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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Links, das ist südwestwärts, ist der ebenfalls kaum angedeutete Küstenstreifen bis
zu gleichem Meridian mit Kronstäbe mit den kaiserlichen Lustschlössern Strelau,
Alerandria, Peterhof und Oranienbaum, mit den Villen der höchsten Bojaren
des Reichs, der Narischkin, Schuwalow, Martischkin, Korsakow in, prachtvoll
geschmückt. Man könnte sast glauben, zum Zeichen dafür, daß dorthin der
Weg zu dem einzigen Gute geht, welches Rußland nicht erobern konnte --
zur europäischen Civilisation. -- Hinter uns blinkt von der Stadtpracht bald
nichts mehr, als die erwähnte orthodoxe Goldkuppel und daneben eine feine
goldne Nadel -- der spitze Thurm der Petersburger Citadelle, in deren unter¬
irdischen Gewölben die Särge der Zaren liegen, die Gegner der Zarenvrdnung
verschwinden und die vielen Millionen des Reichöschatzes wahrscheinlich -- lagen.
Vor uns aber hebt sich langsam die Insel Kronstäbe aus den zur See ge¬
wordenen Fluten. Nicht die Bastionen, nicht der eigentliche Charakter des
Eilandes tritt jedoch unserm Blick zuerst entgegen, sondern ein unendlich lang¬
gestrecktes Gebäude unkriegerischen Aussehens, ein Spital für 3000 Kranke.
In einer Stunde ist Kronstäbe erreicht, seine Entfernung von Petersburg be¬
trägt etwa 5 Meilen.

Doch selbst wenn das Dampfboot landet, sind wir nicht auf Kronstäbe.
Länger als eine Viertelstunde streckt sich vielmehr hierher eine Landungsbrücke
über Sandbänke und Untiefen, welche die Insel rings umgeben. Daran legt
das Fahrzeug an und ehe man die Brücke überschreiten darf, gilts den Vor¬
weis von Legitimationen, selbst wenn man blos von Petersburg kommt. Durch
eine wachenbesctzte Festungspforte (das Petersburger Thor), betritt man endlich
das Festland. Die Landungsbrücke gehörte aber jedoch gewissermaßen schon
zu den Befestigungen; sie bildet nämlich den Anfang der Absperrung, welche
über den seichten Meeresarm nach der finnischen Küste hinüberreicht.

Man gestatte hier einige Worte zur allgemeinen Orientirung. -- Ungefähr
mit der Form eines Papierdrachen, mit dickem Kops und langgestrecktem
Schweif, mag man die Insel vergleichen. Mitten im Meerbusen liegt sie, mit
ihrer Längenrichtung der Newaströmung entsprechend. Das dicke, gegen Peters¬
burg gewendete Ende ist das höchste des Eilandes. Die Hebung des lang¬
gestreckten, in den Meerbusen hinausragenden Endes datirt dagegen theilweise
erst aus der Zeit, seit aus der ehemaligen Fischerinsel Kollin (d. i. Kessel¬
insel) das Bollwerk der Zarenrestdenz wurde. Nur ihr äußerster Theil ragte
als isolirte Sandbank aus den Meereswellen, als Peter I. diese Insel 1703
zugleich mit Ingermanland und Karelieu dem schwedischen Staate entriß.
Nachdem er das Fort Kronslot angelegt, ließ er auf jenes äußerste Ende
einen granitnen Leuchthurm bauen. Von diesem Haltpunkt aus schwemmten
die Fluten neue Sandmassen heran und noch heute ist oftmals dieses westlichste
Ende nur mit Kähnen zu erreichen. Quer hinter dem Leuchtthurm ziehen sich


Links, das ist südwestwärts, ist der ebenfalls kaum angedeutete Küstenstreifen bis
zu gleichem Meridian mit Kronstäbe mit den kaiserlichen Lustschlössern Strelau,
Alerandria, Peterhof und Oranienbaum, mit den Villen der höchsten Bojaren
des Reichs, der Narischkin, Schuwalow, Martischkin, Korsakow in, prachtvoll
geschmückt. Man könnte sast glauben, zum Zeichen dafür, daß dorthin der
Weg zu dem einzigen Gute geht, welches Rußland nicht erobern konnte —
zur europäischen Civilisation. — Hinter uns blinkt von der Stadtpracht bald
nichts mehr, als die erwähnte orthodoxe Goldkuppel und daneben eine feine
goldne Nadel — der spitze Thurm der Petersburger Citadelle, in deren unter¬
irdischen Gewölben die Särge der Zaren liegen, die Gegner der Zarenvrdnung
verschwinden und die vielen Millionen des Reichöschatzes wahrscheinlich — lagen.
Vor uns aber hebt sich langsam die Insel Kronstäbe aus den zur See ge¬
wordenen Fluten. Nicht die Bastionen, nicht der eigentliche Charakter des
Eilandes tritt jedoch unserm Blick zuerst entgegen, sondern ein unendlich lang¬
gestrecktes Gebäude unkriegerischen Aussehens, ein Spital für 3000 Kranke.
In einer Stunde ist Kronstäbe erreicht, seine Entfernung von Petersburg be¬
trägt etwa 5 Meilen.

Doch selbst wenn das Dampfboot landet, sind wir nicht auf Kronstäbe.
Länger als eine Viertelstunde streckt sich vielmehr hierher eine Landungsbrücke
über Sandbänke und Untiefen, welche die Insel rings umgeben. Daran legt
das Fahrzeug an und ehe man die Brücke überschreiten darf, gilts den Vor¬
weis von Legitimationen, selbst wenn man blos von Petersburg kommt. Durch
eine wachenbesctzte Festungspforte (das Petersburger Thor), betritt man endlich
das Festland. Die Landungsbrücke gehörte aber jedoch gewissermaßen schon
zu den Befestigungen; sie bildet nämlich den Anfang der Absperrung, welche
über den seichten Meeresarm nach der finnischen Küste hinüberreicht.

Man gestatte hier einige Worte zur allgemeinen Orientirung. — Ungefähr
mit der Form eines Papierdrachen, mit dickem Kops und langgestrecktem
Schweif, mag man die Insel vergleichen. Mitten im Meerbusen liegt sie, mit
ihrer Längenrichtung der Newaströmung entsprechend. Das dicke, gegen Peters¬
burg gewendete Ende ist das höchste des Eilandes. Die Hebung des lang¬
gestreckten, in den Meerbusen hinausragenden Endes datirt dagegen theilweise
erst aus der Zeit, seit aus der ehemaligen Fischerinsel Kollin (d. i. Kessel¬
insel) das Bollwerk der Zarenrestdenz wurde. Nur ihr äußerster Theil ragte
als isolirte Sandbank aus den Meereswellen, als Peter I. diese Insel 1703
zugleich mit Ingermanland und Karelieu dem schwedischen Staate entriß.
Nachdem er das Fort Kronslot angelegt, ließ er auf jenes äußerste Ende
einen granitnen Leuchthurm bauen. Von diesem Haltpunkt aus schwemmten
die Fluten neue Sandmassen heran und noch heute ist oftmals dieses westlichste
Ende nur mit Kähnen zu erreichen. Quer hinter dem Leuchtthurm ziehen sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/252>, abgerufen am 02.10.2024.