Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Schriftsteller zu werden, und davon waren selbst weibliche Wesen nicht aus¬
genommen. Wie lange glaubte seine älteste Tochter, die allerdings am läng¬
sten und am meisten mit ihm verkehrte, von sich das Nämliche, und ihre
Pflicht, unverheirathet zu bleiben, um nach des Vaters Tode in seiner Weise
fortzufahren! ... Da sie auf die täuschendste Weise sprach wie er, schrieb wie
er, so konnte sie leicht in glücklicher Selbsttäuschung in der vollkommenen
Aneignung dieser Form sich befriedigt glauben." -- Er starb nachdem
er noch am Abend seines Lebens eine ziemlich leidenschaftliche Neigung zu
Sophie Paulus gefaßt hatte, jenem schönen Weibe, das durch den kurzen
Eheversuch mit A. W. Schlegel so unglücklich wurde.




Oestreich nach den wiener Verträgen.^)

Andauernde Volks- und Verfassungszustande sind stets mehr die Ursache
als die Wirkung der Negierungösysteme, beide zusammen sind die Wirkungen
der Volksnatur und übermächtiger allgemeiner Weltverhältnisse. Die deutsch,--
östreichischen Lande hatten fortwährend die Herrschaft der Ungarn und Böhmen,
dann der Türkei" von sich abzuwehren. Unter diesem Druck konnte kein städti¬
sches Wesen, kein reiches und unabhängiges Bürgerthum, keine große Nation
sich bilden. Als dann zur Zeit Ferdinands 1l. der östreichische und böhmische
Adel den Protestantismus ergriff, das Reich sprengen und Ungarn preisgeben
wollte, handelte es sich darum, ob in Oestreich Protestantismus lind Adels¬
herrschaft, in Ungarn türkisch-magyarische Zustände herrschen oder ob in dem
gesammten Reiche das deutsche Element erhalten werden sollte, um den, Preis
von Papstthum und Despotie. Die Nothwendigkeit, eine geschlossene Länder-
und Völkermasse in einer unumschränkten Hand zu erhalten, siegte, der
Provinzielle Geist, der Adel und seine Vorrechte wurden niedergeworfen. Nach
der verschwundenen Türkengefahr lagerte sich in Rußland eine neue Uebermacht
neben die östreichischen Lande. Daher die stumme Dienstbarkeit derselben unter
dynastische Interessen: der Volksgeist war gebrochen. Die großartigen Refvrm-
Pläne Kaiser Josephs U., die ungeheure Bewegung der französischen Revolution
gingen an Oestreich fast spurlos vorüber. Noch fand Lord Russell in
Wien die politische Erstarrung, Gleichgiltigkeit und Unwissenheit selbst über
Verhältnisse, deren Druck man empfand, vollständig. Fürst Metternich
konnte erklären, der letzte sein zu wollen, welcher der Bewegung der Welt
weichen werde.



Gervinus Geschichte deö neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen.
Band I. i8Lü>

Schriftsteller zu werden, und davon waren selbst weibliche Wesen nicht aus¬
genommen. Wie lange glaubte seine älteste Tochter, die allerdings am läng¬
sten und am meisten mit ihm verkehrte, von sich das Nämliche, und ihre
Pflicht, unverheirathet zu bleiben, um nach des Vaters Tode in seiner Weise
fortzufahren! ... Da sie auf die täuschendste Weise sprach wie er, schrieb wie
er, so konnte sie leicht in glücklicher Selbsttäuschung in der vollkommenen
Aneignung dieser Form sich befriedigt glauben." — Er starb nachdem
er noch am Abend seines Lebens eine ziemlich leidenschaftliche Neigung zu
Sophie Paulus gefaßt hatte, jenem schönen Weibe, das durch den kurzen
Eheversuch mit A. W. Schlegel so unglücklich wurde.




Oestreich nach den wiener Verträgen.^)

Andauernde Volks- und Verfassungszustande sind stets mehr die Ursache
als die Wirkung der Negierungösysteme, beide zusammen sind die Wirkungen
der Volksnatur und übermächtiger allgemeiner Weltverhältnisse. Die deutsch,--
östreichischen Lande hatten fortwährend die Herrschaft der Ungarn und Böhmen,
dann der Türkei» von sich abzuwehren. Unter diesem Druck konnte kein städti¬
sches Wesen, kein reiches und unabhängiges Bürgerthum, keine große Nation
sich bilden. Als dann zur Zeit Ferdinands 1l. der östreichische und böhmische
Adel den Protestantismus ergriff, das Reich sprengen und Ungarn preisgeben
wollte, handelte es sich darum, ob in Oestreich Protestantismus lind Adels¬
herrschaft, in Ungarn türkisch-magyarische Zustände herrschen oder ob in dem
gesammten Reiche das deutsche Element erhalten werden sollte, um den, Preis
von Papstthum und Despotie. Die Nothwendigkeit, eine geschlossene Länder-
und Völkermasse in einer unumschränkten Hand zu erhalten, siegte, der
Provinzielle Geist, der Adel und seine Vorrechte wurden niedergeworfen. Nach
der verschwundenen Türkengefahr lagerte sich in Rußland eine neue Uebermacht
neben die östreichischen Lande. Daher die stumme Dienstbarkeit derselben unter
dynastische Interessen: der Volksgeist war gebrochen. Die großartigen Refvrm-
Pläne Kaiser Josephs U., die ungeheure Bewegung der französischen Revolution
gingen an Oestreich fast spurlos vorüber. Noch fand Lord Russell in
Wien die politische Erstarrung, Gleichgiltigkeit und Unwissenheit selbst über
Verhältnisse, deren Druck man empfand, vollständig. Fürst Metternich
konnte erklären, der letzte sein zu wollen, welcher der Bewegung der Welt
weichen werde.



Gervinus Geschichte deö neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen.
Band I. i8Lü>
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0103" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100023"/>
          <p xml:id="ID_282" prev="#ID_281"> Schriftsteller zu werden, und davon waren selbst weibliche Wesen nicht aus¬<lb/>
genommen. Wie lange glaubte seine älteste Tochter, die allerdings am läng¬<lb/>
sten und am meisten mit ihm verkehrte, von sich das Nämliche, und ihre<lb/>
Pflicht, unverheirathet zu bleiben, um nach des Vaters Tode in seiner Weise<lb/>
fortzufahren! ... Da sie auf die täuschendste Weise sprach wie er, schrieb wie<lb/>
er, so konnte sie leicht in glücklicher Selbsttäuschung in der vollkommenen<lb/>
Aneignung dieser Form sich befriedigt glauben." &#x2014; Er starb nachdem<lb/>
er noch am Abend seines Lebens eine ziemlich leidenschaftliche Neigung zu<lb/>
Sophie Paulus gefaßt hatte, jenem schönen Weibe, das durch den kurzen<lb/>
Eheversuch mit A. W. Schlegel so unglücklich wurde.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Oestreich nach den wiener Verträgen.^)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_283"> Andauernde Volks- und Verfassungszustande sind stets mehr die Ursache<lb/>
als die Wirkung der Negierungösysteme, beide zusammen sind die Wirkungen<lb/>
der Volksnatur und übermächtiger allgemeiner Weltverhältnisse. Die deutsch,--<lb/>
östreichischen Lande hatten fortwährend die Herrschaft der Ungarn und Böhmen,<lb/>
dann der Türkei» von sich abzuwehren. Unter diesem Druck konnte kein städti¬<lb/>
sches Wesen, kein reiches und unabhängiges Bürgerthum, keine große Nation<lb/>
sich bilden. Als dann zur Zeit Ferdinands 1l. der östreichische und böhmische<lb/>
Adel den Protestantismus ergriff, das Reich sprengen und Ungarn preisgeben<lb/>
wollte, handelte es sich darum, ob in Oestreich Protestantismus lind Adels¬<lb/>
herrschaft, in Ungarn türkisch-magyarische Zustände herrschen oder ob in dem<lb/>
gesammten Reiche das deutsche Element erhalten werden sollte, um den, Preis<lb/>
von Papstthum und Despotie. Die Nothwendigkeit, eine geschlossene Länder-<lb/>
und Völkermasse in einer unumschränkten Hand zu erhalten, siegte, der<lb/>
Provinzielle Geist, der Adel und seine Vorrechte wurden niedergeworfen. Nach<lb/>
der verschwundenen Türkengefahr lagerte sich in Rußland eine neue Uebermacht<lb/>
neben die östreichischen Lande. Daher die stumme Dienstbarkeit derselben unter<lb/>
dynastische Interessen: der Volksgeist war gebrochen. Die großartigen Refvrm-<lb/>
Pläne Kaiser Josephs U., die ungeheure Bewegung der französischen Revolution<lb/>
gingen an Oestreich fast spurlos vorüber.  Noch fand Lord Russell in<lb/>
Wien die politische Erstarrung, Gleichgiltigkeit und Unwissenheit selbst über<lb/>
Verhältnisse, deren Druck man empfand, vollständig. Fürst Metternich<lb/>
konnte erklären, der letzte sein zu wollen, welcher der Bewegung der Welt<lb/>
weichen werde.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_4" place="foot"> Gervinus  Geschichte deö  neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen.<lb/>
Band I. i8Lü&gt;</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0103] Schriftsteller zu werden, und davon waren selbst weibliche Wesen nicht aus¬ genommen. Wie lange glaubte seine älteste Tochter, die allerdings am läng¬ sten und am meisten mit ihm verkehrte, von sich das Nämliche, und ihre Pflicht, unverheirathet zu bleiben, um nach des Vaters Tode in seiner Weise fortzufahren! ... Da sie auf die täuschendste Weise sprach wie er, schrieb wie er, so konnte sie leicht in glücklicher Selbsttäuschung in der vollkommenen Aneignung dieser Form sich befriedigt glauben." — Er starb nachdem er noch am Abend seines Lebens eine ziemlich leidenschaftliche Neigung zu Sophie Paulus gefaßt hatte, jenem schönen Weibe, das durch den kurzen Eheversuch mit A. W. Schlegel so unglücklich wurde. Oestreich nach den wiener Verträgen.^) Andauernde Volks- und Verfassungszustande sind stets mehr die Ursache als die Wirkung der Negierungösysteme, beide zusammen sind die Wirkungen der Volksnatur und übermächtiger allgemeiner Weltverhältnisse. Die deutsch,-- östreichischen Lande hatten fortwährend die Herrschaft der Ungarn und Böhmen, dann der Türkei» von sich abzuwehren. Unter diesem Druck konnte kein städti¬ sches Wesen, kein reiches und unabhängiges Bürgerthum, keine große Nation sich bilden. Als dann zur Zeit Ferdinands 1l. der östreichische und böhmische Adel den Protestantismus ergriff, das Reich sprengen und Ungarn preisgeben wollte, handelte es sich darum, ob in Oestreich Protestantismus lind Adels¬ herrschaft, in Ungarn türkisch-magyarische Zustände herrschen oder ob in dem gesammten Reiche das deutsche Element erhalten werden sollte, um den, Preis von Papstthum und Despotie. Die Nothwendigkeit, eine geschlossene Länder- und Völkermasse in einer unumschränkten Hand zu erhalten, siegte, der Provinzielle Geist, der Adel und seine Vorrechte wurden niedergeworfen. Nach der verschwundenen Türkengefahr lagerte sich in Rußland eine neue Uebermacht neben die östreichischen Lande. Daher die stumme Dienstbarkeit derselben unter dynastische Interessen: der Volksgeist war gebrochen. Die großartigen Refvrm- Pläne Kaiser Josephs U., die ungeheure Bewegung der französischen Revolution gingen an Oestreich fast spurlos vorüber. Noch fand Lord Russell in Wien die politische Erstarrung, Gleichgiltigkeit und Unwissenheit selbst über Verhältnisse, deren Druck man empfand, vollständig. Fürst Metternich konnte erklären, der letzte sein zu wollen, welcher der Bewegung der Welt weichen werde. Gervinus Geschichte deö neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen. Band I. i8Lü>

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/103
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/103>, abgerufen am 22.12.2024.