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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Als Gott den Menschen in die Sterblichkeit verbannte, "und eine späte Wieder¬
kehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn fühlen ließ," folgte von allen
himmlischen Geistern ihm nur die Kunst, und da dem Wilden, der nur durch
die Fessel der Begierde an die Erscheinungen gebunden war, unempfunden
die schöne Seele der Natur entfloh, löste die Kunst mit leiser Hand das Bild,
den Schatten von den Dingen ab, "von ihrem Wesen abgeschieden, ihr eignes
liebliches Idol;" und ans den Freuven der Ferne, die seine Gier nicht reizten,
erkannte der Mensch zum ersten Mal seine Freiheit. Die Kunst vermählte die
verschiedenen positiven Seiten der menschlichen Natur in einem Bilde und
brachte so die wahre Religion hervor. "Der Mensch erbebte vor dem Unbe¬
kannten, er liebte seinen Wiederschein." Die Sittlichkeit wie die Wissenschaft
nährten sich an den Symbolen der Kunst; von den Schrecken des Lebens
durch das schöne Spiel befreit, lernte der Mensch das unverständliche Schick¬
sal ertragen, und als nun die Barbaren diese schöne Zeit zerstörten, wurde>
um -14. und Is. Jahrhundert) der letzte Opferbrand den entheiligten Altären
des Orients entrissen und durch ihn der neue Tag herbeigeführt. Kühne
Geister haben sich dann bemüht, durch die Macht des Gedankens dies Licht
zu nähren, aber ihre wahre Bestimmung werben sie erst erfüllt haben, wenn die
Wahrheit in gefälligem Dienst zu Füßen der Schönheit liegt.

Es ist das eine hohe und schöne Auffassung, aber sie ist nicht ganz richtig.
Nicht der frei sinnende dichterische Geist des Homer hat die griechischen Götter
geschaffen, sondern der bereits gebildete Volksgeist, der in seinem Propheten
zum höchsten, aber doch zum natürlichsten Ausdruck kam. Goethe hat später
sehr richtig gefühlt, daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es nicht
zu leiten versieht, und so möchte denn in dem herrlichen Gedicht Zueignung
durch die bescheidnere Aufgabe, die der Kunst zugetheilt wird, auch die richtigere
und dauerhaftere Bedeutung derselben ausgedrückt sein. Der schöne Schleier
der Dichtung, "aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit," kann nur aus
der Wahrheit Hand dem Menschen geschenkt werden.

Goethe hat schon in früherer Zeit vielfach die Kunst zum Gegenstand der
Dichtung gemacht, allein er bemühte sich nicht, den philosophischen Sinn der¬
selben herauszustellen, sondern ihre bestimmte endliche Erscheinung zu versinn¬
lichen, er dichtete als Künstler, nicht als Philosoph. Er gibt darin nur be¬
stimmte, aus unmittelbarer Erfahrung hergeleitete Anschauungen, auf die Ver¬
herrlichung des Kunstbegriffs an sich läßt er sich nicht ein. Das Gebiet,
welches er ausschließlich idealisirt, ist die Natur und zwar die Natur in ihrem
wissenschaftlichen. Zusammenhang. Hier ist er unermüdlich, das Leben, das in
allen einzelnen Erscheinungen pulsirt, zu vergöttlichen, sich mit inniger Liebe
in den Schoß der unendlichen Mutter zu versenken, deren Gestalt ihm bei
jeder neuen Anschauung werther und deutlicher wird. Wie es auch mit dem


Als Gott den Menschen in die Sterblichkeit verbannte, „und eine späte Wieder¬
kehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn fühlen ließ," folgte von allen
himmlischen Geistern ihm nur die Kunst, und da dem Wilden, der nur durch
die Fessel der Begierde an die Erscheinungen gebunden war, unempfunden
die schöne Seele der Natur entfloh, löste die Kunst mit leiser Hand das Bild,
den Schatten von den Dingen ab, „von ihrem Wesen abgeschieden, ihr eignes
liebliches Idol;" und ans den Freuven der Ferne, die seine Gier nicht reizten,
erkannte der Mensch zum ersten Mal seine Freiheit. Die Kunst vermählte die
verschiedenen positiven Seiten der menschlichen Natur in einem Bilde und
brachte so die wahre Religion hervor. „Der Mensch erbebte vor dem Unbe¬
kannten, er liebte seinen Wiederschein." Die Sittlichkeit wie die Wissenschaft
nährten sich an den Symbolen der Kunst; von den Schrecken des Lebens
durch das schöne Spiel befreit, lernte der Mensch das unverständliche Schick¬
sal ertragen, und als nun die Barbaren diese schöne Zeit zerstörten, wurde>
um -14. und Is. Jahrhundert) der letzte Opferbrand den entheiligten Altären
des Orients entrissen und durch ihn der neue Tag herbeigeführt. Kühne
Geister haben sich dann bemüht, durch die Macht des Gedankens dies Licht
zu nähren, aber ihre wahre Bestimmung werben sie erst erfüllt haben, wenn die
Wahrheit in gefälligem Dienst zu Füßen der Schönheit liegt.

Es ist das eine hohe und schöne Auffassung, aber sie ist nicht ganz richtig.
Nicht der frei sinnende dichterische Geist des Homer hat die griechischen Götter
geschaffen, sondern der bereits gebildete Volksgeist, der in seinem Propheten
zum höchsten, aber doch zum natürlichsten Ausdruck kam. Goethe hat später
sehr richtig gefühlt, daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es nicht
zu leiten versieht, und so möchte denn in dem herrlichen Gedicht Zueignung
durch die bescheidnere Aufgabe, die der Kunst zugetheilt wird, auch die richtigere
und dauerhaftere Bedeutung derselben ausgedrückt sein. Der schöne Schleier
der Dichtung, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit," kann nur aus
der Wahrheit Hand dem Menschen geschenkt werden.

Goethe hat schon in früherer Zeit vielfach die Kunst zum Gegenstand der
Dichtung gemacht, allein er bemühte sich nicht, den philosophischen Sinn der¬
selben herauszustellen, sondern ihre bestimmte endliche Erscheinung zu versinn¬
lichen, er dichtete als Künstler, nicht als Philosoph. Er gibt darin nur be¬
stimmte, aus unmittelbarer Erfahrung hergeleitete Anschauungen, auf die Ver¬
herrlichung des Kunstbegriffs an sich läßt er sich nicht ein. Das Gebiet,
welches er ausschließlich idealisirt, ist die Natur und zwar die Natur in ihrem
wissenschaftlichen. Zusammenhang. Hier ist er unermüdlich, das Leben, das in
allen einzelnen Erscheinungen pulsirt, zu vergöttlichen, sich mit inniger Liebe
in den Schoß der unendlichen Mutter zu versenken, deren Gestalt ihm bei
jeder neuen Anschauung werther und deutlicher wird. Wie es auch mit dem


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[0496] Als Gott den Menschen in die Sterblichkeit verbannte, „und eine späte Wieder¬ kehr zum Lichte auf schwerem Sinnenpfad ihn fühlen ließ," folgte von allen himmlischen Geistern ihm nur die Kunst, und da dem Wilden, der nur durch die Fessel der Begierde an die Erscheinungen gebunden war, unempfunden die schöne Seele der Natur entfloh, löste die Kunst mit leiser Hand das Bild, den Schatten von den Dingen ab, „von ihrem Wesen abgeschieden, ihr eignes liebliches Idol;" und ans den Freuven der Ferne, die seine Gier nicht reizten, erkannte der Mensch zum ersten Mal seine Freiheit. Die Kunst vermählte die verschiedenen positiven Seiten der menschlichen Natur in einem Bilde und brachte so die wahre Religion hervor. „Der Mensch erbebte vor dem Unbe¬ kannten, er liebte seinen Wiederschein." Die Sittlichkeit wie die Wissenschaft nährten sich an den Symbolen der Kunst; von den Schrecken des Lebens durch das schöne Spiel befreit, lernte der Mensch das unverständliche Schick¬ sal ertragen, und als nun die Barbaren diese schöne Zeit zerstörten, wurde> um -14. und Is. Jahrhundert) der letzte Opferbrand den entheiligten Altären des Orients entrissen und durch ihn der neue Tag herbeigeführt. Kühne Geister haben sich dann bemüht, durch die Macht des Gedankens dies Licht zu nähren, aber ihre wahre Bestimmung werben sie erst erfüllt haben, wenn die Wahrheit in gefälligem Dienst zu Füßen der Schönheit liegt. Es ist das eine hohe und schöne Auffassung, aber sie ist nicht ganz richtig. Nicht der frei sinnende dichterische Geist des Homer hat die griechischen Götter geschaffen, sondern der bereits gebildete Volksgeist, der in seinem Propheten zum höchsten, aber doch zum natürlichsten Ausdruck kam. Goethe hat später sehr richtig gefühlt, daß die Muse das Leben zwar gern begleitet, aber es nicht zu leiten versieht, und so möchte denn in dem herrlichen Gedicht Zueignung durch die bescheidnere Aufgabe, die der Kunst zugetheilt wird, auch die richtigere und dauerhaftere Bedeutung derselben ausgedrückt sein. Der schöne Schleier der Dichtung, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit," kann nur aus der Wahrheit Hand dem Menschen geschenkt werden. Goethe hat schon in früherer Zeit vielfach die Kunst zum Gegenstand der Dichtung gemacht, allein er bemühte sich nicht, den philosophischen Sinn der¬ selben herauszustellen, sondern ihre bestimmte endliche Erscheinung zu versinn¬ lichen, er dichtete als Künstler, nicht als Philosoph. Er gibt darin nur be¬ stimmte, aus unmittelbarer Erfahrung hergeleitete Anschauungen, auf die Ver¬ herrlichung des Kunstbegriffs an sich läßt er sich nicht ein. Das Gebiet, welches er ausschließlich idealisirt, ist die Natur und zwar die Natur in ihrem wissenschaftlichen. Zusammenhang. Hier ist er unermüdlich, das Leben, das in allen einzelnen Erscheinungen pulsirt, zu vergöttlichen, sich mit inniger Liebe in den Schoß der unendlichen Mutter zu versenken, deren Gestalt ihm bei jeder neuen Anschauung werther und deutlicher wird. Wie es auch mit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/496>, abgerufen am 25.08.2024.