Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und der sich zuletzt in eine Heuschrecke verwandelte. Sie mögen nur bei Zeiten
ein Comprvmissum mit dem Weltgeist schließen, ehe dieser sie und mit ihnen
einen sehr edlen Theil seiner selbst stürmisch über Bord wirst. Denn trotz
der vielen Charlatans, welche jede neue Richtung in ihren Anfängen begleiten,
ist eben der Realismus kein Hirngespinst einzelner Thoren, sondern der Aus¬
druck einer ganzen, ungeheuren Weltrichtung; man braucht nur den Bücher¬
markt zu überschauen und die Masse der englischen und naturwissenschaftlich-
mathematischen Werke und das Gedränge der Käufer zu sehn, während sich
vor der classischen Bude die Waare und die Kunden zählen lassen. Je länger
sich beide Richtungen feindselig gegenüberstehn, destomehr, fürchte ich, wird
die alte in starrer Abstraction dastehen, destomehr frisches Talent wird sich
der jüngeren zuwenden, und dadurch jene zu einer alten Scharteke werden,
ohne daß diese aus ihrer Verflachung gerissen wird. Man scheue sich doch
nicht vor weisem Nachgeben allerseits, nehme ebensowol das Neue quantitativ
durch Errichtung ordentlicher Lehrstühle für neuere Sprachen, qualitativ durch
Ferichaltung von jener abstrusen Gelehrsamkeit in das Universitätsleben auf,
als lasse man das Alte in der gesammten Gymnasialbildung nicht untergehn.
Da nun aber einmal zwei Lager da sind, so ist es das Vernünftigste, durch
Beschränkung und Zusatz eine gewisse Ähnlichkeit hervorzurufen, so daß die¬
selben Ingredienzien mit anderer quantitativer Mischung hier und dort vor¬
handen sind. Ob dies denn nur eine Uebergangsstufe ist; oder ob die eine
Bahn ganz in die andere verlausen wird, steht bei Gott, wir Menschen aber
sollen das Unsrige thun, die Leidenschaftlichkeit des Streites, soviel an uns ist,
zu verhindern.




Correspondenzen.
Aus Konstantinopel.

-- Da ich Ihnen an den beiden letztvergan¬
genen Posttagcn keinen Wochenbericht zusendete, hatte ich keine Gelegenheit, des gro¬
ßen Brandes Erwähnung zu thun, der am 24. v. M. die Umgegend des Ak-Serai
im eigentlichen Konstantinopel verwüstete und nach den seither hier angestellten Er¬
mittlungen nicht viel weniger wie viertausend Häuser und Nebcnbauten in Asche
legte. Während meines hiesigen Aufenthaltes erlebte ich keine ähnlich verheerende
Feuersbrunst-, denn die des Jahres 185-1, welche den Stadttheil betraf, wo die
Achmcdmvschee steht, stand um mehr als tausend Häuser hinter jener zurück.

Es war um 1l Uhr Vormittags, am erwähnten I4. Juni, als die Kanonen
des Gangin Koschk den Ausbruch des Brandes verkündeten. Die Fahnen, welche
man dicht unter dem Kopf des hohen Galatathurmes flattern sah, wiesen nach
Stambul hin. Bald konnte man von meiner vor Pera gelegenen Wohnung aus


und der sich zuletzt in eine Heuschrecke verwandelte. Sie mögen nur bei Zeiten
ein Comprvmissum mit dem Weltgeist schließen, ehe dieser sie und mit ihnen
einen sehr edlen Theil seiner selbst stürmisch über Bord wirst. Denn trotz
der vielen Charlatans, welche jede neue Richtung in ihren Anfängen begleiten,
ist eben der Realismus kein Hirngespinst einzelner Thoren, sondern der Aus¬
druck einer ganzen, ungeheuren Weltrichtung; man braucht nur den Bücher¬
markt zu überschauen und die Masse der englischen und naturwissenschaftlich-
mathematischen Werke und das Gedränge der Käufer zu sehn, während sich
vor der classischen Bude die Waare und die Kunden zählen lassen. Je länger
sich beide Richtungen feindselig gegenüberstehn, destomehr, fürchte ich, wird
die alte in starrer Abstraction dastehen, destomehr frisches Talent wird sich
der jüngeren zuwenden, und dadurch jene zu einer alten Scharteke werden,
ohne daß diese aus ihrer Verflachung gerissen wird. Man scheue sich doch
nicht vor weisem Nachgeben allerseits, nehme ebensowol das Neue quantitativ
durch Errichtung ordentlicher Lehrstühle für neuere Sprachen, qualitativ durch
Ferichaltung von jener abstrusen Gelehrsamkeit in das Universitätsleben auf,
als lasse man das Alte in der gesammten Gymnasialbildung nicht untergehn.
Da nun aber einmal zwei Lager da sind, so ist es das Vernünftigste, durch
Beschränkung und Zusatz eine gewisse Ähnlichkeit hervorzurufen, so daß die¬
selben Ingredienzien mit anderer quantitativer Mischung hier und dort vor¬
handen sind. Ob dies denn nur eine Uebergangsstufe ist; oder ob die eine
Bahn ganz in die andere verlausen wird, steht bei Gott, wir Menschen aber
sollen das Unsrige thun, die Leidenschaftlichkeit des Streites, soviel an uns ist,
zu verhindern.




Correspondenzen.
Aus Konstantinopel.

— Da ich Ihnen an den beiden letztvergan¬
genen Posttagcn keinen Wochenbericht zusendete, hatte ich keine Gelegenheit, des gro¬
ßen Brandes Erwähnung zu thun, der am 24. v. M. die Umgegend des Ak-Serai
im eigentlichen Konstantinopel verwüstete und nach den seither hier angestellten Er¬
mittlungen nicht viel weniger wie viertausend Häuser und Nebcnbauten in Asche
legte. Während meines hiesigen Aufenthaltes erlebte ich keine ähnlich verheerende
Feuersbrunst-, denn die des Jahres 185-1, welche den Stadttheil betraf, wo die
Achmcdmvschee steht, stand um mehr als tausend Häuser hinter jener zurück.

Es war um 1l Uhr Vormittags, am erwähnten I4. Juni, als die Kanonen
des Gangin Koschk den Ausbruch des Brandes verkündeten. Die Fahnen, welche
man dicht unter dem Kopf des hohen Galatathurmes flattern sah, wiesen nach
Stambul hin. Bald konnte man von meiner vor Pera gelegenen Wohnung aus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100078"/>
          <p xml:id="ID_470" prev="#ID_469"> und der sich zuletzt in eine Heuschrecke verwandelte. Sie mögen nur bei Zeiten<lb/>
ein Comprvmissum mit dem Weltgeist schließen, ehe dieser sie und mit ihnen<lb/>
einen sehr edlen Theil seiner selbst stürmisch über Bord wirst. Denn trotz<lb/>
der vielen Charlatans, welche jede neue Richtung in ihren Anfängen begleiten,<lb/>
ist eben der Realismus kein Hirngespinst einzelner Thoren, sondern der Aus¬<lb/>
druck einer ganzen, ungeheuren Weltrichtung; man braucht nur den Bücher¬<lb/>
markt zu überschauen und die Masse der englischen und naturwissenschaftlich-<lb/>
mathematischen Werke und das Gedränge der Käufer zu sehn, während sich<lb/>
vor der classischen Bude die Waare und die Kunden zählen lassen. Je länger<lb/>
sich beide Richtungen feindselig gegenüberstehn, destomehr, fürchte ich, wird<lb/>
die alte in starrer Abstraction dastehen, destomehr frisches Talent wird sich<lb/>
der jüngeren zuwenden, und dadurch jene zu einer alten Scharteke werden,<lb/>
ohne daß diese aus ihrer Verflachung gerissen wird. Man scheue sich doch<lb/>
nicht vor weisem Nachgeben allerseits, nehme ebensowol das Neue quantitativ<lb/>
durch Errichtung ordentlicher Lehrstühle für neuere Sprachen, qualitativ durch<lb/>
Ferichaltung von jener abstrusen Gelehrsamkeit in das Universitätsleben auf,<lb/>
als lasse man das Alte in der gesammten Gymnasialbildung nicht untergehn.<lb/>
Da nun aber einmal zwei Lager da sind, so ist es das Vernünftigste, durch<lb/>
Beschränkung und Zusatz eine gewisse Ähnlichkeit hervorzurufen, so daß die¬<lb/>
selben Ingredienzien mit anderer quantitativer Mischung hier und dort vor¬<lb/>
handen sind. Ob dies denn nur eine Uebergangsstufe ist; oder ob die eine<lb/>
Bahn ganz in die andere verlausen wird, steht bei Gott, wir Menschen aber<lb/>
sollen das Unsrige thun, die Leidenschaftlichkeit des Streites, soviel an uns ist,<lb/>
zu verhindern.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Correspondenzen.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Aus Konstantinopel. </head>
            <p xml:id="ID_471"> &#x2014; Da ich Ihnen an den beiden letztvergan¬<lb/>
genen Posttagcn keinen Wochenbericht zusendete, hatte ich keine Gelegenheit, des gro¬<lb/>
ßen Brandes Erwähnung zu thun, der am 24. v. M. die Umgegend des Ak-Serai<lb/>
im eigentlichen Konstantinopel verwüstete und nach den seither hier angestellten Er¬<lb/>
mittlungen nicht viel weniger wie viertausend Häuser und Nebcnbauten in Asche<lb/>
legte. Während meines hiesigen Aufenthaltes erlebte ich keine ähnlich verheerende<lb/>
Feuersbrunst-, denn die des Jahres 185-1, welche den Stadttheil betraf, wo die<lb/>
Achmcdmvschee steht, stand um mehr als tausend Häuser hinter jener zurück.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_472" next="#ID_473"> Es war um 1l Uhr Vormittags, am erwähnten I4. Juni, als die Kanonen<lb/>
des Gangin Koschk den Ausbruch des Brandes verkündeten. Die Fahnen, welche<lb/>
man dicht unter dem Kopf des hohen Galatathurmes flattern sah, wiesen nach<lb/>
Stambul hin.  Bald konnte man von meiner vor Pera gelegenen Wohnung aus</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0158] und der sich zuletzt in eine Heuschrecke verwandelte. Sie mögen nur bei Zeiten ein Comprvmissum mit dem Weltgeist schließen, ehe dieser sie und mit ihnen einen sehr edlen Theil seiner selbst stürmisch über Bord wirst. Denn trotz der vielen Charlatans, welche jede neue Richtung in ihren Anfängen begleiten, ist eben der Realismus kein Hirngespinst einzelner Thoren, sondern der Aus¬ druck einer ganzen, ungeheuren Weltrichtung; man braucht nur den Bücher¬ markt zu überschauen und die Masse der englischen und naturwissenschaftlich- mathematischen Werke und das Gedränge der Käufer zu sehn, während sich vor der classischen Bude die Waare und die Kunden zählen lassen. Je länger sich beide Richtungen feindselig gegenüberstehn, destomehr, fürchte ich, wird die alte in starrer Abstraction dastehen, destomehr frisches Talent wird sich der jüngeren zuwenden, und dadurch jene zu einer alten Scharteke werden, ohne daß diese aus ihrer Verflachung gerissen wird. Man scheue sich doch nicht vor weisem Nachgeben allerseits, nehme ebensowol das Neue quantitativ durch Errichtung ordentlicher Lehrstühle für neuere Sprachen, qualitativ durch Ferichaltung von jener abstrusen Gelehrsamkeit in das Universitätsleben auf, als lasse man das Alte in der gesammten Gymnasialbildung nicht untergehn. Da nun aber einmal zwei Lager da sind, so ist es das Vernünftigste, durch Beschränkung und Zusatz eine gewisse Ähnlichkeit hervorzurufen, so daß die¬ selben Ingredienzien mit anderer quantitativer Mischung hier und dort vor¬ handen sind. Ob dies denn nur eine Uebergangsstufe ist; oder ob die eine Bahn ganz in die andere verlausen wird, steht bei Gott, wir Menschen aber sollen das Unsrige thun, die Leidenschaftlichkeit des Streites, soviel an uns ist, zu verhindern. Correspondenzen. Aus Konstantinopel. — Da ich Ihnen an den beiden letztvergan¬ genen Posttagcn keinen Wochenbericht zusendete, hatte ich keine Gelegenheit, des gro¬ ßen Brandes Erwähnung zu thun, der am 24. v. M. die Umgegend des Ak-Serai im eigentlichen Konstantinopel verwüstete und nach den seither hier angestellten Er¬ mittlungen nicht viel weniger wie viertausend Häuser und Nebcnbauten in Asche legte. Während meines hiesigen Aufenthaltes erlebte ich keine ähnlich verheerende Feuersbrunst-, denn die des Jahres 185-1, welche den Stadttheil betraf, wo die Achmcdmvschee steht, stand um mehr als tausend Häuser hinter jener zurück. Es war um 1l Uhr Vormittags, am erwähnten I4. Juni, als die Kanonen des Gangin Koschk den Ausbruch des Brandes verkündeten. Die Fahnen, welche man dicht unter dem Kopf des hohen Galatathurmes flattern sah, wiesen nach Stambul hin. Bald konnte man von meiner vor Pera gelegenen Wohnung aus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/158
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/158>, abgerufen am 22.12.2024.