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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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müssen die guten Freunde, die Wagnerianer, dies Mal die üble Laune auch aus¬
baden, und die beifällige Ausnahme des Maurer und Schlosser in Weimar wird als
Beleg zu der alten Wahrheit aufgefaßt: "Daß einseitigste Kunstanschauung und ver¬
zwickteste Systemsucht zwar in einzelnen Köpfen entstehen und sich festsetzen
kann, niemals aber aller Gebildeten sich bemächtigen wird, daß vielmehr das Ver¬
langen nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung in dem gesunden Menschengeiste
als ein Urgesetz liegt, welches die Natur anerkennend befriedigt, was auch die Kunst
thun soll, und kurz, daß das Drama der Zukunft als ausschließlich berechtigte
Kunstoffenbarung eine lächerliche Ausgeburt eines krankhaften Gehirns ist und
bleibt." --


Die neue Saison des Gewandhauses.

-- Indem wir uns bei Eröffnung der
neuen Saison vorbehalten, in Betreff der musikalischen Leistungen unsere Wünsche
auszusprechen, müssen wir zunächst über die äußere Einrichtung, welche uns das
Programm anzeigt, unsere unbedingte Befriedigung aussprechen. Was die Grenz¬
boten seit mehren Jahren als die unabweisbare Forderung der Gerechtigkeit und
Billigkeit dargestellt haben, ist von der Gewandhausdirection endlich zugestanden
worden: die Gemüthttchkeitsverhältnisse der Familiencoterien, des Stoßens und
Schlagens auf der Treppe und was sonst zu den Annehmlichkeiten der Concerte
gehörte, hört auf, und ^der im gemeinen bürgerlichen Leben herrschende Rechts¬
grundsatz, daß der Verkäufer, der einen Preis annimmt, auch die Waare liefern
muß, macht sich auch am Neumarkt geltend. Wer jetzt noch die Gemüthlichkeit,
das Stoßen und Schlagen auf der Treppe und dergleichen liebt, kann es aus eigene
Hand thun. -- Die bisherige Einrichtung des Concerts war aus Zeiten berechnet,
die längst vergangen sind. Damals hielten eine gewisse Anzahl reicher Familien
das Concert; die Damen saßen in dem großen Saal, wo überflüssig Platz war,
familienweise und in vollem Ballputz beisammen, in den Pausen wurde Thee
herumgereicht und die Herren fanden sich zur Cour ein. Diese Gemüthlichkeit war
unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr möglich, die Damen mußten sich
ihre privilegirten Sitze in hartem Kampfe erobern, und wenn wir auch der modernen
Gymnastik, die aus altspartanische Weise das schöne Geschlecht heranzieht, unsere
volle Achtung nicht versagen können, so glauben wir doch, daß es schicklichere
Schauplätze sür diese edle Kunst gibt, als die Treppe des Gewandhauses. Daß
nebenbei der Unfug mit den persönlichen und Familienbillets aufhört, der doch nur
zu systematischen Betrügereien veranlaßte, können wir ebenso als einen Fortschritt
begrüßen. Auch die Steigerung des Preises können wir nur billigen, sie entspricht
dem Verhältniß anderer großer Städte, und die minder bemittelten Classen haben
in Leipzig hinreichende Gelegenheit, ihre musikalischen Bedürfnisse anderweit zu
befriedigen; und so sehen wir denn dem lang entbehrten Genuß dieser schönen
Anstalt mit ruhigerem Behagen entgegen, als in den frühern Jahren.




Herausgegeben von Gustav Freyrag und Julian Schmidt.
Als veraiitwortl. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.-- Verlag von L. F. Hevbig
in Leipzig.
Druck vo" C. E. Elbert in Leipzig.

müssen die guten Freunde, die Wagnerianer, dies Mal die üble Laune auch aus¬
baden, und die beifällige Ausnahme des Maurer und Schlosser in Weimar wird als
Beleg zu der alten Wahrheit aufgefaßt: „Daß einseitigste Kunstanschauung und ver¬
zwickteste Systemsucht zwar in einzelnen Köpfen entstehen und sich festsetzen
kann, niemals aber aller Gebildeten sich bemächtigen wird, daß vielmehr das Ver¬
langen nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung in dem gesunden Menschengeiste
als ein Urgesetz liegt, welches die Natur anerkennend befriedigt, was auch die Kunst
thun soll, und kurz, daß das Drama der Zukunft als ausschließlich berechtigte
Kunstoffenbarung eine lächerliche Ausgeburt eines krankhaften Gehirns ist und
bleibt." —


Die neue Saison des Gewandhauses.

— Indem wir uns bei Eröffnung der
neuen Saison vorbehalten, in Betreff der musikalischen Leistungen unsere Wünsche
auszusprechen, müssen wir zunächst über die äußere Einrichtung, welche uns das
Programm anzeigt, unsere unbedingte Befriedigung aussprechen. Was die Grenz¬
boten seit mehren Jahren als die unabweisbare Forderung der Gerechtigkeit und
Billigkeit dargestellt haben, ist von der Gewandhausdirection endlich zugestanden
worden: die Gemüthttchkeitsverhältnisse der Familiencoterien, des Stoßens und
Schlagens auf der Treppe und was sonst zu den Annehmlichkeiten der Concerte
gehörte, hört auf, und ^der im gemeinen bürgerlichen Leben herrschende Rechts¬
grundsatz, daß der Verkäufer, der einen Preis annimmt, auch die Waare liefern
muß, macht sich auch am Neumarkt geltend. Wer jetzt noch die Gemüthlichkeit,
das Stoßen und Schlagen auf der Treppe und dergleichen liebt, kann es aus eigene
Hand thun. — Die bisherige Einrichtung des Concerts war aus Zeiten berechnet,
die längst vergangen sind. Damals hielten eine gewisse Anzahl reicher Familien
das Concert; die Damen saßen in dem großen Saal, wo überflüssig Platz war,
familienweise und in vollem Ballputz beisammen, in den Pausen wurde Thee
herumgereicht und die Herren fanden sich zur Cour ein. Diese Gemüthlichkeit war
unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr möglich, die Damen mußten sich
ihre privilegirten Sitze in hartem Kampfe erobern, und wenn wir auch der modernen
Gymnastik, die aus altspartanische Weise das schöne Geschlecht heranzieht, unsere
volle Achtung nicht versagen können, so glauben wir doch, daß es schicklichere
Schauplätze sür diese edle Kunst gibt, als die Treppe des Gewandhauses. Daß
nebenbei der Unfug mit den persönlichen und Familienbillets aufhört, der doch nur
zu systematischen Betrügereien veranlaßte, können wir ebenso als einen Fortschritt
begrüßen. Auch die Steigerung des Preises können wir nur billigen, sie entspricht
dem Verhältniß anderer großer Städte, und die minder bemittelten Classen haben
in Leipzig hinreichende Gelegenheit, ihre musikalischen Bedürfnisse anderweit zu
befriedigen; und so sehen wir denn dem lang entbehrten Genuß dieser schönen
Anstalt mit ruhigerem Behagen entgegen, als in den frühern Jahren.




Herausgegeben von Gustav Freyrag und Julian Schmidt.
Als veraiitwortl. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.— Verlag von L. F. Hevbig
in Leipzig.
Druck vo» C. E. Elbert in Leipzig.
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[0448] müssen die guten Freunde, die Wagnerianer, dies Mal die üble Laune auch aus¬ baden, und die beifällige Ausnahme des Maurer und Schlosser in Weimar wird als Beleg zu der alten Wahrheit aufgefaßt: „Daß einseitigste Kunstanschauung und ver¬ zwickteste Systemsucht zwar in einzelnen Köpfen entstehen und sich festsetzen kann, niemals aber aller Gebildeten sich bemächtigen wird, daß vielmehr das Ver¬ langen nach Mannigfaltigkeit und Abwechslung in dem gesunden Menschengeiste als ein Urgesetz liegt, welches die Natur anerkennend befriedigt, was auch die Kunst thun soll, und kurz, daß das Drama der Zukunft als ausschließlich berechtigte Kunstoffenbarung eine lächerliche Ausgeburt eines krankhaften Gehirns ist und bleibt." — Die neue Saison des Gewandhauses. — Indem wir uns bei Eröffnung der neuen Saison vorbehalten, in Betreff der musikalischen Leistungen unsere Wünsche auszusprechen, müssen wir zunächst über die äußere Einrichtung, welche uns das Programm anzeigt, unsere unbedingte Befriedigung aussprechen. Was die Grenz¬ boten seit mehren Jahren als die unabweisbare Forderung der Gerechtigkeit und Billigkeit dargestellt haben, ist von der Gewandhausdirection endlich zugestanden worden: die Gemüthttchkeitsverhältnisse der Familiencoterien, des Stoßens und Schlagens auf der Treppe und was sonst zu den Annehmlichkeiten der Concerte gehörte, hört auf, und ^der im gemeinen bürgerlichen Leben herrschende Rechts¬ grundsatz, daß der Verkäufer, der einen Preis annimmt, auch die Waare liefern muß, macht sich auch am Neumarkt geltend. Wer jetzt noch die Gemüthlichkeit, das Stoßen und Schlagen auf der Treppe und dergleichen liebt, kann es aus eigene Hand thun. — Die bisherige Einrichtung des Concerts war aus Zeiten berechnet, die längst vergangen sind. Damals hielten eine gewisse Anzahl reicher Familien das Concert; die Damen saßen in dem großen Saal, wo überflüssig Platz war, familienweise und in vollem Ballputz beisammen, in den Pausen wurde Thee herumgereicht und die Herren fanden sich zur Cour ein. Diese Gemüthlichkeit war unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr möglich, die Damen mußten sich ihre privilegirten Sitze in hartem Kampfe erobern, und wenn wir auch der modernen Gymnastik, die aus altspartanische Weise das schöne Geschlecht heranzieht, unsere volle Achtung nicht versagen können, so glauben wir doch, daß es schicklichere Schauplätze sür diese edle Kunst gibt, als die Treppe des Gewandhauses. Daß nebenbei der Unfug mit den persönlichen und Familienbillets aufhört, der doch nur zu systematischen Betrügereien veranlaßte, können wir ebenso als einen Fortschritt begrüßen. Auch die Steigerung des Preises können wir nur billigen, sie entspricht dem Verhältniß anderer großer Städte, und die minder bemittelten Classen haben in Leipzig hinreichende Gelegenheit, ihre musikalischen Bedürfnisse anderweit zu befriedigen; und so sehen wir denn dem lang entbehrten Genuß dieser schönen Anstalt mit ruhigerem Behagen entgegen, als in den frühern Jahren. Herausgegeben von Gustav Freyrag und Julian Schmidt. Als veraiitwortl. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.— Verlag von L. F. Hevbig in Leipzig. Druck vo» C. E. Elbert in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/448>, abgerufen am 22.12.2024.