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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Massen der zarischen Länder eigenthümlich ist, und schwerlich hat die russische
Staatskunst isganz gewiß mindestens nicht in näher liegender Zukunft) hier
Aussicht, das zu erreichen, was sie im Norden deS Kaukasus erstrebt, jene Ein¬
heit des Volkes nämlich, welche zumeist nur da sich erzielen läßt, wo sie von der
anderen Einheit der Bodennatur unterstützt wird.

Aus diesen Umständen folgert sich, baß die Politik deS Zaren in Trans-
kaukasien sich im Allgemeinen durchaus eine andere Aufgabe zu stellen hat, wie
im eigentlichen Rußland; daß jene Länder anders zunehmen, anzusehen und mit
ihnen anderes zu bezwecken ist. Sie werden kaum jemals dem großen natio¬
nalen Ganzen des russischen Reiches, und zwar schon darum nicht, abgesehen
von allen Naturhindernissen, die einer innigen Verbindung entgegenstehen,
einverleibt werden, weil auf dem südwärtigen Hange des Scheidegebirges eine
andere, von wesentlich verschiedenen Impulsen bewegte Welt, der Orient, ihren
Anfang nimmt. In dieser Hinsicht muß, denke ich, Transkaukasien als die
erste, sozusagen detaschirte Basis angesehen werden, welche Nußland in eine
Region, die seinen Hauptlandesmassen wenig verwandt und entschieden unassi-
milationsfähig ist, vorgeschoben hat, um jene von ihr aus im Wege des syste¬
matischen Vorwärtsgreifens sich zu unterwerfen.

Es durfte anfangs als sehr zweifelhaft erscheinen, ob der gegenwärtige
Krieg Nußland hierzu die erwünschte Gelegenheit bieten werde. Wenn Oestreich
gegen den Zaren zur Mitwirkung zu bestimmen gewesen wäre, würde mindestens
die englische Waffenmacht aus der Krim herausgezogen werden und diese dis¬
poniblen Truppen auf der Linie von Kars oder bei Batna haben verwendet
werden können, in welchen beiden Fällen es ziemlich unwahrscheinlich gewesen
wäre, daß der russische Feldzug über Alerandropol vorrückte. Indeß nahmen
die Dinge infolge des Nichtbeitritts Oestreichs einen Verlauf, welcher den
Nüssen die Erreichung ihrer nächsten Absichten sehr erleichterte. Es ist be¬
merkenswert!), daß sie erst dann dazu schritten, nachdem sich das Cabinet zu
Wien ausreichend bestimmt über seine demnächst zu verfolgende Politik aus¬
gesprochen hatte.

Kars ist die Mitte eines kleineren Landesabschnittes, der, zumal nach
Westen und Süden, von ziemlich steilen Bergketten umgrenzt wird. Als ein¬
zig befestigter Punkt innerhalb dieses Abschnitts ist sein Fall die nothwendige
Vorbedingung der Unterwerfung des ersteren. Die Russen werden, nachdem
sie in Kars ihren Einzug gehalten, damit ein Gebiet von etwa 330 in Meilen
mit einem einzigen Schlage und ohne weiteren Widerstand in Besitz nehmen,
und zwar werden ihre Vorposten bis auf die Hälfte des Weges zwischen
Alerandropol und Erzerum vorgelangen, ohne daß ihnen das Terrain, wie es
der Karte nach sich darstellt, türkischerseits streitig gemacht werden könnte.
Auf der Grenze des Sandschaks von Kars wird hierzu der Soghanly Dagh


Massen der zarischen Länder eigenthümlich ist, und schwerlich hat die russische
Staatskunst isganz gewiß mindestens nicht in näher liegender Zukunft) hier
Aussicht, das zu erreichen, was sie im Norden deS Kaukasus erstrebt, jene Ein¬
heit des Volkes nämlich, welche zumeist nur da sich erzielen läßt, wo sie von der
anderen Einheit der Bodennatur unterstützt wird.

Aus diesen Umständen folgert sich, baß die Politik deS Zaren in Trans-
kaukasien sich im Allgemeinen durchaus eine andere Aufgabe zu stellen hat, wie
im eigentlichen Rußland; daß jene Länder anders zunehmen, anzusehen und mit
ihnen anderes zu bezwecken ist. Sie werden kaum jemals dem großen natio¬
nalen Ganzen des russischen Reiches, und zwar schon darum nicht, abgesehen
von allen Naturhindernissen, die einer innigen Verbindung entgegenstehen,
einverleibt werden, weil auf dem südwärtigen Hange des Scheidegebirges eine
andere, von wesentlich verschiedenen Impulsen bewegte Welt, der Orient, ihren
Anfang nimmt. In dieser Hinsicht muß, denke ich, Transkaukasien als die
erste, sozusagen detaschirte Basis angesehen werden, welche Nußland in eine
Region, die seinen Hauptlandesmassen wenig verwandt und entschieden unassi-
milationsfähig ist, vorgeschoben hat, um jene von ihr aus im Wege des syste¬
matischen Vorwärtsgreifens sich zu unterwerfen.

Es durfte anfangs als sehr zweifelhaft erscheinen, ob der gegenwärtige
Krieg Nußland hierzu die erwünschte Gelegenheit bieten werde. Wenn Oestreich
gegen den Zaren zur Mitwirkung zu bestimmen gewesen wäre, würde mindestens
die englische Waffenmacht aus der Krim herausgezogen werden und diese dis¬
poniblen Truppen auf der Linie von Kars oder bei Batna haben verwendet
werden können, in welchen beiden Fällen es ziemlich unwahrscheinlich gewesen
wäre, daß der russische Feldzug über Alerandropol vorrückte. Indeß nahmen
die Dinge infolge des Nichtbeitritts Oestreichs einen Verlauf, welcher den
Nüssen die Erreichung ihrer nächsten Absichten sehr erleichterte. Es ist be¬
merkenswert!), daß sie erst dann dazu schritten, nachdem sich das Cabinet zu
Wien ausreichend bestimmt über seine demnächst zu verfolgende Politik aus¬
gesprochen hatte.

Kars ist die Mitte eines kleineren Landesabschnittes, der, zumal nach
Westen und Süden, von ziemlich steilen Bergketten umgrenzt wird. Als ein¬
zig befestigter Punkt innerhalb dieses Abschnitts ist sein Fall die nothwendige
Vorbedingung der Unterwerfung des ersteren. Die Russen werden, nachdem
sie in Kars ihren Einzug gehalten, damit ein Gebiet von etwa 330 in Meilen
mit einem einzigen Schlage und ohne weiteren Widerstand in Besitz nehmen,
und zwar werden ihre Vorposten bis auf die Hälfte des Weges zwischen
Alerandropol und Erzerum vorgelangen, ohne daß ihnen das Terrain, wie es
der Karte nach sich darstellt, türkischerseits streitig gemacht werden könnte.
Auf der Grenze des Sandschaks von Kars wird hierzu der Soghanly Dagh


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[0230] Massen der zarischen Länder eigenthümlich ist, und schwerlich hat die russische Staatskunst isganz gewiß mindestens nicht in näher liegender Zukunft) hier Aussicht, das zu erreichen, was sie im Norden deS Kaukasus erstrebt, jene Ein¬ heit des Volkes nämlich, welche zumeist nur da sich erzielen läßt, wo sie von der anderen Einheit der Bodennatur unterstützt wird. Aus diesen Umständen folgert sich, baß die Politik deS Zaren in Trans- kaukasien sich im Allgemeinen durchaus eine andere Aufgabe zu stellen hat, wie im eigentlichen Rußland; daß jene Länder anders zunehmen, anzusehen und mit ihnen anderes zu bezwecken ist. Sie werden kaum jemals dem großen natio¬ nalen Ganzen des russischen Reiches, und zwar schon darum nicht, abgesehen von allen Naturhindernissen, die einer innigen Verbindung entgegenstehen, einverleibt werden, weil auf dem südwärtigen Hange des Scheidegebirges eine andere, von wesentlich verschiedenen Impulsen bewegte Welt, der Orient, ihren Anfang nimmt. In dieser Hinsicht muß, denke ich, Transkaukasien als die erste, sozusagen detaschirte Basis angesehen werden, welche Nußland in eine Region, die seinen Hauptlandesmassen wenig verwandt und entschieden unassi- milationsfähig ist, vorgeschoben hat, um jene von ihr aus im Wege des syste¬ matischen Vorwärtsgreifens sich zu unterwerfen. Es durfte anfangs als sehr zweifelhaft erscheinen, ob der gegenwärtige Krieg Nußland hierzu die erwünschte Gelegenheit bieten werde. Wenn Oestreich gegen den Zaren zur Mitwirkung zu bestimmen gewesen wäre, würde mindestens die englische Waffenmacht aus der Krim herausgezogen werden und diese dis¬ poniblen Truppen auf der Linie von Kars oder bei Batna haben verwendet werden können, in welchen beiden Fällen es ziemlich unwahrscheinlich gewesen wäre, daß der russische Feldzug über Alerandropol vorrückte. Indeß nahmen die Dinge infolge des Nichtbeitritts Oestreichs einen Verlauf, welcher den Nüssen die Erreichung ihrer nächsten Absichten sehr erleichterte. Es ist be¬ merkenswert!), daß sie erst dann dazu schritten, nachdem sich das Cabinet zu Wien ausreichend bestimmt über seine demnächst zu verfolgende Politik aus¬ gesprochen hatte. Kars ist die Mitte eines kleineren Landesabschnittes, der, zumal nach Westen und Süden, von ziemlich steilen Bergketten umgrenzt wird. Als ein¬ zig befestigter Punkt innerhalb dieses Abschnitts ist sein Fall die nothwendige Vorbedingung der Unterwerfung des ersteren. Die Russen werden, nachdem sie in Kars ihren Einzug gehalten, damit ein Gebiet von etwa 330 in Meilen mit einem einzigen Schlage und ohne weiteren Widerstand in Besitz nehmen, und zwar werden ihre Vorposten bis auf die Hälfte des Weges zwischen Alerandropol und Erzerum vorgelangen, ohne daß ihnen das Terrain, wie es der Karte nach sich darstellt, türkischerseits streitig gemacht werden könnte. Auf der Grenze des Sandschaks von Kars wird hierzu der Soghanly Dagh

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/230>, abgerufen am 22.12.2024.