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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Vortheil: Canning von niedrigem Stande, bekämpfte die Aristokratie; Palmer¬
ston, geborner Aristokrat, findet bereits seinen Stand in der Theilung seiner
Privilegien mit den Bürgerlichen. Beide aber, Canning und Palmerston, sind
Träger des Freiheitsgedankens; ihnen beiden ist die Freiheit kein Monopol,
sondern ein Gemeingut der Well. Ob und waS Palmerston auch in dieser
Richtung erreichen werde, entzieht sich der Vermuchung. Erfahrung, Charakter¬
stärke, Willenskraft, Genie fehlen ihm nicht; aber der Erfolg hängt von dem
Zusammentreffen sovieler Factoren ad, daß selbst das Mißlingen der sittlichen
Größe des Mannes nichts wird entziehen können.

Was die Schwierigkeiten der Situation für Palmerston wesentlich er¬
leichtern mußte, war der Umstand, daß er einen Boden betrat, den er selbst am
eifrigsten herstellen hals. Die Allianz mir Frankreich ist vorzugsweise sein
Werk. Wir gehören nicht zu jenen Klugen oder Schadenfrohen, die in jedem
Wölkchen bereits den Sturm erblicken, der jenen Bund wieder auseinander¬
reißen soll. Das gemeinsame Ziel verheißt gegentheils seine loyale und auf¬
richtige Dauer; auch ist jenes noch sowenig erreicht, daß noch manche ge¬
meinschaftliche Bluttaufe die Bande fester knüpfen statt lockern dürfte. Zudem
leben wir aber doch nicht mehr in der gemüthlichen Zeit, wo der Wechsel
eines Bündnisses fast mit dem Wechsel des Rockes stattfinden konnte; und
das DIviclL ol. iwper-r ist zwar keineswegs aus der Uebung gekommen; ecla-
tante Deevrationswechsel aber sind denn doch beinahe zu Unmöglichkeiten ge¬
worden.

Wir finden eine Schilderung Palmerstonö, die mit einer höchst inter¬
essanten Parallele schließt. Man erlaube uns sie mitzutheilen: "Der Lord
(heißt eS in einem Blatte) zählt volle 70 Jahre, ist vermählt, kinderlos."
(woher man ihn nur nicht, selten für einen "alten Junggesellen" in der ver¬
wegensten Bedeutung des Wortes halten sieht?) "Die Gicht, die ihn zuweilen
ans Zimmer fesselt, ist sein einziges körperliches Leiden, ein geistiges drückt
ihn nicht; weder Eitelkeit noch Kummer. Man kann sich kaum eine ruhigere,
festere, dabei freundlichere Erscheinung eines greisen englischen Aristokraten
denken. Sonderbar vielleicht für manche, man hört seinen Namen oft neben
einem sehr berühmten nennen. Macaulay, obschon um 16 Jahre jünger, sieht
altergebeugt aus gegen den Lord, dessen fünfzigjährige Staatsdienste doch nicht
weniger Denken und tägliches Abmühen einschließen dürften, als die Studien
des großen Historikers. Mehr Milde liegt in MacaulavS Zügen und sie
fugen sich stets der augenblicklichen Bewegung des Innern bei noch so starker
Oberherrschaft des Geistes. Palmerstons Freundlichkeit scheint diplomatische
Maske mehr als Ausdruck der Seele; denn sie ist habituell. Nur in Momen¬
ten, wo alle geistige Kraft ausgeboten, zusammengefaßt und ins volle Spiel


Grenzboten. III. lööll. °<

Vortheil: Canning von niedrigem Stande, bekämpfte die Aristokratie; Palmer¬
ston, geborner Aristokrat, findet bereits seinen Stand in der Theilung seiner
Privilegien mit den Bürgerlichen. Beide aber, Canning und Palmerston, sind
Träger des Freiheitsgedankens; ihnen beiden ist die Freiheit kein Monopol,
sondern ein Gemeingut der Well. Ob und waS Palmerston auch in dieser
Richtung erreichen werde, entzieht sich der Vermuchung. Erfahrung, Charakter¬
stärke, Willenskraft, Genie fehlen ihm nicht; aber der Erfolg hängt von dem
Zusammentreffen sovieler Factoren ad, daß selbst das Mißlingen der sittlichen
Größe des Mannes nichts wird entziehen können.

Was die Schwierigkeiten der Situation für Palmerston wesentlich er¬
leichtern mußte, war der Umstand, daß er einen Boden betrat, den er selbst am
eifrigsten herstellen hals. Die Allianz mir Frankreich ist vorzugsweise sein
Werk. Wir gehören nicht zu jenen Klugen oder Schadenfrohen, die in jedem
Wölkchen bereits den Sturm erblicken, der jenen Bund wieder auseinander¬
reißen soll. Das gemeinsame Ziel verheißt gegentheils seine loyale und auf¬
richtige Dauer; auch ist jenes noch sowenig erreicht, daß noch manche ge¬
meinschaftliche Bluttaufe die Bande fester knüpfen statt lockern dürfte. Zudem
leben wir aber doch nicht mehr in der gemüthlichen Zeit, wo der Wechsel
eines Bündnisses fast mit dem Wechsel des Rockes stattfinden konnte; und
das DIviclL ol. iwper-r ist zwar keineswegs aus der Uebung gekommen; ecla-
tante Deevrationswechsel aber sind denn doch beinahe zu Unmöglichkeiten ge¬
worden.

Wir finden eine Schilderung Palmerstonö, die mit einer höchst inter¬
essanten Parallele schließt. Man erlaube uns sie mitzutheilen: „Der Lord
(heißt eS in einem Blatte) zählt volle 70 Jahre, ist vermählt, kinderlos."
(woher man ihn nur nicht, selten für einen „alten Junggesellen" in der ver¬
wegensten Bedeutung des Wortes halten sieht?) „Die Gicht, die ihn zuweilen
ans Zimmer fesselt, ist sein einziges körperliches Leiden, ein geistiges drückt
ihn nicht; weder Eitelkeit noch Kummer. Man kann sich kaum eine ruhigere,
festere, dabei freundlichere Erscheinung eines greisen englischen Aristokraten
denken. Sonderbar vielleicht für manche, man hört seinen Namen oft neben
einem sehr berühmten nennen. Macaulay, obschon um 16 Jahre jünger, sieht
altergebeugt aus gegen den Lord, dessen fünfzigjährige Staatsdienste doch nicht
weniger Denken und tägliches Abmühen einschließen dürften, als die Studien
des großen Historikers. Mehr Milde liegt in MacaulavS Zügen und sie
fugen sich stets der augenblicklichen Bewegung des Innern bei noch so starker
Oberherrschaft des Geistes. Palmerstons Freundlichkeit scheint diplomatische
Maske mehr als Ausdruck der Seele; denn sie ist habituell. Nur in Momen¬
ten, wo alle geistige Kraft ausgeboten, zusammengefaßt und ins volle Spiel


Grenzboten. III. lööll. °<
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[0041] Vortheil: Canning von niedrigem Stande, bekämpfte die Aristokratie; Palmer¬ ston, geborner Aristokrat, findet bereits seinen Stand in der Theilung seiner Privilegien mit den Bürgerlichen. Beide aber, Canning und Palmerston, sind Träger des Freiheitsgedankens; ihnen beiden ist die Freiheit kein Monopol, sondern ein Gemeingut der Well. Ob und waS Palmerston auch in dieser Richtung erreichen werde, entzieht sich der Vermuchung. Erfahrung, Charakter¬ stärke, Willenskraft, Genie fehlen ihm nicht; aber der Erfolg hängt von dem Zusammentreffen sovieler Factoren ad, daß selbst das Mißlingen der sittlichen Größe des Mannes nichts wird entziehen können. Was die Schwierigkeiten der Situation für Palmerston wesentlich er¬ leichtern mußte, war der Umstand, daß er einen Boden betrat, den er selbst am eifrigsten herstellen hals. Die Allianz mir Frankreich ist vorzugsweise sein Werk. Wir gehören nicht zu jenen Klugen oder Schadenfrohen, die in jedem Wölkchen bereits den Sturm erblicken, der jenen Bund wieder auseinander¬ reißen soll. Das gemeinsame Ziel verheißt gegentheils seine loyale und auf¬ richtige Dauer; auch ist jenes noch sowenig erreicht, daß noch manche ge¬ meinschaftliche Bluttaufe die Bande fester knüpfen statt lockern dürfte. Zudem leben wir aber doch nicht mehr in der gemüthlichen Zeit, wo der Wechsel eines Bündnisses fast mit dem Wechsel des Rockes stattfinden konnte; und das DIviclL ol. iwper-r ist zwar keineswegs aus der Uebung gekommen; ecla- tante Deevrationswechsel aber sind denn doch beinahe zu Unmöglichkeiten ge¬ worden. Wir finden eine Schilderung Palmerstonö, die mit einer höchst inter¬ essanten Parallele schließt. Man erlaube uns sie mitzutheilen: „Der Lord (heißt eS in einem Blatte) zählt volle 70 Jahre, ist vermählt, kinderlos." (woher man ihn nur nicht, selten für einen „alten Junggesellen" in der ver¬ wegensten Bedeutung des Wortes halten sieht?) „Die Gicht, die ihn zuweilen ans Zimmer fesselt, ist sein einziges körperliches Leiden, ein geistiges drückt ihn nicht; weder Eitelkeit noch Kummer. Man kann sich kaum eine ruhigere, festere, dabei freundlichere Erscheinung eines greisen englischen Aristokraten denken. Sonderbar vielleicht für manche, man hört seinen Namen oft neben einem sehr berühmten nennen. Macaulay, obschon um 16 Jahre jünger, sieht altergebeugt aus gegen den Lord, dessen fünfzigjährige Staatsdienste doch nicht weniger Denken und tägliches Abmühen einschließen dürften, als die Studien des großen Historikers. Mehr Milde liegt in MacaulavS Zügen und sie fugen sich stets der augenblicklichen Bewegung des Innern bei noch so starker Oberherrschaft des Geistes. Palmerstons Freundlichkeit scheint diplomatische Maske mehr als Ausdruck der Seele; denn sie ist habituell. Nur in Momen¬ ten, wo alle geistige Kraft ausgeboten, zusammengefaßt und ins volle Spiel Grenzboten. III. lööll. °<

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/41>, abgerufen am 22.07.2024.