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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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welche nicht verfehlen konnte, auf eine ohnehin nachher nicht sorgfältig berechnete
retrogade Bewegung den nachtheiligsten Einfluß auszuüben. Im September
wäre es noch möglich gewesen, das Heer auf geeignete Stützpunkte an der
polnischen Grenze zurückzuführen; aber vier bis fünf Wochen, die etwa erforder¬
liche Zeit, um dies Manoeuvre en bon orüre zur Ausführung zu bringen,
gingen während des fruchtlosen Notenwechselns verloren, und dieser Zeitverlust
war infolge der späteren klimatischen Einwirkung fast die alleinige Ursache
vom Untergange eines Heeres, wie man es vollständiger in seiner Zusammen¬
setzung nie vorher gesehen hatte.

Napoleon Hi. soll in einem seiner früheren, in England bekannt geworde¬
nen Werke, "militärische Aufzeichnungen", wo er unter den einem comman-
direnden Generale obliegenden Pflichten die Benutzung der Zeit als eine der
ersten erwähnt ^- die Zögerung in Moskau als den einzigen vom großen
Oheim begangenen militärischen Fehler bezeichnet haben, den dieser sich selbst
bis zum Tode nicht habe verzeihen können.*)

Ob sür die Heerführer der verbündeten Truppen in der Krim -- nachdem
sie einmal versäumt hatten, sich des Passes von Perekop, als einer haltbaren
Basis ihres Operationsplanes zu bemächtigen -- gleich nach den Erfolgen, welche
sie an der Alma erkämpft hatten, noch die Möglichkeit da war, ob sie jetzt
besteht, sich unter dazu geeigneter Anführung der seit einem halben Jahre be¬
schossenen Feste Sebastopol durch Sturm zu bemächtigen; ob dieser Sturm nicht
durch von der Flotte unterstützte Manoeuvres -- wodurch beide Flanken der
großen russischen Armee bedroht und verhindert werden, die Festung so nachdrücklich
wie bisher zu unterstützen -- um ein Großes erleichtert werden könnte? -- diese
jetzt so oft gehörten Fragen lassen sich vielleicht entscheidend beantworten, sobald
man sich geneigt fühlt, das vom Marschall Suchet an Tarragona gegebene
Beispiel als maßgebend zu betrachten. Sollte man indessen aus dem aufge¬
stellten Gleichniß Veranlassung nehmen, eine entschieden von uns ausgesprochene
Meinung in Bezug auf das Weitere erkennen zu wollen, so glauben wir in¬
sofern gegen den Tadel der Anmaßung gesichert zu sein, als wir durch Ver-
gleichungen zu einer Einsicht zu gelangen bemüht waren, die von Sachver¬
ständigen sorgfältig geprüft, zu einem Urtheile führen kann, das nicht allein
von den Heeren der kriegführenden Mächte, sondern von allen Militärs,



Möglich, daß die erwähnten "Aufzeichnungen" einen Theil des großen vom Kaiser
für die Oeffentlichkeit bestimmte" Werkes ausmachen. Mau ist darauf in Frankreich umsomehr
gespannt, da eine Reihe bisher noch nicht bekannter Briefe Napoleons I. Aufschlüsse über die
Stellung des Kaisers zu den Coutineutalgroßmächtc" vor Ausbruch des russische" Krieges ge¬
ben sollen. ES wäre zu wünschen, daß der Kaiser für die Veröffentlichung seines Werkes,
wenn es wirklich dazu bestimmt ist, deu rechten Augenblick erwählte. Ans jener Zeit ruht
"och manches Dunkel, dessen Aufklärung Licht auch in manche Ereignisse unsrer Tage werfen
würde- --
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welche nicht verfehlen konnte, auf eine ohnehin nachher nicht sorgfältig berechnete
retrogade Bewegung den nachtheiligsten Einfluß auszuüben. Im September
wäre es noch möglich gewesen, das Heer auf geeignete Stützpunkte an der
polnischen Grenze zurückzuführen; aber vier bis fünf Wochen, die etwa erforder¬
liche Zeit, um dies Manoeuvre en bon orüre zur Ausführung zu bringen,
gingen während des fruchtlosen Notenwechselns verloren, und dieser Zeitverlust
war infolge der späteren klimatischen Einwirkung fast die alleinige Ursache
vom Untergange eines Heeres, wie man es vollständiger in seiner Zusammen¬
setzung nie vorher gesehen hatte.

Napoleon Hi. soll in einem seiner früheren, in England bekannt geworde¬
nen Werke, „militärische Aufzeichnungen", wo er unter den einem comman-
direnden Generale obliegenden Pflichten die Benutzung der Zeit als eine der
ersten erwähnt ^- die Zögerung in Moskau als den einzigen vom großen
Oheim begangenen militärischen Fehler bezeichnet haben, den dieser sich selbst
bis zum Tode nicht habe verzeihen können.*)

Ob sür die Heerführer der verbündeten Truppen in der Krim — nachdem
sie einmal versäumt hatten, sich des Passes von Perekop, als einer haltbaren
Basis ihres Operationsplanes zu bemächtigen — gleich nach den Erfolgen, welche
sie an der Alma erkämpft hatten, noch die Möglichkeit da war, ob sie jetzt
besteht, sich unter dazu geeigneter Anführung der seit einem halben Jahre be¬
schossenen Feste Sebastopol durch Sturm zu bemächtigen; ob dieser Sturm nicht
durch von der Flotte unterstützte Manoeuvres — wodurch beide Flanken der
großen russischen Armee bedroht und verhindert werden, die Festung so nachdrücklich
wie bisher zu unterstützen — um ein Großes erleichtert werden könnte? — diese
jetzt so oft gehörten Fragen lassen sich vielleicht entscheidend beantworten, sobald
man sich geneigt fühlt, das vom Marschall Suchet an Tarragona gegebene
Beispiel als maßgebend zu betrachten. Sollte man indessen aus dem aufge¬
stellten Gleichniß Veranlassung nehmen, eine entschieden von uns ausgesprochene
Meinung in Bezug auf das Weitere erkennen zu wollen, so glauben wir in¬
sofern gegen den Tadel der Anmaßung gesichert zu sein, als wir durch Ver-
gleichungen zu einer Einsicht zu gelangen bemüht waren, die von Sachver¬
ständigen sorgfältig geprüft, zu einem Urtheile führen kann, das nicht allein
von den Heeren der kriegführenden Mächte, sondern von allen Militärs,



Möglich, daß die erwähnten „Aufzeichnungen" einen Theil des großen vom Kaiser
für die Oeffentlichkeit bestimmte» Werkes ausmachen. Mau ist darauf in Frankreich umsomehr
gespannt, da eine Reihe bisher noch nicht bekannter Briefe Napoleons I. Aufschlüsse über die
Stellung des Kaisers zu den Coutineutalgroßmächtc» vor Ausbruch des russische« Krieges ge¬
ben sollen. ES wäre zu wünschen, daß der Kaiser für die Veröffentlichung seines Werkes,
wenn es wirklich dazu bestimmt ist, deu rechten Augenblick erwählte. Ans jener Zeit ruht
»och manches Dunkel, dessen Aufklärung Licht auch in manche Ereignisse unsrer Tage werfen
würde- —
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/417>, abgerufen am 01.07.2024.