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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Die Größe der Heeresmassen, welche der erste Kaiser der Franzosen ins
Feld führte und die seitdem normal geworden ist, hatte neben der ihr innewoh¬
nenden gesteigerten Entscheidungsgewalt, die Bedeutung, daß sie dem Umfange
der von ihm angegriffenen Staaten oder ihren räumlichen Abmessungen pro¬
portional war. In früheren Kriegen hatte man sich darauf beschränkt, nur
einzelne Provinzen abzureißen. Im siebenjährigen Kriege handelt es sich
wesentlich nur um die Märsche und Gegenmärsche der Preußen nach Mähren
und Böhmen, der Oestreicher nach Schlesien und Sachsen. Napoleon ist der
erste, welcher es versucht und dein es gelingt, die feindlichen Staaten zu
überziehen. Im Kriege mit Preußen (I80K und 1807) führt er dieses
System so radical durch, daß schließlich Friedrich Wilhelm III. nur der Raum
vom Riemen verblieb.

Allein er mußte dieses System ändern, als er mit Rußland in Conflict
gekommen war. Zum ersten und einzigen Mal während seiner grandiosen Lauf¬
bahn trat er im Feldzuge von I81Ä auf einem Kriegstheater auf, an dessen
Dimensionen seine Armee von einer halben Million Kriegern nicht hinanreichte.
Ohne den Raum überdecken zu können, den er hinter sich und seitwärts ließ,
gelang es ihm nur eine scharfe Spitze bis Moskau vorzutreiben, die nicht
haltfest genug war, um nicht zu brechen.

Es muß "ingestanden werden, daß die verbündeten Armeen Oestreichs,
Englands, Frankreichs und der Türkei, auch wenn sie allseitig einen größt¬
möglichen Kraftaufwand machen wollten und könnten, noch heute ebensowenig
wie diejenigen des ersten Kaisers der Franzosen an die Dimensionen Rußlands
hinanreichen. ^ Die Kriegführung kann heute ebensowenig wie damals es unter¬
nehmen, ihren Erfolg in eine Abgewinnung des Raumes und in letztliche
Neberdeckung des feindlichen Landes mit ihren Streitmitteln zu setzen. Bei
der unermeßlichen Ausdehnung des letzteren sind es nur gewisse strategisch ent-
scheidungsvoll gelegene Raumstrecken, die man zu gewinnen bemüht sein wird:
Brennpunkte, wie oben gesagt wurde, in denen dann die glücklich gegebenen
Entscheidungen ihre weitesten Consequenzen entfalten können.

Um deswillen vermuthe ich, daß der zu erwartende Feldzug mit der Tendenz
begonnen werden wird, nicht sowol Moskau oder auch nur Se. Petersburg zu
treffen, als vielmehr Rußlands Macht auf gewissen, von ihm gegenüber dis-
locirten Hauptmassen in den nächsten und zugänglichst gelegenen Territorien
zu brechen; zunächst, wie erwähnt, in Polen vermöge einer combinirten Opera¬
tion von östreichischen und westmächtlichen Truppen und sodann am schwarzen
und asowschen Meere, im Mündungsbereich des Dniester, Dniepr und Don.

Es hat mehr als die bloße Wahrscheinlichkeit für sich, daß man sich auf
diese beiden Theater beschränken wird. Das will soviel sagen, als: man
wird das Centrum bei Tarnopol nicht gleichzeitig mit dem rechten und


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Die Größe der Heeresmassen, welche der erste Kaiser der Franzosen ins
Feld führte und die seitdem normal geworden ist, hatte neben der ihr innewoh¬
nenden gesteigerten Entscheidungsgewalt, die Bedeutung, daß sie dem Umfange
der von ihm angegriffenen Staaten oder ihren räumlichen Abmessungen pro¬
portional war. In früheren Kriegen hatte man sich darauf beschränkt, nur
einzelne Provinzen abzureißen. Im siebenjährigen Kriege handelt es sich
wesentlich nur um die Märsche und Gegenmärsche der Preußen nach Mähren
und Böhmen, der Oestreicher nach Schlesien und Sachsen. Napoleon ist der
erste, welcher es versucht und dein es gelingt, die feindlichen Staaten zu
überziehen. Im Kriege mit Preußen (I80K und 1807) führt er dieses
System so radical durch, daß schließlich Friedrich Wilhelm III. nur der Raum
vom Riemen verblieb.

Allein er mußte dieses System ändern, als er mit Rußland in Conflict
gekommen war. Zum ersten und einzigen Mal während seiner grandiosen Lauf¬
bahn trat er im Feldzuge von I81Ä auf einem Kriegstheater auf, an dessen
Dimensionen seine Armee von einer halben Million Kriegern nicht hinanreichte.
Ohne den Raum überdecken zu können, den er hinter sich und seitwärts ließ,
gelang es ihm nur eine scharfe Spitze bis Moskau vorzutreiben, die nicht
haltfest genug war, um nicht zu brechen.

Es muß »ingestanden werden, daß die verbündeten Armeen Oestreichs,
Englands, Frankreichs und der Türkei, auch wenn sie allseitig einen größt¬
möglichen Kraftaufwand machen wollten und könnten, noch heute ebensowenig
wie diejenigen des ersten Kaisers der Franzosen an die Dimensionen Rußlands
hinanreichen. ^ Die Kriegführung kann heute ebensowenig wie damals es unter¬
nehmen, ihren Erfolg in eine Abgewinnung des Raumes und in letztliche
Neberdeckung des feindlichen Landes mit ihren Streitmitteln zu setzen. Bei
der unermeßlichen Ausdehnung des letzteren sind es nur gewisse strategisch ent-
scheidungsvoll gelegene Raumstrecken, die man zu gewinnen bemüht sein wird:
Brennpunkte, wie oben gesagt wurde, in denen dann die glücklich gegebenen
Entscheidungen ihre weitesten Consequenzen entfalten können.

Um deswillen vermuthe ich, daß der zu erwartende Feldzug mit der Tendenz
begonnen werden wird, nicht sowol Moskau oder auch nur Se. Petersburg zu
treffen, als vielmehr Rußlands Macht auf gewissen, von ihm gegenüber dis-
locirten Hauptmassen in den nächsten und zugänglichst gelegenen Territorien
zu brechen; zunächst, wie erwähnt, in Polen vermöge einer combinirten Opera¬
tion von östreichischen und westmächtlichen Truppen und sodann am schwarzen
und asowschen Meere, im Mündungsbereich des Dniester, Dniepr und Don.

Es hat mehr als die bloße Wahrscheinlichkeit für sich, daß man sich auf
diese beiden Theater beschränken wird. Das will soviel sagen, als: man
wird das Centrum bei Tarnopol nicht gleichzeitig mit dem rechten und


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[0315] Die Größe der Heeresmassen, welche der erste Kaiser der Franzosen ins Feld führte und die seitdem normal geworden ist, hatte neben der ihr innewoh¬ nenden gesteigerten Entscheidungsgewalt, die Bedeutung, daß sie dem Umfange der von ihm angegriffenen Staaten oder ihren räumlichen Abmessungen pro¬ portional war. In früheren Kriegen hatte man sich darauf beschränkt, nur einzelne Provinzen abzureißen. Im siebenjährigen Kriege handelt es sich wesentlich nur um die Märsche und Gegenmärsche der Preußen nach Mähren und Böhmen, der Oestreicher nach Schlesien und Sachsen. Napoleon ist der erste, welcher es versucht und dein es gelingt, die feindlichen Staaten zu überziehen. Im Kriege mit Preußen (I80K und 1807) führt er dieses System so radical durch, daß schließlich Friedrich Wilhelm III. nur der Raum vom Riemen verblieb. Allein er mußte dieses System ändern, als er mit Rußland in Conflict gekommen war. Zum ersten und einzigen Mal während seiner grandiosen Lauf¬ bahn trat er im Feldzuge von I81Ä auf einem Kriegstheater auf, an dessen Dimensionen seine Armee von einer halben Million Kriegern nicht hinanreichte. Ohne den Raum überdecken zu können, den er hinter sich und seitwärts ließ, gelang es ihm nur eine scharfe Spitze bis Moskau vorzutreiben, die nicht haltfest genug war, um nicht zu brechen. Es muß »ingestanden werden, daß die verbündeten Armeen Oestreichs, Englands, Frankreichs und der Türkei, auch wenn sie allseitig einen größt¬ möglichen Kraftaufwand machen wollten und könnten, noch heute ebensowenig wie diejenigen des ersten Kaisers der Franzosen an die Dimensionen Rußlands hinanreichen. ^ Die Kriegführung kann heute ebensowenig wie damals es unter¬ nehmen, ihren Erfolg in eine Abgewinnung des Raumes und in letztliche Neberdeckung des feindlichen Landes mit ihren Streitmitteln zu setzen. Bei der unermeßlichen Ausdehnung des letzteren sind es nur gewisse strategisch ent- scheidungsvoll gelegene Raumstrecken, die man zu gewinnen bemüht sein wird: Brennpunkte, wie oben gesagt wurde, in denen dann die glücklich gegebenen Entscheidungen ihre weitesten Consequenzen entfalten können. Um deswillen vermuthe ich, daß der zu erwartende Feldzug mit der Tendenz begonnen werden wird, nicht sowol Moskau oder auch nur Se. Petersburg zu treffen, als vielmehr Rußlands Macht auf gewissen, von ihm gegenüber dis- locirten Hauptmassen in den nächsten und zugänglichst gelegenen Territorien zu brechen; zunächst, wie erwähnt, in Polen vermöge einer combinirten Opera¬ tion von östreichischen und westmächtlichen Truppen und sodann am schwarzen und asowschen Meere, im Mündungsbereich des Dniester, Dniepr und Don. Es hat mehr als die bloße Wahrscheinlichkeit für sich, daß man sich auf diese beiden Theater beschränken wird. Das will soviel sagen, als: man wird das Centrum bei Tarnopol nicht gleichzeitig mit dem rechten und 39*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/315>, abgerufen am 22.07.2024.