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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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es ein Anempfinder sein kann. Er mußte sich bei allen Wandlungen des
Zeitgeistes etwas montiren, aber er hat niemals den Versuch gemacht, durch
nachträgliche Klügelei den Eindruck seiner mannigfaltigen Metamorphosen zu
rechtfertigen. Zudem hat er für lebhafte, pointirte Darstellung ein unge¬
wöhnliches Talent, und das ist für die Schilderung von Stimmungen die
Hauptsache.

Er hat fast die sämmtlichen Brennpunkte unsrer Bildung in einer Zeit
berührt, wo sie für die Cultur am wichtigsten waren. In den damaligen
Versuchen, sich zur Religion aus der Nüchternheit der Aufklärung wieder zu¬
rückzufinden, unterscheiden wir zwei wesentlich voneinander verschiedene Richtun¬
gen, die zwar von Zeit zu Zeit zusammenfielen, die aber bei jeder ernsten
Veranlassung in Conflict kamen. Die eine ging vom Gemüth aus und war
im Wesentlichen eine Fortsetzung des alten Pietismus; sie wird repräsentirt
durch Jacobi, Claudius, Stollberg, Hamann, die Fürstin Galizin, Jean
Paul u. s. w., kurz den Kreis, der sich in Norddeutschland zusammenfand.
Die zweite ging von künstlerischen Bedürfnissen und vqn der naturwissenschaft¬
lichen Speculation aus. Zu ihr gehören Goethe, Schelling, Novalis, Schleier¬
macher, Fr. Schlegel. Der leidenschaftliche Bruch zwischen den beiden Rich¬
tungen erfolgte freilich erst -1809, in dem Streit zwischen Jacobi und Schelling,
man kann ihn aber in dem Briefwechsel zwischen Goethe und Jacobi sast vom
Beginn ihrer Bekanntschaft verfolgen. Steffens stand nun in der Mitte
wzischen beiden. Seine früheste Erziehung näherte ihn dem ersten Kreise,
seine naturwissenschaftlichen Arbeiten dem zweiten, und in dem beständigen
Schwanken seines Gemüths aus einem Extrem ins andere stellt sich sür uns
c"in deutlichsten das Bild von den Verirrungen jener Zeit heraus. Für die
erste Bildung jener Gegensätze waren Kiel, Jena und Halle in der Zeit, wo
sich Steffens daselbst aufhielt, bis zur Aufhebung der Universität 'Halle durch
die Franzosen die entscheidenden Orte.

Dann erfolgte in den Tagen nach der Schlacht bei Jena die innere
Wiedergeburt Deutschlands. Auch hier sehen wir Steffens mit Gemüth und
Phantasie gleichmäßig betheiligt. Er steht zuerst im Mittelpunkt der Unklaren
Verschwörungen gegen die Franzosen, dann macht er die Freiheitskriege mit,
dann arbeitet er, empört über die subjectiven Gelüste der neuen Stürmer und
Dränger, der Reaction in die Hände. In dieser Darstellung ist fast jede
Seite lehrreich, nicht für die Thatsachen, denn in dieser Beziehung ist Stef¬
fens nicht sehr genau, wie ihm denn überhaupt das, was man wissenschaftliche
Accuratesse nennt, fast ganz abging, sondern in Bezug auf die Stimmungen,
die diesen Ereignissen erst die richtige Beleuchtung gaben. sowol für die
Politische als für die literarische Geschichte der Zeit darf der gewissenhafte
Forscher dieses merkwürdige und interessante Buch nicht umgehen. --


Grenzboten. II. 7

es ein Anempfinder sein kann. Er mußte sich bei allen Wandlungen des
Zeitgeistes etwas montiren, aber er hat niemals den Versuch gemacht, durch
nachträgliche Klügelei den Eindruck seiner mannigfaltigen Metamorphosen zu
rechtfertigen. Zudem hat er für lebhafte, pointirte Darstellung ein unge¬
wöhnliches Talent, und das ist für die Schilderung von Stimmungen die
Hauptsache.

Er hat fast die sämmtlichen Brennpunkte unsrer Bildung in einer Zeit
berührt, wo sie für die Cultur am wichtigsten waren. In den damaligen
Versuchen, sich zur Religion aus der Nüchternheit der Aufklärung wieder zu¬
rückzufinden, unterscheiden wir zwei wesentlich voneinander verschiedene Richtun¬
gen, die zwar von Zeit zu Zeit zusammenfielen, die aber bei jeder ernsten
Veranlassung in Conflict kamen. Die eine ging vom Gemüth aus und war
im Wesentlichen eine Fortsetzung des alten Pietismus; sie wird repräsentirt
durch Jacobi, Claudius, Stollberg, Hamann, die Fürstin Galizin, Jean
Paul u. s. w., kurz den Kreis, der sich in Norddeutschland zusammenfand.
Die zweite ging von künstlerischen Bedürfnissen und vqn der naturwissenschaft¬
lichen Speculation aus. Zu ihr gehören Goethe, Schelling, Novalis, Schleier¬
macher, Fr. Schlegel. Der leidenschaftliche Bruch zwischen den beiden Rich¬
tungen erfolgte freilich erst -1809, in dem Streit zwischen Jacobi und Schelling,
man kann ihn aber in dem Briefwechsel zwischen Goethe und Jacobi sast vom
Beginn ihrer Bekanntschaft verfolgen. Steffens stand nun in der Mitte
wzischen beiden. Seine früheste Erziehung näherte ihn dem ersten Kreise,
seine naturwissenschaftlichen Arbeiten dem zweiten, und in dem beständigen
Schwanken seines Gemüths aus einem Extrem ins andere stellt sich sür uns
c»in deutlichsten das Bild von den Verirrungen jener Zeit heraus. Für die
erste Bildung jener Gegensätze waren Kiel, Jena und Halle in der Zeit, wo
sich Steffens daselbst aufhielt, bis zur Aufhebung der Universität 'Halle durch
die Franzosen die entscheidenden Orte.

Dann erfolgte in den Tagen nach der Schlacht bei Jena die innere
Wiedergeburt Deutschlands. Auch hier sehen wir Steffens mit Gemüth und
Phantasie gleichmäßig betheiligt. Er steht zuerst im Mittelpunkt der Unklaren
Verschwörungen gegen die Franzosen, dann macht er die Freiheitskriege mit,
dann arbeitet er, empört über die subjectiven Gelüste der neuen Stürmer und
Dränger, der Reaction in die Hände. In dieser Darstellung ist fast jede
Seite lehrreich, nicht für die Thatsachen, denn in dieser Beziehung ist Stef¬
fens nicht sehr genau, wie ihm denn überhaupt das, was man wissenschaftliche
Accuratesse nennt, fast ganz abging, sondern in Bezug auf die Stimmungen,
die diesen Ereignissen erst die richtige Beleuchtung gaben. sowol für die
Politische als für die literarische Geschichte der Zeit darf der gewissenhafte
Forscher dieses merkwürdige und interessante Buch nicht umgehen. —


Grenzboten. II. 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/57>, abgerufen am 26.06.2024.