäischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100378"/> <p xml:id="ID_1314" prev="#ID_1313"> öfters einen andern Anschein nahm, so hätte Gervinus nicht nöthig gehabt,<lb/> aus die Möglichkeit roh egoistischer Einflüsse hinzuweisen. Wir haben diese<lb/> Bemerkung mit ebenso großem Bedauern gelesen, als die ähnliche über Gneisenau;<lb/> die einzige größere Stelle, wo von diesem edlen Mann gesprochen wird, und<lb/> zwar auf eine Weise, die des Gegenstandes nicht würdig ist. Wenn man aus<lb/> einzelnen hingeworfenen Aeußerungen sich den Charakter eines großen Mannes<lb/> zusammensetzen wollte, so würde die Wahrheit der Geschichte wol nicht da¬<lb/> bei gewinnen. — Desto erfreulicher ist das Urtheil über die Politik der<lb/> Mittelstaaten im Gegensatz zu den Kleinstaaten, dem wir in allen Punkten<lb/> beipflichten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1315" next="#ID_1316"> Im dritten Abschnitt erhalten wir eine kurze Uebersicht der europäischen<lb/> Literatur, ungefähr in der Art, wie sie Schlosser in seiner Geschichte des 18. Jahr¬<lb/> hunderts eingeführt hat. Es ist mit der Einmischung literarhistorischer Abschnitte<lb/> in eine politische Geschichte grade wie mit den Recensionen im Feuilleton von<lb/> Zeitungen. Sie haben zwei Bedenken gegen sich: einmal gehören sie nicht<lb/> recht zur Sache, sodann schließen sie die ausführliche ästhetische Motivirung<lb/> aus, die doch allein der Kritik Werth verleihen kann. Nur unter der Be¬<lb/> dingung finden wir eine solche Einmischung gerechtfertigt, daß lediglich der<lb/> culturhistorische Standpunkt festgehalten und das ästhetische Urtheil soviel als<lb/> möglich vermieden wird. Die Zeit, welche Gervinus behandelt, bot hinreichen¬<lb/> den Stoff für eine historische Darstellung der Literatur, vorzugsweise durch die<lb/> politische Romantik und die historische Schule; allein diese behandelt Gervinus<lb/> ziemlich flüchtig und gibt dafür eine Reihe von Recensionen über Fichte, Schel-<lb/> ling, Schlegel u. s. w., die schon darum nicht hierher gehören, weil sie in eine<lb/> frühere Periode fallen. Vor allem aber begeht Gervinus den Fehler, sich zu<lb/> sehr in Einzelnheiten einzulassen, die doch nicht genau genug sind, um ein cor-<lb/> rectes Bild zu geben. Wenn er Fichtes Philosophie nihilistisch nennt, und<lb/> den Idealismus des Descartes katholistrend, so ist beides gleich einseitig;<lb/> wenn er es bei Fichte eine Ruhmredigkeit nennt, daß er seine Wissenschafts¬<lb/> lehre als über das Zeitalter vorgeschritten erklärte, so vergißt er dabei, daß<lb/> Fichte das nicht blos von seiner Wissenschaftslehre, sondern von der Wissen¬<lb/> schaft überhaupt behauptet, und zwar mit vollem Recht; wenn er von Schel-<lb/> lings intellektueller Anschauung behauptet, sie sei eine wesentlich ästhetische<lb/> Kraft, so hat er wol die betreffenden Stellen nicht genau angesehen; wen» er<lb/> von der Schicksalstragödie behauptet, Schlegel habe sie angegeben, so ist daS<lb/> ein Irrthum, da Schlegel von Anfang an aufs lebhafteste gegen die Schick¬<lb/> salstragödie polemisirt hat. Das alles sind Kleinigkeiten, aber auf alle Fälle<lb/> waren sie überflüssig und in einem Nationalwerk wirken sie gradezu störend.<lb/> Ernster ist der Tadel, den wir über die Darstellung W. Scotts aussprechen<lb/> müssen. Man wird bei einem politischen Geschichtschreiber auf Abweisungen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0458]
öfters einen andern Anschein nahm, so hätte Gervinus nicht nöthig gehabt,
aus die Möglichkeit roh egoistischer Einflüsse hinzuweisen. Wir haben diese
Bemerkung mit ebenso großem Bedauern gelesen, als die ähnliche über Gneisenau;
die einzige größere Stelle, wo von diesem edlen Mann gesprochen wird, und
zwar auf eine Weise, die des Gegenstandes nicht würdig ist. Wenn man aus
einzelnen hingeworfenen Aeußerungen sich den Charakter eines großen Mannes
zusammensetzen wollte, so würde die Wahrheit der Geschichte wol nicht da¬
bei gewinnen. — Desto erfreulicher ist das Urtheil über die Politik der
Mittelstaaten im Gegensatz zu den Kleinstaaten, dem wir in allen Punkten
beipflichten.
Im dritten Abschnitt erhalten wir eine kurze Uebersicht der europäischen
Literatur, ungefähr in der Art, wie sie Schlosser in seiner Geschichte des 18. Jahr¬
hunderts eingeführt hat. Es ist mit der Einmischung literarhistorischer Abschnitte
in eine politische Geschichte grade wie mit den Recensionen im Feuilleton von
Zeitungen. Sie haben zwei Bedenken gegen sich: einmal gehören sie nicht
recht zur Sache, sodann schließen sie die ausführliche ästhetische Motivirung
aus, die doch allein der Kritik Werth verleihen kann. Nur unter der Be¬
dingung finden wir eine solche Einmischung gerechtfertigt, daß lediglich der
culturhistorische Standpunkt festgehalten und das ästhetische Urtheil soviel als
möglich vermieden wird. Die Zeit, welche Gervinus behandelt, bot hinreichen¬
den Stoff für eine historische Darstellung der Literatur, vorzugsweise durch die
politische Romantik und die historische Schule; allein diese behandelt Gervinus
ziemlich flüchtig und gibt dafür eine Reihe von Recensionen über Fichte, Schel-
ling, Schlegel u. s. w., die schon darum nicht hierher gehören, weil sie in eine
frühere Periode fallen. Vor allem aber begeht Gervinus den Fehler, sich zu
sehr in Einzelnheiten einzulassen, die doch nicht genau genug sind, um ein cor-
rectes Bild zu geben. Wenn er Fichtes Philosophie nihilistisch nennt, und
den Idealismus des Descartes katholistrend, so ist beides gleich einseitig;
wenn er es bei Fichte eine Ruhmredigkeit nennt, daß er seine Wissenschafts¬
lehre als über das Zeitalter vorgeschritten erklärte, so vergißt er dabei, daß
Fichte das nicht blos von seiner Wissenschaftslehre, sondern von der Wissen¬
schaft überhaupt behauptet, und zwar mit vollem Recht; wenn er von Schel-
lings intellektueller Anschauung behauptet, sie sei eine wesentlich ästhetische
Kraft, so hat er wol die betreffenden Stellen nicht genau angesehen; wen» er
von der Schicksalstragödie behauptet, Schlegel habe sie angegeben, so ist daS
ein Irrthum, da Schlegel von Anfang an aufs lebhafteste gegen die Schick¬
salstragödie polemisirt hat. Das alles sind Kleinigkeiten, aber auf alle Fälle
waren sie überflüssig und in einem Nationalwerk wirken sie gradezu störend.
Ernster ist der Tadel, den wir über die Darstellung W. Scotts aussprechen
müssen. Man wird bei einem politischen Geschichtschreiber auf Abweisungen
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