Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.als wirkliche Großmacht und nach politischen Beweggründen zu handeln." als wirkliche Großmacht und nach politischen Beweggründen zu handeln." <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100376"/> <p xml:id="ID_1311" prev="#ID_1310" next="#ID_1312"> als wirkliche Großmacht und nach politischen Beweggründen zu handeln."<lb/> Hier kann man ihm in der That antworten: Du sprichst ein großes Wort<lb/> gelassen aus. Wie in aller Welt hätte es Preußen anfangen sollen, die<lb/> Herrschaft oder die Hegemonie über Deutschland gegen lauter widerstrebende<lb/> Fürsten zu erobern? — S. 246 sagt er: „Hardenberg trug mit Humboldt<lb/> das stille Bewußtsein, daß Preußen, ohne Neid und Besorgniß zu erregen,<lb/> nicht weiter vergrößert werden könne; diese Ueberzeugung hätte er zu uneigen¬<lb/> nütziger Verwendung für Deutschland nützen sollen, dazu fehlte es ihm weit<lb/> an dem großen vaterländischen Sinne!" — Auf welche Weise hätte wol Preu¬<lb/> ßen uneigennützig sür Deutschland wirken sollen? S. 2ii wird es sehr lebhaft<lb/> getadelt, daß die preußischen Abgeordneten Frankreich Provinzen rauben und<lb/> sie für Deutschland gewinnen wollten. Alle diese Vorwürfe sind zu allgemein<lb/> und unbestimmt, um eine Handhabe zu gewähren. Die einzige Frage, die<lb/> ernsthaft zur Erörterung kam, war die Theilung Sachsens. Auch hier tadelt<lb/> Gervinus die preußischen Abgeordneten, aber er verfolgt kein festes Princip; er<lb/> führt mehre Gründe sür und wider an, aber er entscheidet sich nicht. Manche<lb/> dieser Gründe setzen uns in Erstaunen, z. B. S. 217: „Erwägt man die<lb/> politische Zuträglichkeit, so verdiente, wenn Deutschland ein Bundesstaat bleiben<lb/> sollte, nichts eine größere Rücksicht, als die Erhaltung der Stämme, die in<lb/> Deutschlands Geschichte und Bildung von selbstständiger und vorragender Be¬<lb/> deutung waren. Darunter stand der sächsische Stamm obenan. Aus Sachsen<lb/> und Baiern sind die Marken Brandenburg und Oestreich erst hervorgegangen,<lb/> die beide später einen Gegenstand ihres Ehrgeizes daraus gemacht haben, diese<lb/> Nachbarstaaten zu verschlingen. Gegen diese Absichten hat sich das deutsche<lb/> Bundesgefühl noch jedes Mal empört." — Wenn das in den sächsischen<lb/> Vaterlandsblättern gestanden hätte, so würden wir es natürlich finden: daß<lb/> aber ein Historiker den historischen Stamm der Sachsen im Königreich Sachsen<lb/> sucht, muß uns doch befremden. Wenn er den Vorschlag macht, das sächsische<lb/> Volk Hütte befragt werden sollen, so vergißt er dabei, daß der wiener Congreß<lb/> nicht im Jahre 1848 in her Paulskirche saß, wo man übrigens beiläufig<lb/> die Provinz Posen auch nicht befragt hat, ob sie dem deutschen Bundesstaat<lb/> einverleibt werden solle oder nicht. — Aus allen diesen Gründen sür und<lb/> wider abstrahirt man zuerst die Meinung, Gervinus halte sich in dieser Frage<lb/> neutral, bis man S. 2S3 durch folgende Erklärung überrascht und bestürzt<lb/> wird: „Aus dem unreinstem Munde (Talleyrands) mußte der Congreß die<lb/> reinste Wahrheit hören: daß man bei dem Verfahren gegen Sachsen sich offen¬<lb/> bar zu dem Grundsatz bekenne, es sei für den Stärkeren alles rechtmäßig;<lb/> es könne ein König gerichtet werden, und zwar durch den, der ihn berauben<lb/> wolle; es sei die Vermögenseinziehung ein geheiligtes Recht u. s. w." — Also<lb/> das war in der That die reinste Wahrheit? Sollte nicht zu diesem Ausdruck</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0456]
als wirkliche Großmacht und nach politischen Beweggründen zu handeln."
Hier kann man ihm in der That antworten: Du sprichst ein großes Wort
gelassen aus. Wie in aller Welt hätte es Preußen anfangen sollen, die
Herrschaft oder die Hegemonie über Deutschland gegen lauter widerstrebende
Fürsten zu erobern? — S. 246 sagt er: „Hardenberg trug mit Humboldt
das stille Bewußtsein, daß Preußen, ohne Neid und Besorgniß zu erregen,
nicht weiter vergrößert werden könne; diese Ueberzeugung hätte er zu uneigen¬
nütziger Verwendung für Deutschland nützen sollen, dazu fehlte es ihm weit
an dem großen vaterländischen Sinne!" — Auf welche Weise hätte wol Preu¬
ßen uneigennützig sür Deutschland wirken sollen? S. 2ii wird es sehr lebhaft
getadelt, daß die preußischen Abgeordneten Frankreich Provinzen rauben und
sie für Deutschland gewinnen wollten. Alle diese Vorwürfe sind zu allgemein
und unbestimmt, um eine Handhabe zu gewähren. Die einzige Frage, die
ernsthaft zur Erörterung kam, war die Theilung Sachsens. Auch hier tadelt
Gervinus die preußischen Abgeordneten, aber er verfolgt kein festes Princip; er
führt mehre Gründe sür und wider an, aber er entscheidet sich nicht. Manche
dieser Gründe setzen uns in Erstaunen, z. B. S. 217: „Erwägt man die
politische Zuträglichkeit, so verdiente, wenn Deutschland ein Bundesstaat bleiben
sollte, nichts eine größere Rücksicht, als die Erhaltung der Stämme, die in
Deutschlands Geschichte und Bildung von selbstständiger und vorragender Be¬
deutung waren. Darunter stand der sächsische Stamm obenan. Aus Sachsen
und Baiern sind die Marken Brandenburg und Oestreich erst hervorgegangen,
die beide später einen Gegenstand ihres Ehrgeizes daraus gemacht haben, diese
Nachbarstaaten zu verschlingen. Gegen diese Absichten hat sich das deutsche
Bundesgefühl noch jedes Mal empört." — Wenn das in den sächsischen
Vaterlandsblättern gestanden hätte, so würden wir es natürlich finden: daß
aber ein Historiker den historischen Stamm der Sachsen im Königreich Sachsen
sucht, muß uns doch befremden. Wenn er den Vorschlag macht, das sächsische
Volk Hütte befragt werden sollen, so vergißt er dabei, daß der wiener Congreß
nicht im Jahre 1848 in her Paulskirche saß, wo man übrigens beiläufig
die Provinz Posen auch nicht befragt hat, ob sie dem deutschen Bundesstaat
einverleibt werden solle oder nicht. — Aus allen diesen Gründen sür und
wider abstrahirt man zuerst die Meinung, Gervinus halte sich in dieser Frage
neutral, bis man S. 2S3 durch folgende Erklärung überrascht und bestürzt
wird: „Aus dem unreinstem Munde (Talleyrands) mußte der Congreß die
reinste Wahrheit hören: daß man bei dem Verfahren gegen Sachsen sich offen¬
bar zu dem Grundsatz bekenne, es sei für den Stärkeren alles rechtmäßig;
es könne ein König gerichtet werden, und zwar durch den, der ihn berauben
wolle; es sei die Vermögenseinziehung ein geheiligtes Recht u. s. w." — Also
das war in der That die reinste Wahrheit? Sollte nicht zu diesem Ausdruck
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