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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Hältnisse schauen kaum wie im Traum in das nnlustige Privatleben hinein;
man denkt daran, sich Landbesitz in Amerika zu erwerben/ um nöthigenfalls
den drohenden Ereignissen zu entfliehen. Alles Dichten und Trachten geht
darauf aus, eine spielende Beschäftigung zu finden, um dem drückenden Gefühl
der Langenweile zu entgehen. Was aber am meisten befremdet, ist die voll¬
ständige Abwesenheit aller stärkern Leidenschaft. Eigenheiten, Grillen, Nei¬
gungen und kleine Interessen finden wir in Menge; auch Wohlwollen und
Humanität; daß aber einmal ein Mensch aus sich herausginge und von einem
gewaltigen Drange ergriffen sich selbst und die Umstände vergäße, davon zeigt
sich keine Spur. Das Blut des Lebens pulsirt träge, die Nerven sind ab¬
gespannt. Wenn bei historischen Völkern selbst in der Depravation die höchste
Schicht der Gesellschaft zuweilen eine außerordentliche Gewalt der Leidenschaft
entwickelt, die noch in ihrer Krankhaftigkeit reizend ist, so scheint hier die Er¬
wägung der Rücksichten, die Reflexion und Entsagung den-Gedanken abzublas¬
sen, noch ehe er ans Licht der Welt tritt.


Das ganze Buch ist ein Gewächs, um den Kern herum gewachsen: o wie sonderbar ist
eS, daß dem Menschen uicht allem so manches Unmögliche, sondern sogar auch manches Mög¬
liche versagt ist!.... Mit einem Zauberschlage hat Goethe die ganze Prosa dieses infamen
kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug vorgehalten.... An Theater mußte
er, an Kunst und anch an Schwindelei den Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich
uicht mit Werther tödten wollte. Deu Adel, der deu ander" als Arena vorschwebt, wo sie
hinwollen, zeigt er beiläufig gut und schlecht wie es fällt n. f. w. i'Rahel. 1808) --

Die Unwahrheit dieser Auffassung, die man bei der geistreichen berliner
Jüdin wohl begreifen kann, und die dem Dichter selbst nicht fern lag, hat dieser
später am schlagendsten in Hermann und Dorothea nachgewiesen-. , ,

Es wäre ein Irrthum, wenn man in dem Adel des Wilhelm Meister das
Bild des echten deutschen Adels suchen wollte. Diesen konnte Goethe nicht
schildern, weil er ihn nicht kannte. Frau von Stein, und ihren Mann, Frau
von Kalb und ihren Mann, verschiedene Herzoge und Herzoginnen hatte er
aufs gründlichste durchschaut; der wahre Adel der deutschen Nation dagegen,,
die Stein, Aork, Gneisenau u. s. w. trat erst hervor, als das Vaterland sich
wiederfand. In diesem echten Adel war viel Brutalität und Vorurtheil, aber
es war doch wirklicher Inhalt und innere Uebereinstimmung in, ihm, und diese
ist in dem ästhetisirenden Adel des Wilhelm Meister nicht zu finden.

Man male sich einmal die Zustände näher aus. Der Graf und die
"gnädigen Damen" reden die Schauspieler in der dritten Person an; sie lassen
sich von ihnen die Hand küssen. Wilhelm, der ihrer Ansicht nach mit zur
Bande gehört, wird als schöner junger Mann in das Boudoir der Gräfin be¬
stellt, um ihr in dem Schlafrock ihres Gemahls allerlei Liebkosungen zu er¬
zeigen. Lothario, ihr Bruder, das Ideal eines echten Edelmanns, kennt das
Verhältniß und gibt ihm die andre Schwester zur Frau. Friedrich, der andre


Hältnisse schauen kaum wie im Traum in das nnlustige Privatleben hinein;
man denkt daran, sich Landbesitz in Amerika zu erwerben/ um nöthigenfalls
den drohenden Ereignissen zu entfliehen. Alles Dichten und Trachten geht
darauf aus, eine spielende Beschäftigung zu finden, um dem drückenden Gefühl
der Langenweile zu entgehen. Was aber am meisten befremdet, ist die voll¬
ständige Abwesenheit aller stärkern Leidenschaft. Eigenheiten, Grillen, Nei¬
gungen und kleine Interessen finden wir in Menge; auch Wohlwollen und
Humanität; daß aber einmal ein Mensch aus sich herausginge und von einem
gewaltigen Drange ergriffen sich selbst und die Umstände vergäße, davon zeigt
sich keine Spur. Das Blut des Lebens pulsirt träge, die Nerven sind ab¬
gespannt. Wenn bei historischen Völkern selbst in der Depravation die höchste
Schicht der Gesellschaft zuweilen eine außerordentliche Gewalt der Leidenschaft
entwickelt, die noch in ihrer Krankhaftigkeit reizend ist, so scheint hier die Er¬
wägung der Rücksichten, die Reflexion und Entsagung den-Gedanken abzublas¬
sen, noch ehe er ans Licht der Welt tritt.


Das ganze Buch ist ein Gewächs, um den Kern herum gewachsen: o wie sonderbar ist
eS, daß dem Menschen uicht allem so manches Unmögliche, sondern sogar auch manches Mög¬
liche versagt ist!.... Mit einem Zauberschlage hat Goethe die ganze Prosa dieses infamen
kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug vorgehalten.... An Theater mußte
er, an Kunst und anch an Schwindelei den Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich
uicht mit Werther tödten wollte. Deu Adel, der deu ander» als Arena vorschwebt, wo sie
hinwollen, zeigt er beiläufig gut und schlecht wie es fällt n. f. w. i'Rahel. 1808) —

Die Unwahrheit dieser Auffassung, die man bei der geistreichen berliner
Jüdin wohl begreifen kann, und die dem Dichter selbst nicht fern lag, hat dieser
später am schlagendsten in Hermann und Dorothea nachgewiesen-. , ,

Es wäre ein Irrthum, wenn man in dem Adel des Wilhelm Meister das
Bild des echten deutschen Adels suchen wollte. Diesen konnte Goethe nicht
schildern, weil er ihn nicht kannte. Frau von Stein, und ihren Mann, Frau
von Kalb und ihren Mann, verschiedene Herzoge und Herzoginnen hatte er
aufs gründlichste durchschaut; der wahre Adel der deutschen Nation dagegen,,
die Stein, Aork, Gneisenau u. s. w. trat erst hervor, als das Vaterland sich
wiederfand. In diesem echten Adel war viel Brutalität und Vorurtheil, aber
es war doch wirklicher Inhalt und innere Uebereinstimmung in, ihm, und diese
ist in dem ästhetisirenden Adel des Wilhelm Meister nicht zu finden.

Man male sich einmal die Zustände näher aus. Der Graf und die
„gnädigen Damen" reden die Schauspieler in der dritten Person an; sie lassen
sich von ihnen die Hand küssen. Wilhelm, der ihrer Ansicht nach mit zur
Bande gehört, wird als schöner junger Mann in das Boudoir der Gräfin be¬
stellt, um ihr in dem Schlafrock ihres Gemahls allerlei Liebkosungen zu er¬
zeigen. Lothario, ihr Bruder, das Ideal eines echten Edelmanns, kennt das
Verhältniß und gibt ihm die andre Schwester zur Frau. Friedrich, der andre


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[0458] Hältnisse schauen kaum wie im Traum in das nnlustige Privatleben hinein; man denkt daran, sich Landbesitz in Amerika zu erwerben/ um nöthigenfalls den drohenden Ereignissen zu entfliehen. Alles Dichten und Trachten geht darauf aus, eine spielende Beschäftigung zu finden, um dem drückenden Gefühl der Langenweile zu entgehen. Was aber am meisten befremdet, ist die voll¬ ständige Abwesenheit aller stärkern Leidenschaft. Eigenheiten, Grillen, Nei¬ gungen und kleine Interessen finden wir in Menge; auch Wohlwollen und Humanität; daß aber einmal ein Mensch aus sich herausginge und von einem gewaltigen Drange ergriffen sich selbst und die Umstände vergäße, davon zeigt sich keine Spur. Das Blut des Lebens pulsirt träge, die Nerven sind ab¬ gespannt. Wenn bei historischen Völkern selbst in der Depravation die höchste Schicht der Gesellschaft zuweilen eine außerordentliche Gewalt der Leidenschaft entwickelt, die noch in ihrer Krankhaftigkeit reizend ist, so scheint hier die Er¬ wägung der Rücksichten, die Reflexion und Entsagung den-Gedanken abzublas¬ sen, noch ehe er ans Licht der Welt tritt. Das ganze Buch ist ein Gewächs, um den Kern herum gewachsen: o wie sonderbar ist eS, daß dem Menschen uicht allem so manches Unmögliche, sondern sogar auch manches Mög¬ liche versagt ist!.... Mit einem Zauberschlage hat Goethe die ganze Prosa dieses infamen kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug vorgehalten.... An Theater mußte er, an Kunst und anch an Schwindelei den Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich uicht mit Werther tödten wollte. Deu Adel, der deu ander» als Arena vorschwebt, wo sie hinwollen, zeigt er beiläufig gut und schlecht wie es fällt n. f. w. i'Rahel. 1808) — Die Unwahrheit dieser Auffassung, die man bei der geistreichen berliner Jüdin wohl begreifen kann, und die dem Dichter selbst nicht fern lag, hat dieser später am schlagendsten in Hermann und Dorothea nachgewiesen-. , , Es wäre ein Irrthum, wenn man in dem Adel des Wilhelm Meister das Bild des echten deutschen Adels suchen wollte. Diesen konnte Goethe nicht schildern, weil er ihn nicht kannte. Frau von Stein, und ihren Mann, Frau von Kalb und ihren Mann, verschiedene Herzoge und Herzoginnen hatte er aufs gründlichste durchschaut; der wahre Adel der deutschen Nation dagegen,, die Stein, Aork, Gneisenau u. s. w. trat erst hervor, als das Vaterland sich wiederfand. In diesem echten Adel war viel Brutalität und Vorurtheil, aber es war doch wirklicher Inhalt und innere Uebereinstimmung in, ihm, und diese ist in dem ästhetisirenden Adel des Wilhelm Meister nicht zu finden. Man male sich einmal die Zustände näher aus. Der Graf und die „gnädigen Damen" reden die Schauspieler in der dritten Person an; sie lassen sich von ihnen die Hand küssen. Wilhelm, der ihrer Ansicht nach mit zur Bande gehört, wird als schöner junger Mann in das Boudoir der Gräfin be¬ stellt, um ihr in dem Schlafrock ihres Gemahls allerlei Liebkosungen zu er¬ zeigen. Lothario, ihr Bruder, das Ideal eines echten Edelmanns, kennt das Verhältniß und gibt ihm die andre Schwester zur Frau. Friedrich, der andre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/458>, abgerufen am 25.08.2024.