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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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spricht, nicht in einer Zeit geboren zu sein, wo man noch an die Nymphen
und Dryaden glaubte, und wo alles Schöne und Kräftige auch als gut galt.
Dieser Verdruß wurde in der That nicht blos von Goethe und Schiller, son¬
dern von den meisten der damaligen Dichter empfunden, und dem verkümmerten
Pietismus jenes Zeitalters gegenüber kann man ihnen ein solches Gefühl auch
nicht verargen, da sie doch in der Wirklichkeit nicht daran dachten, dem olympi¬
schen Zeus Altäre auszurichten und das durch mühselige Arbeit gewonnene
Gesetz der Schwere durch mythische Spielereien zu ersetzen. Daß man ferner
den Gegensatz übertrieb, daß man die griechischen Götter zu concret und den
christlichen Gott zu abstnict auffaßte, wird man einer unfertigen religiösen
Bildung nachsehen, da in der Hauptsache der Gegensatz richtig getroffen ist.
Die wiedererwachende Dichtkunst strebte nach Harmonie und Idealität des
Lebens, während ihr in der herrschenden Religiosität der Glaube begegnete,
daS Leben sei an und für sich ein Jammerthal und die vermeintliche natürliche
Tugend der schlechteste Theil desselben. Gegen diese Selbstentfremdung des
menschlichen Herzens hatten sie vollkommen Recht, die Schattenwelt der griechi¬
schen Götter heraufzubeschwören.

Allein der versöhnende Schluß der zweiten Ausgabe enthält eine praktische
Wendung, die den Grundzug deS damaligen poetischen Strebens auospricht
und die wir als verfehlt und schädlich bezeichnen müssen. Im wirklichen Leben
den Göttern Brandopfer zu bringen, oder den Kalender nach homerischen
Voraussetzungen einzurichten, unternahmen unsre Dichter allerdings nicht, wol
aber versuchten sie es in der Kunst. Sowie das Gemüth in den religiösen
und wissenschaftlichen Voraussetzungen der Gegenwart keine Nahrung fand,
so glaubten sie aus denselben anch für die Kunst keinen Inhalt gewinnen zu
können, und um das Reich des Schönen herzustellen, flüchteten sie sich zu
den Todten in das Reich der Schatten, weil hier allein das wahrhaft poetische
Leben gefunden werden könne. "Das irdische Leben flieht," heißt es später
im Siegesfest, "und die Todten dauern immer."

Aber daS Leben ist nur bei den Lebendigen, aus der Schattenwelt geht
keine wahre Bewegung, aus den Gräbern keine echte Poesie hervor. Die
Wissenschaft kann uns die vergqngene Schönheit wieder herstellen, die Kunst
ist es nicht im Stande, denn sie blüht nur aus dem Glauben auf. An die
griechischen Götter, an die griechische Sittlichkeit, an das griechische Schicksal,
an die griechische Naturanschauung konnten unsre Dichter nicht glauben, sie
konnten sie also auch nicht in lebendigen Kunstwerken darstellen. Was sie
darstellten, war immer nur der Schmerz um die Verlorne Zeit der Kindheit,
nicht diese Kindheit selbst, und als unsre Poesie kräftiger wurde, entfloh sie auch
bald dieser fremden Schattenwelt und suchte sich aus eignem Grund und Boden
einzurichten.


spricht, nicht in einer Zeit geboren zu sein, wo man noch an die Nymphen
und Dryaden glaubte, und wo alles Schöne und Kräftige auch als gut galt.
Dieser Verdruß wurde in der That nicht blos von Goethe und Schiller, son¬
dern von den meisten der damaligen Dichter empfunden, und dem verkümmerten
Pietismus jenes Zeitalters gegenüber kann man ihnen ein solches Gefühl auch
nicht verargen, da sie doch in der Wirklichkeit nicht daran dachten, dem olympi¬
schen Zeus Altäre auszurichten und das durch mühselige Arbeit gewonnene
Gesetz der Schwere durch mythische Spielereien zu ersetzen. Daß man ferner
den Gegensatz übertrieb, daß man die griechischen Götter zu concret und den
christlichen Gott zu abstnict auffaßte, wird man einer unfertigen religiösen
Bildung nachsehen, da in der Hauptsache der Gegensatz richtig getroffen ist.
Die wiedererwachende Dichtkunst strebte nach Harmonie und Idealität des
Lebens, während ihr in der herrschenden Religiosität der Glaube begegnete,
daS Leben sei an und für sich ein Jammerthal und die vermeintliche natürliche
Tugend der schlechteste Theil desselben. Gegen diese Selbstentfremdung des
menschlichen Herzens hatten sie vollkommen Recht, die Schattenwelt der griechi¬
schen Götter heraufzubeschwören.

Allein der versöhnende Schluß der zweiten Ausgabe enthält eine praktische
Wendung, die den Grundzug deS damaligen poetischen Strebens auospricht
und die wir als verfehlt und schädlich bezeichnen müssen. Im wirklichen Leben
den Göttern Brandopfer zu bringen, oder den Kalender nach homerischen
Voraussetzungen einzurichten, unternahmen unsre Dichter allerdings nicht, wol
aber versuchten sie es in der Kunst. Sowie das Gemüth in den religiösen
und wissenschaftlichen Voraussetzungen der Gegenwart keine Nahrung fand,
so glaubten sie aus denselben anch für die Kunst keinen Inhalt gewinnen zu
können, und um das Reich des Schönen herzustellen, flüchteten sie sich zu
den Todten in das Reich der Schatten, weil hier allein das wahrhaft poetische
Leben gefunden werden könne. „Das irdische Leben flieht," heißt es später
im Siegesfest, „und die Todten dauern immer."

Aber daS Leben ist nur bei den Lebendigen, aus der Schattenwelt geht
keine wahre Bewegung, aus den Gräbern keine echte Poesie hervor. Die
Wissenschaft kann uns die vergqngene Schönheit wieder herstellen, die Kunst
ist es nicht im Stande, denn sie blüht nur aus dem Glauben auf. An die
griechischen Götter, an die griechische Sittlichkeit, an das griechische Schicksal,
an die griechische Naturanschauung konnten unsre Dichter nicht glauben, sie
konnten sie also auch nicht in lebendigen Kunstwerken darstellen. Was sie
darstellten, war immer nur der Schmerz um die Verlorne Zeit der Kindheit,
nicht diese Kindheit selbst, und als unsre Poesie kräftiger wurde, entfloh sie auch
bald dieser fremden Schattenwelt und suchte sich aus eignem Grund und Boden
einzurichten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/493>, abgerufen am 25.08.2024.