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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Arabesken um diese Poesie des Tons. Solange sie ihr Geheimniß in ihr Inneres
verschließen, stehen wir wie vor einer ahnungsvollen Zauberwelt, die uns um-
somehr anlockt, je dunkler es in ihr aussteht. Die Auflösung befremdet uns,
sie überzeugt uns nicht. Jemehr wir über die seltsame Vorgeschichte der
beiden Menschen nachdenken, desto tiefer empfinden wir, daß man eigentlich
ein frevelhaftes Spiel mit ihnen getrieben hat; ihre poetische Erscheinung war
ein Mißbrauch der heiligen Menschenrechte, und der Dichter ist nicht unbefangen
genug, uns diesen Zusammenhang zu verbergen.

Der tiefere Grund dieses heilsamen Mißverhältnisses wird uns deurlich,
wenn wir die Art und Weise ins Auge fassen, wie die Religion in diesem
Werk angewendet ist. Betrachten wir die Religion als das, was. sie eigentlich
sein soll, als die tiefere Quelle der Gemüthsbewegungen und der sinlichen
Bestimmung, so könnte man vom Wilhelm Meister sagen wie vom Macchiavell,
es sieht so aus, als ob das Christenthum nie in der Welt gewesen wäre. Als
Erscheinung dagegen hat es allerdings seine Stelle im Roman gefunden. Die
Vorgeschichte Augustins, die Nachgeschichte des Grafen und der Gräfin, endlich
die Bekenntnisse einer schönen Seele; in all diesen Episoden ist das Christen¬
thum als pathologische Erscheinung behandelt, als individuelle Krankheit. Dem
Anhänger Spinozas war der Naturgott die Substanz, von welcher die Men¬
schen, ihre Leidenschaften und ihre Schicksale nur die Crregungeu sind, nicht
der christliche Gott, der selbst nur als eine Erregung des Gemüths erschien.
Die Dichtung ist ein Spiegel dieser Erregungen, über die Erscheinungswelt
aber geht sie nicht hinaus; und so steht denn dieses Märchen des Lebens,
diese künstlerische Reproduction des Scheins isolirt von den Mächten der sitt¬
lichen Welt, die doch allein das Leben bestimmen.

Wenn also die Jacobi, Schlosser, Stolberg u. s. w. über die Tendenz
des Romans entrüstet waren, so kann man das von ihrem Standpunkt wol
begreifen; wie es aber mit ihrem eignen Christenthum beschaffen war, zeigt am
deutlichsten, daß sie die Bekenntnisse einer schönen Seele von diesem Anathem
ausnahmen. In Beziehung auf die Subjektivität der Pflicht standen sie auf
einer Stufe mit Goethe. Unsrer Zeit wäre, im Gegensatz zu beiden, das schöne
Wort des Plutarch einzuschärfen: "Fremdling, die Gesetze und Gebräuche
der Mensche" sind verschiede"; einigen heißt dieses schön und gut, ander"
jenes: aber das gilt allgemein, ist schön und gut sür alle, daß jeder unter
seinen Mitbürgern, was gemeine Sitte ist, verehre, und diese Ehrfurcht in allen
seinen Handlungen beweise."




Arabesken um diese Poesie des Tons. Solange sie ihr Geheimniß in ihr Inneres
verschließen, stehen wir wie vor einer ahnungsvollen Zauberwelt, die uns um-
somehr anlockt, je dunkler es in ihr aussteht. Die Auflösung befremdet uns,
sie überzeugt uns nicht. Jemehr wir über die seltsame Vorgeschichte der
beiden Menschen nachdenken, desto tiefer empfinden wir, daß man eigentlich
ein frevelhaftes Spiel mit ihnen getrieben hat; ihre poetische Erscheinung war
ein Mißbrauch der heiligen Menschenrechte, und der Dichter ist nicht unbefangen
genug, uns diesen Zusammenhang zu verbergen.

Der tiefere Grund dieses heilsamen Mißverhältnisses wird uns deurlich,
wenn wir die Art und Weise ins Auge fassen, wie die Religion in diesem
Werk angewendet ist. Betrachten wir die Religion als das, was. sie eigentlich
sein soll, als die tiefere Quelle der Gemüthsbewegungen und der sinlichen
Bestimmung, so könnte man vom Wilhelm Meister sagen wie vom Macchiavell,
es sieht so aus, als ob das Christenthum nie in der Welt gewesen wäre. Als
Erscheinung dagegen hat es allerdings seine Stelle im Roman gefunden. Die
Vorgeschichte Augustins, die Nachgeschichte des Grafen und der Gräfin, endlich
die Bekenntnisse einer schönen Seele; in all diesen Episoden ist das Christen¬
thum als pathologische Erscheinung behandelt, als individuelle Krankheit. Dem
Anhänger Spinozas war der Naturgott die Substanz, von welcher die Men¬
schen, ihre Leidenschaften und ihre Schicksale nur die Crregungeu sind, nicht
der christliche Gott, der selbst nur als eine Erregung des Gemüths erschien.
Die Dichtung ist ein Spiegel dieser Erregungen, über die Erscheinungswelt
aber geht sie nicht hinaus; und so steht denn dieses Märchen des Lebens,
diese künstlerische Reproduction des Scheins isolirt von den Mächten der sitt¬
lichen Welt, die doch allein das Leben bestimmen.

Wenn also die Jacobi, Schlosser, Stolberg u. s. w. über die Tendenz
des Romans entrüstet waren, so kann man das von ihrem Standpunkt wol
begreifen; wie es aber mit ihrem eignen Christenthum beschaffen war, zeigt am
deutlichsten, daß sie die Bekenntnisse einer schönen Seele von diesem Anathem
ausnahmen. In Beziehung auf die Subjektivität der Pflicht standen sie auf
einer Stufe mit Goethe. Unsrer Zeit wäre, im Gegensatz zu beiden, das schöne
Wort des Plutarch einzuschärfen: „Fremdling, die Gesetze und Gebräuche
der Mensche» sind verschiede»; einigen heißt dieses schön und gut, ander»
jenes: aber das gilt allgemein, ist schön und gut sür alle, daß jeder unter
seinen Mitbürgern, was gemeine Sitte ist, verehre, und diese Ehrfurcht in allen
seinen Handlungen beweise."




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[0463] Arabesken um diese Poesie des Tons. Solange sie ihr Geheimniß in ihr Inneres verschließen, stehen wir wie vor einer ahnungsvollen Zauberwelt, die uns um- somehr anlockt, je dunkler es in ihr aussteht. Die Auflösung befremdet uns, sie überzeugt uns nicht. Jemehr wir über die seltsame Vorgeschichte der beiden Menschen nachdenken, desto tiefer empfinden wir, daß man eigentlich ein frevelhaftes Spiel mit ihnen getrieben hat; ihre poetische Erscheinung war ein Mißbrauch der heiligen Menschenrechte, und der Dichter ist nicht unbefangen genug, uns diesen Zusammenhang zu verbergen. Der tiefere Grund dieses heilsamen Mißverhältnisses wird uns deurlich, wenn wir die Art und Weise ins Auge fassen, wie die Religion in diesem Werk angewendet ist. Betrachten wir die Religion als das, was. sie eigentlich sein soll, als die tiefere Quelle der Gemüthsbewegungen und der sinlichen Bestimmung, so könnte man vom Wilhelm Meister sagen wie vom Macchiavell, es sieht so aus, als ob das Christenthum nie in der Welt gewesen wäre. Als Erscheinung dagegen hat es allerdings seine Stelle im Roman gefunden. Die Vorgeschichte Augustins, die Nachgeschichte des Grafen und der Gräfin, endlich die Bekenntnisse einer schönen Seele; in all diesen Episoden ist das Christen¬ thum als pathologische Erscheinung behandelt, als individuelle Krankheit. Dem Anhänger Spinozas war der Naturgott die Substanz, von welcher die Men¬ schen, ihre Leidenschaften und ihre Schicksale nur die Crregungeu sind, nicht der christliche Gott, der selbst nur als eine Erregung des Gemüths erschien. Die Dichtung ist ein Spiegel dieser Erregungen, über die Erscheinungswelt aber geht sie nicht hinaus; und so steht denn dieses Märchen des Lebens, diese künstlerische Reproduction des Scheins isolirt von den Mächten der sitt¬ lichen Welt, die doch allein das Leben bestimmen. Wenn also die Jacobi, Schlosser, Stolberg u. s. w. über die Tendenz des Romans entrüstet waren, so kann man das von ihrem Standpunkt wol begreifen; wie es aber mit ihrem eignen Christenthum beschaffen war, zeigt am deutlichsten, daß sie die Bekenntnisse einer schönen Seele von diesem Anathem ausnahmen. In Beziehung auf die Subjektivität der Pflicht standen sie auf einer Stufe mit Goethe. Unsrer Zeit wäre, im Gegensatz zu beiden, das schöne Wort des Plutarch einzuschärfen: „Fremdling, die Gesetze und Gebräuche der Mensche» sind verschiede»; einigen heißt dieses schön und gut, ander» jenes: aber das gilt allgemein, ist schön und gut sür alle, daß jeder unter seinen Mitbürgern, was gemeine Sitte ist, verehre, und diese Ehrfurcht in allen seinen Handlungen beweise."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/463>, abgerufen am 25.08.2024.