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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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reicht und also im Ganzen unschädlich ist. Man trägt weder richtige noch
falsche Begriffe davon, man hat sich nur von dem Zauber der Sprache ein¬
wiegen lassen. -- Wir wollen das Schlußurtheil Lamartines über die Be¬
deutung jener Zeit hier folgen lassen: "Die constituirende Versammlung hatte
einen Mangel an Einsicht oder an Willenskraft bewiesen, als sie den Tag
nach dem 1i. Juli versäumte, einen urmächtigen König und einen verdächti¬
gen Hof unter höflichen Formen zu entfernen und unter einem beliebigen
Namen die Diktatur in die Hände zu nehmen. Freilich konnte sie diese Dic-
tatur nicht selbst ausüben, denn die Versammlungen haben tausend Zungen,
aber keine Hände, sie denken, aber sie handeln nicht, wenn sie sich nicht, wie
der Nationalconvent, in einen unverantwortlichen Ausschuß concentriren, der
an Stelle der Dictatur die Tyrannei setzt. Aber es standen der constituiren-
den Versammlung Männer zu Gebot, die durch ihren Geist, ihren Rang
und ihre Popularität hinreichend dazu bestimmt waren, zeitweise über die
Nation jene durch kein Gesetz beschränkte Magistratur auszuüben, welche
alle Völker in Zeiten der höchsten Noth zu ihrem Wohl für nothwendig er¬
achtet haben. So war die Lage und das Bedürfniß Frankreichs 1790.
Zur Schande der Staatsmänner dieser Versammlung muß man sagen, sie
begriffen ihre Aufgabe nicht; nur die Volksführer begriffen sie. Erleuchtet
durch die revolutionäre Flamme, die sie zugleich begeisterte und verzehrte, waren
Marat, Robespierre und Danton die einzigen, welche damals dieses Mittel
vorschlugen, das allein der Revolution Kraft, Gedeihen und vielleicht Mäßi¬
gung geben konnte. Zwischen Mirabeau, Lafayette und dem Herzog von
Orleans, die alle drei zur Dictatur berufen schienen, mußte die Versammlung
sich entscheiden. Die Natur hatte sich für Mirabeau erklärt, die Popularität
für Lafayette. Der eine wie der andere konnte die Verantwortlichkeit über sich
nehmen, Frankreich in Belagerungszustand zu erklären, während es seine
Organe erneuerte und sein Leben auf der Schwebe stand. Mirabeau war
dieser Stellung als Staatsmann, Lafayette als Patriot gewachsen. Der eine
konnte steigen wie Marius, der andere abdanken wie Sulla. Der erste wäre
uns lieber gewesen, aber beide waren der unvermeidlichen Anarchie vorzu¬
ziehen, welche die Monarchie, die Republik, die Revolution und Frankreich ver¬
schlingen sollte. -- Der Himmel und die menschliche Thorheit haben anders
entschieden. Indem man diese traurige und doch erhabene Geschichte schreibt,
wird man bald von Bewunderung der Philosophie, die sie hervorrief, ergriffen,
bald von Schmerz über die Ereignisse, die sie verwirren. Ueberall sagt man:
Ruhm sei der Revolution, Nachsicht den Menschen. So ists auch in der Natur.
Die Ideen sind göttlich, die Menschen sind Menschen. Das Gewicht der Idee,
die sie tragen, erdrückt sie; sie tragen sie einige Schritte, dann lassen sie sie
fallen in die Erschöpfung oder ins Blut. Es bedarf Generationen, um eine


reicht und also im Ganzen unschädlich ist. Man trägt weder richtige noch
falsche Begriffe davon, man hat sich nur von dem Zauber der Sprache ein¬
wiegen lassen. — Wir wollen das Schlußurtheil Lamartines über die Be¬
deutung jener Zeit hier folgen lassen: „Die constituirende Versammlung hatte
einen Mangel an Einsicht oder an Willenskraft bewiesen, als sie den Tag
nach dem 1i. Juli versäumte, einen urmächtigen König und einen verdächti¬
gen Hof unter höflichen Formen zu entfernen und unter einem beliebigen
Namen die Diktatur in die Hände zu nehmen. Freilich konnte sie diese Dic-
tatur nicht selbst ausüben, denn die Versammlungen haben tausend Zungen,
aber keine Hände, sie denken, aber sie handeln nicht, wenn sie sich nicht, wie
der Nationalconvent, in einen unverantwortlichen Ausschuß concentriren, der
an Stelle der Dictatur die Tyrannei setzt. Aber es standen der constituiren-
den Versammlung Männer zu Gebot, die durch ihren Geist, ihren Rang
und ihre Popularität hinreichend dazu bestimmt waren, zeitweise über die
Nation jene durch kein Gesetz beschränkte Magistratur auszuüben, welche
alle Völker in Zeiten der höchsten Noth zu ihrem Wohl für nothwendig er¬
achtet haben. So war die Lage und das Bedürfniß Frankreichs 1790.
Zur Schande der Staatsmänner dieser Versammlung muß man sagen, sie
begriffen ihre Aufgabe nicht; nur die Volksführer begriffen sie. Erleuchtet
durch die revolutionäre Flamme, die sie zugleich begeisterte und verzehrte, waren
Marat, Robespierre und Danton die einzigen, welche damals dieses Mittel
vorschlugen, das allein der Revolution Kraft, Gedeihen und vielleicht Mäßi¬
gung geben konnte. Zwischen Mirabeau, Lafayette und dem Herzog von
Orleans, die alle drei zur Dictatur berufen schienen, mußte die Versammlung
sich entscheiden. Die Natur hatte sich für Mirabeau erklärt, die Popularität
für Lafayette. Der eine wie der andere konnte die Verantwortlichkeit über sich
nehmen, Frankreich in Belagerungszustand zu erklären, während es seine
Organe erneuerte und sein Leben auf der Schwebe stand. Mirabeau war
dieser Stellung als Staatsmann, Lafayette als Patriot gewachsen. Der eine
konnte steigen wie Marius, der andere abdanken wie Sulla. Der erste wäre
uns lieber gewesen, aber beide waren der unvermeidlichen Anarchie vorzu¬
ziehen, welche die Monarchie, die Republik, die Revolution und Frankreich ver¬
schlingen sollte. — Der Himmel und die menschliche Thorheit haben anders
entschieden. Indem man diese traurige und doch erhabene Geschichte schreibt,
wird man bald von Bewunderung der Philosophie, die sie hervorrief, ergriffen,
bald von Schmerz über die Ereignisse, die sie verwirren. Ueberall sagt man:
Ruhm sei der Revolution, Nachsicht den Menschen. So ists auch in der Natur.
Die Ideen sind göttlich, die Menschen sind Menschen. Das Gewicht der Idee,
die sie tragen, erdrückt sie; sie tragen sie einige Schritte, dann lassen sie sie
fallen in die Erschöpfung oder ins Blut. Es bedarf Generationen, um eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/214>, abgerufen am 22.12.2024.