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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Theodemokratie, richtiger aber eine ganz entschiedene Theokratie, die sich
nur nach außen hin und mit Rücksicht auf einige fremde Elemente im Innern
bestrebt, den Schein einer demokratischen Republik zu bewahren. Mit andern
Worten: aus Liebe zum Frieden und in richtiger Erkennntniß der Verhältnisse
hat man sich von Washington einen Gouverneur geb'en lassen, hat man Ge¬
richtshöfe, wie sie in der Union bestehen und gesetzgebende Versammlungen nach
Art der "Heiden" eingesetzt. Aber die Regeln und Anordnungen des Herrn,
welche allem, was man nothgedrungen jetzt anerkennt, vorausgingen, sind für
alle Zeit gegeben, und sie erstrecken sich ebensowol über geistliche als überzeit¬
liche Dinge, so daß nur die, welchen Gott seinen Willen offenbart, Gesetze
der Wahrheit gemäß geben können. In der That, der Präsident der Kirche
ist weltlicher, bürgerlicher Gouverneur, weil er der Seher des Herrn ist. Hatte
der Präsident der Union den Bewohnern des Territoriums einen Andern ge
sandt, so würden die Mormonen ihn wahrscheinlich mit allem dem Respect, der
ihm als Vertreter der Centralgewalt gebührte, empfangen, ihn aber in der
Eigenschaft eines Gouverneurs als nicht vorhanden betrachtet haben. Es würde
ihm derselbe passive Widerstand entgegengesetzt worden sein, den man 1831 den
nichtmormonischen Beamten der Vereinigten Staaten gegenüber an den Tag
legte. Hätte er eine Wahl anordnen oder eine gesetzgebende Versammlung be¬
rufen wollen, so würde er nicht gehört worden sein und den Verdruß gehabt
haben, entweder eine Legislatur, die nicht auf sein Geheiß hervorgangen, tagen
oder die alten Statuten fortbestehen zu sehen.

Die Mormonen erklären dies ungescheut für ihre Absicht, und sie fügen
hinzu, daß solche ihnen octroyirte Beamte es lediglich dem friedliebenden Cha¬
rakter des Volkes zuzuschreiben haben würden, wenn man ihnen keine andre
Mühe mache als die, ihren Gehalr aus dem zweitausend Meilen entfernten
Schatze in Washington zu beziehen.

Wie die Kirche, so steht auch der Staat der Mormonen in allen Be¬
ziehungen unter der dreiköpfigen Präsidentschaft von Zion; ja selbst die soge¬
nannten "StaKss" oder Zweiggemeinden, die über die ganze Welt verbreitet
sind, haben ihr zu gehorchen, und zwar in geistlichen Angelegenheiten durchaus,
in weltlichen, sofern die betreffenden Verordnungen der mormonischen Obcr-
behörde den Gesetzen des Staates, wo die Gemeinde sich befindet, nicht zuwider¬
laufen. Alle Streitigkeiten sind von der Kirche zu entscheiden, die über
Gegeustände der Lehre durch den Seher, die über Gegenstände des Rechts (nach
den Statuten von Deseret und nach dem, was sie "gemeines Recht in den
Bergen" nennen) von Friedensrichtern, Oberrichtern und in höchster Instanz
vom Gouverneur. Allein der Friedensrichter ist der Bischof eines Stadt- oder
Grafschaftsbezirks, die Herren aus der Nichterbank des obersten Gerichtshofes
sind aus der Mitte der Hohenpriester gewählt, und der Gouverneur ist der


Theodemokratie, richtiger aber eine ganz entschiedene Theokratie, die sich
nur nach außen hin und mit Rücksicht auf einige fremde Elemente im Innern
bestrebt, den Schein einer demokratischen Republik zu bewahren. Mit andern
Worten: aus Liebe zum Frieden und in richtiger Erkennntniß der Verhältnisse
hat man sich von Washington einen Gouverneur geb'en lassen, hat man Ge¬
richtshöfe, wie sie in der Union bestehen und gesetzgebende Versammlungen nach
Art der „Heiden" eingesetzt. Aber die Regeln und Anordnungen des Herrn,
welche allem, was man nothgedrungen jetzt anerkennt, vorausgingen, sind für
alle Zeit gegeben, und sie erstrecken sich ebensowol über geistliche als überzeit¬
liche Dinge, so daß nur die, welchen Gott seinen Willen offenbart, Gesetze
der Wahrheit gemäß geben können. In der That, der Präsident der Kirche
ist weltlicher, bürgerlicher Gouverneur, weil er der Seher des Herrn ist. Hatte
der Präsident der Union den Bewohnern des Territoriums einen Andern ge
sandt, so würden die Mormonen ihn wahrscheinlich mit allem dem Respect, der
ihm als Vertreter der Centralgewalt gebührte, empfangen, ihn aber in der
Eigenschaft eines Gouverneurs als nicht vorhanden betrachtet haben. Es würde
ihm derselbe passive Widerstand entgegengesetzt worden sein, den man 1831 den
nichtmormonischen Beamten der Vereinigten Staaten gegenüber an den Tag
legte. Hätte er eine Wahl anordnen oder eine gesetzgebende Versammlung be¬
rufen wollen, so würde er nicht gehört worden sein und den Verdruß gehabt
haben, entweder eine Legislatur, die nicht auf sein Geheiß hervorgangen, tagen
oder die alten Statuten fortbestehen zu sehen.

Die Mormonen erklären dies ungescheut für ihre Absicht, und sie fügen
hinzu, daß solche ihnen octroyirte Beamte es lediglich dem friedliebenden Cha¬
rakter des Volkes zuzuschreiben haben würden, wenn man ihnen keine andre
Mühe mache als die, ihren Gehalr aus dem zweitausend Meilen entfernten
Schatze in Washington zu beziehen.

Wie die Kirche, so steht auch der Staat der Mormonen in allen Be¬
ziehungen unter der dreiköpfigen Präsidentschaft von Zion; ja selbst die soge¬
nannten „StaKss" oder Zweiggemeinden, die über die ganze Welt verbreitet
sind, haben ihr zu gehorchen, und zwar in geistlichen Angelegenheiten durchaus,
in weltlichen, sofern die betreffenden Verordnungen der mormonischen Obcr-
behörde den Gesetzen des Staates, wo die Gemeinde sich befindet, nicht zuwider¬
laufen. Alle Streitigkeiten sind von der Kirche zu entscheiden, die über
Gegeustände der Lehre durch den Seher, die über Gegenstände des Rechts (nach
den Statuten von Deseret und nach dem, was sie „gemeines Recht in den
Bergen" nennen) von Friedensrichtern, Oberrichtern und in höchster Instanz
vom Gouverneur. Allein der Friedensrichter ist der Bischof eines Stadt- oder
Grafschaftsbezirks, die Herren aus der Nichterbank des obersten Gerichtshofes
sind aus der Mitte der Hohenpriester gewählt, und der Gouverneur ist der


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[0136] Theodemokratie, richtiger aber eine ganz entschiedene Theokratie, die sich nur nach außen hin und mit Rücksicht auf einige fremde Elemente im Innern bestrebt, den Schein einer demokratischen Republik zu bewahren. Mit andern Worten: aus Liebe zum Frieden und in richtiger Erkennntniß der Verhältnisse hat man sich von Washington einen Gouverneur geb'en lassen, hat man Ge¬ richtshöfe, wie sie in der Union bestehen und gesetzgebende Versammlungen nach Art der „Heiden" eingesetzt. Aber die Regeln und Anordnungen des Herrn, welche allem, was man nothgedrungen jetzt anerkennt, vorausgingen, sind für alle Zeit gegeben, und sie erstrecken sich ebensowol über geistliche als überzeit¬ liche Dinge, so daß nur die, welchen Gott seinen Willen offenbart, Gesetze der Wahrheit gemäß geben können. In der That, der Präsident der Kirche ist weltlicher, bürgerlicher Gouverneur, weil er der Seher des Herrn ist. Hatte der Präsident der Union den Bewohnern des Territoriums einen Andern ge sandt, so würden die Mormonen ihn wahrscheinlich mit allem dem Respect, der ihm als Vertreter der Centralgewalt gebührte, empfangen, ihn aber in der Eigenschaft eines Gouverneurs als nicht vorhanden betrachtet haben. Es würde ihm derselbe passive Widerstand entgegengesetzt worden sein, den man 1831 den nichtmormonischen Beamten der Vereinigten Staaten gegenüber an den Tag legte. Hätte er eine Wahl anordnen oder eine gesetzgebende Versammlung be¬ rufen wollen, so würde er nicht gehört worden sein und den Verdruß gehabt haben, entweder eine Legislatur, die nicht auf sein Geheiß hervorgangen, tagen oder die alten Statuten fortbestehen zu sehen. Die Mormonen erklären dies ungescheut für ihre Absicht, und sie fügen hinzu, daß solche ihnen octroyirte Beamte es lediglich dem friedliebenden Cha¬ rakter des Volkes zuzuschreiben haben würden, wenn man ihnen keine andre Mühe mache als die, ihren Gehalr aus dem zweitausend Meilen entfernten Schatze in Washington zu beziehen. Wie die Kirche, so steht auch der Staat der Mormonen in allen Be¬ ziehungen unter der dreiköpfigen Präsidentschaft von Zion; ja selbst die soge¬ nannten „StaKss" oder Zweiggemeinden, die über die ganze Welt verbreitet sind, haben ihr zu gehorchen, und zwar in geistlichen Angelegenheiten durchaus, in weltlichen, sofern die betreffenden Verordnungen der mormonischen Obcr- behörde den Gesetzen des Staates, wo die Gemeinde sich befindet, nicht zuwider¬ laufen. Alle Streitigkeiten sind von der Kirche zu entscheiden, die über Gegeustände der Lehre durch den Seher, die über Gegenstände des Rechts (nach den Statuten von Deseret und nach dem, was sie „gemeines Recht in den Bergen" nennen) von Friedensrichtern, Oberrichtern und in höchster Instanz vom Gouverneur. Allein der Friedensrichter ist der Bischof eines Stadt- oder Grafschaftsbezirks, die Herren aus der Nichterbank des obersten Gerichtshofes sind aus der Mitte der Hohenpriester gewählt, und der Gouverneur ist der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/136>, abgerufen am 01.07.2024.