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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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voller Erörterungen überlassend, bleibt für die allgemeine Betrachtung Haupt¬
sache der Umstand, daß man eine so lange offengehaltene Frage grade jetzt
glaubte nach der einen Seite hin in päpstlicher Machtvollkommenheit ein für alle
Mal entscheiden zu müssen und zu können. Ob es ein Angriff auf den gesunden
Menschenverstand sei, darnach fragt die Kirche nichts; am wenigsten, wenn
diese Ansicht aus Ketzermund kommt. Ob es ein "gewagter" Angriff, muß
die Zeit lehren. Eben dadurch hat das Ganze fast mehr ein culturgeschicht¬
liches Interesse als ein kirchliches, und erlaubt oder fordert auch ein Laien¬
urtheil. Es ist ein vielfach noch verbreiteter, freilich längst als solcher nach¬
gewiesener Irrthum, daß die römische Kirche in Annahme und Verwerfung
von Glaubenssätzen eine stete Consequenz zeige. Die Geschichte der Kirche
zeigt hinlänglich, wie man früher oft angenommen, was später verflucht
wurde, und ebenso ercommunicirt, was nachher als allein wahr zur Geltung
kam. Man hielt dies Mal ein neues Dogma d. h. eine feierliche Entscheidung
sür nöthig und räthlich, und man traf sie. An verwendbaren Material dazu
kann es nicht fehlen; die Theologen haben dafür gesorgt. Karl Passaglia
aus der Gesellschaft Jesu forniulirte den Gegenstand in seinem neuesten Werke
(Rom und die "erstgeborenen Söhne" des h. Vaters konnten natürlich
der Welt nicht das ärgerliche Schauspiel geben, anders zu stimmen als zu
stimmen war. Passaglia sagt: "Es ist alles rücksichtlich der Gnade und
Heiligkeit der h. Jungfrau als ein Wunder anzusehen, und zwar als ein
unaussprechliches Wunder, als das größte der Wunder, als ein Schatz von
Charismen (Gnadengaben) und als eine verborgene Tiefe von Gnaden."
Damit fällt alles Weitere weg und bleibt nur die Opportunist und das
äußere Verfahren bei der Aufstellung des Dogma übrig. In dem Verfahren
wollte man bekanntlich eine vollständige Revolution der Kirchenverfassung im
absolutistischen Sinne erblicken,, indem nach den Lehren anerkannter Kirchen¬
lehrer (z. B. Walter) nur ein allgemeines Concilium, nicht aber der Papst
und eine Versammlung wie die in Rom versammelt gewesene endgiltige Aus¬
sprüche, was Glaubenswahrheiten seien, thun könne. Vielleicht war es eben
nur um den Gegenbeweis dieser Meinung zu thun, und -- dem Muthigen
gehört die Welt!

Ein Curiosum wollen wir noch erwähnen, nämlich die angeblich mehr als
ein Jahrhundert alte und vom "Univers" ausgegrabene Prophezeihung über
das besprochene Dogma, wonach es in einer Woche verkündet werden sollte,
die keinen Freitag hätte, und in einer Epoche, welche eine große Revolution
in dem chinesischen Reiche, die Erschütterung, wenn nicht den Fall des otto-
manischen Reiches, große Kriege zwischen den christlichen Fürsten u. dergl.
sehen würde? So wörtlich schön ist noch keine Prophezeihung in Erfüllung
gegangen! Der Tag der Verkündigung des Dogma war der Freitag des


voller Erörterungen überlassend, bleibt für die allgemeine Betrachtung Haupt¬
sache der Umstand, daß man eine so lange offengehaltene Frage grade jetzt
glaubte nach der einen Seite hin in päpstlicher Machtvollkommenheit ein für alle
Mal entscheiden zu müssen und zu können. Ob es ein Angriff auf den gesunden
Menschenverstand sei, darnach fragt die Kirche nichts; am wenigsten, wenn
diese Ansicht aus Ketzermund kommt. Ob es ein „gewagter" Angriff, muß
die Zeit lehren. Eben dadurch hat das Ganze fast mehr ein culturgeschicht¬
liches Interesse als ein kirchliches, und erlaubt oder fordert auch ein Laien¬
urtheil. Es ist ein vielfach noch verbreiteter, freilich längst als solcher nach¬
gewiesener Irrthum, daß die römische Kirche in Annahme und Verwerfung
von Glaubenssätzen eine stete Consequenz zeige. Die Geschichte der Kirche
zeigt hinlänglich, wie man früher oft angenommen, was später verflucht
wurde, und ebenso ercommunicirt, was nachher als allein wahr zur Geltung
kam. Man hielt dies Mal ein neues Dogma d. h. eine feierliche Entscheidung
sür nöthig und räthlich, und man traf sie. An verwendbaren Material dazu
kann es nicht fehlen; die Theologen haben dafür gesorgt. Karl Passaglia
aus der Gesellschaft Jesu forniulirte den Gegenstand in seinem neuesten Werke
(Rom und die „erstgeborenen Söhne" des h. Vaters konnten natürlich
der Welt nicht das ärgerliche Schauspiel geben, anders zu stimmen als zu
stimmen war. Passaglia sagt: „Es ist alles rücksichtlich der Gnade und
Heiligkeit der h. Jungfrau als ein Wunder anzusehen, und zwar als ein
unaussprechliches Wunder, als das größte der Wunder, als ein Schatz von
Charismen (Gnadengaben) und als eine verborgene Tiefe von Gnaden."
Damit fällt alles Weitere weg und bleibt nur die Opportunist und das
äußere Verfahren bei der Aufstellung des Dogma übrig. In dem Verfahren
wollte man bekanntlich eine vollständige Revolution der Kirchenverfassung im
absolutistischen Sinne erblicken,, indem nach den Lehren anerkannter Kirchen¬
lehrer (z. B. Walter) nur ein allgemeines Concilium, nicht aber der Papst
und eine Versammlung wie die in Rom versammelt gewesene endgiltige Aus¬
sprüche, was Glaubenswahrheiten seien, thun könne. Vielleicht war es eben
nur um den Gegenbeweis dieser Meinung zu thun, und — dem Muthigen
gehört die Welt!

Ein Curiosum wollen wir noch erwähnen, nämlich die angeblich mehr als
ein Jahrhundert alte und vom „Univers" ausgegrabene Prophezeihung über
das besprochene Dogma, wonach es in einer Woche verkündet werden sollte,
die keinen Freitag hätte, und in einer Epoche, welche eine große Revolution
in dem chinesischen Reiche, die Erschütterung, wenn nicht den Fall des otto-
manischen Reiches, große Kriege zwischen den christlichen Fürsten u. dergl.
sehen würde? So wörtlich schön ist noch keine Prophezeihung in Erfüllung
gegangen! Der Tag der Verkündigung des Dogma war der Freitag des


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[0380] voller Erörterungen überlassend, bleibt für die allgemeine Betrachtung Haupt¬ sache der Umstand, daß man eine so lange offengehaltene Frage grade jetzt glaubte nach der einen Seite hin in päpstlicher Machtvollkommenheit ein für alle Mal entscheiden zu müssen und zu können. Ob es ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand sei, darnach fragt die Kirche nichts; am wenigsten, wenn diese Ansicht aus Ketzermund kommt. Ob es ein „gewagter" Angriff, muß die Zeit lehren. Eben dadurch hat das Ganze fast mehr ein culturgeschicht¬ liches Interesse als ein kirchliches, und erlaubt oder fordert auch ein Laien¬ urtheil. Es ist ein vielfach noch verbreiteter, freilich längst als solcher nach¬ gewiesener Irrthum, daß die römische Kirche in Annahme und Verwerfung von Glaubenssätzen eine stete Consequenz zeige. Die Geschichte der Kirche zeigt hinlänglich, wie man früher oft angenommen, was später verflucht wurde, und ebenso ercommunicirt, was nachher als allein wahr zur Geltung kam. Man hielt dies Mal ein neues Dogma d. h. eine feierliche Entscheidung sür nöthig und räthlich, und man traf sie. An verwendbaren Material dazu kann es nicht fehlen; die Theologen haben dafür gesorgt. Karl Passaglia aus der Gesellschaft Jesu forniulirte den Gegenstand in seinem neuesten Werke (Rom und die „erstgeborenen Söhne" des h. Vaters konnten natürlich der Welt nicht das ärgerliche Schauspiel geben, anders zu stimmen als zu stimmen war. Passaglia sagt: „Es ist alles rücksichtlich der Gnade und Heiligkeit der h. Jungfrau als ein Wunder anzusehen, und zwar als ein unaussprechliches Wunder, als das größte der Wunder, als ein Schatz von Charismen (Gnadengaben) und als eine verborgene Tiefe von Gnaden." Damit fällt alles Weitere weg und bleibt nur die Opportunist und das äußere Verfahren bei der Aufstellung des Dogma übrig. In dem Verfahren wollte man bekanntlich eine vollständige Revolution der Kirchenverfassung im absolutistischen Sinne erblicken,, indem nach den Lehren anerkannter Kirchen¬ lehrer (z. B. Walter) nur ein allgemeines Concilium, nicht aber der Papst und eine Versammlung wie die in Rom versammelt gewesene endgiltige Aus¬ sprüche, was Glaubenswahrheiten seien, thun könne. Vielleicht war es eben nur um den Gegenbeweis dieser Meinung zu thun, und — dem Muthigen gehört die Welt! Ein Curiosum wollen wir noch erwähnen, nämlich die angeblich mehr als ein Jahrhundert alte und vom „Univers" ausgegrabene Prophezeihung über das besprochene Dogma, wonach es in einer Woche verkündet werden sollte, die keinen Freitag hätte, und in einer Epoche, welche eine große Revolution in dem chinesischen Reiche, die Erschütterung, wenn nicht den Fall des otto- manischen Reiches, große Kriege zwischen den christlichen Fürsten u. dergl. sehen würde? So wörtlich schön ist noch keine Prophezeihung in Erfüllung gegangen! Der Tag der Verkündigung des Dogma war der Freitag des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/380>, abgerufen am 22.07.2024.