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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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tungen in Frankreich gefunden haben, ein noch Sprechenderer als jener ist, daß
jetzt die zehnte Auflage vor uns liegt.

Sie sind beim französischen Publicum allerdings sehr beliebt, und es darf
umsomehr befremden, daß sie in Deutschland, wo man der fremden Literatur
soviel Aufmerksamkeit schenkt, noch sowenig gekannt zu sein scheinen, als sie die
Anerkennung, welche sie bei der Akademie und bei der französischen Lesewelt ge¬
funden haben, wirklich verdienen.

Lafontaines Fabeln stehen, was die Form, die Leichtigkeit und Eleganz
der Erzählung betrifft, unübertroffen da. Diese Vereinigung der naiven und
kräftigen Sprache des Jahrhunderts von Franz I. mit der koketten und glän-
zenden Eleganz der Zeit Ludwigs XlV. muß heute noch bewundert werden. Dem
Inhalt nach aber geben wir den Fabeln des modernen Dichters den Vorzug. Die
Nonchalance des großen Jahrhunderts war der leichten, brillanten Erzählungö-
weise Lafontaines günstig, aber sie drückte ihr Gepräge auch dem Inhalt auf.
Denn ihre sittliche Tüchtigkeit hält kaum die Kritik aus, und nur die traditionelle
Routine, die blinde Vorliebe für classische Namen konnte diese Fabeln der
Jugend als Musterstücke in die Hand geben. Die Weltweisheit, die ihrer
Moral zugruudeliegt, ist häufig unedel, und zum wenigsten philisterhaft, keines¬
wegs geeignet, das jugendliche Gefühl für Recht und Wahrheit zu entwickeln
und zu kräftigen. Die Anschauung, die sich in ihnen kundgibt, hat oft etwas
Schroffes, ihre Moral legt dort, wo sie nicht ganz verwerflich ist, größten-
theils mehr Nachoruck auf eine gewisse theoretische, als auf die menschliche, auf
die lebenswarme Rechtsidee.

Lachambeaudie ist hierin grade das Gegentheil Lafontaines. Seine Fabeln
sind nicht griechischen und lateinischen Stoffen nachgebildet, sondern fast immer
neu und originell. Sie zeichnen sich durchaus durch freie und moderne Welt¬
anschauung aus. Er kleidet ernste und tiefe Wahrheiten in das leichte Gewand
der Fabel, aber er ist bestimmter und hurtiger in der Form als sein berühmter
Vorgänger. Wenn ihm häufig jene Leichtigkeit, jenes liebenswürdige Sich-
gehenlassen Lafontaines fehlt, so liegt daS in der Absicht seines Strebens. Es
ist dem modernen Dichter nicht öloS um eine leichte Erzählung, sondern auch
um einen bündigen Ausdruck allgemeiner Wahrheiten zu thun. Seine kernhafte
Ausdrucksweise, seine gemüthliche Herzlichkeit und seine lyrisch-epigrammatische
Schärfe haben etwas Deutsches. Seine Art zu erzählen weicht ganz von der
hergebrachten geistreich-gesprächigen, aber häufig oberflächlichen Manier Lafon-
taines ab. Selten greift or nach allegorischen Personiftcationen und neben der
Thier- und Pflanzenwelt, die er so frisch zu gestalten versteht, sind es leblose
Gegenstände, die in nähere Beziehung zur Menschenwelt treten, welche Lacham¬
beaudie auf ganz originelle Weise zu beleben weiß. Glocke, Blitzableiter, Weg¬
zeiger, Holz und Kohle, Schwert und Buch, der Säbel und die Trompete, die


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tungen in Frankreich gefunden haben, ein noch Sprechenderer als jener ist, daß
jetzt die zehnte Auflage vor uns liegt.

Sie sind beim französischen Publicum allerdings sehr beliebt, und es darf
umsomehr befremden, daß sie in Deutschland, wo man der fremden Literatur
soviel Aufmerksamkeit schenkt, noch sowenig gekannt zu sein scheinen, als sie die
Anerkennung, welche sie bei der Akademie und bei der französischen Lesewelt ge¬
funden haben, wirklich verdienen.

Lafontaines Fabeln stehen, was die Form, die Leichtigkeit und Eleganz
der Erzählung betrifft, unübertroffen da. Diese Vereinigung der naiven und
kräftigen Sprache des Jahrhunderts von Franz I. mit der koketten und glän-
zenden Eleganz der Zeit Ludwigs XlV. muß heute noch bewundert werden. Dem
Inhalt nach aber geben wir den Fabeln des modernen Dichters den Vorzug. Die
Nonchalance des großen Jahrhunderts war der leichten, brillanten Erzählungö-
weise Lafontaines günstig, aber sie drückte ihr Gepräge auch dem Inhalt auf.
Denn ihre sittliche Tüchtigkeit hält kaum die Kritik aus, und nur die traditionelle
Routine, die blinde Vorliebe für classische Namen konnte diese Fabeln der
Jugend als Musterstücke in die Hand geben. Die Weltweisheit, die ihrer
Moral zugruudeliegt, ist häufig unedel, und zum wenigsten philisterhaft, keines¬
wegs geeignet, das jugendliche Gefühl für Recht und Wahrheit zu entwickeln
und zu kräftigen. Die Anschauung, die sich in ihnen kundgibt, hat oft etwas
Schroffes, ihre Moral legt dort, wo sie nicht ganz verwerflich ist, größten-
theils mehr Nachoruck auf eine gewisse theoretische, als auf die menschliche, auf
die lebenswarme Rechtsidee.

Lachambeaudie ist hierin grade das Gegentheil Lafontaines. Seine Fabeln
sind nicht griechischen und lateinischen Stoffen nachgebildet, sondern fast immer
neu und originell. Sie zeichnen sich durchaus durch freie und moderne Welt¬
anschauung aus. Er kleidet ernste und tiefe Wahrheiten in das leichte Gewand
der Fabel, aber er ist bestimmter und hurtiger in der Form als sein berühmter
Vorgänger. Wenn ihm häufig jene Leichtigkeit, jenes liebenswürdige Sich-
gehenlassen Lafontaines fehlt, so liegt daS in der Absicht seines Strebens. Es
ist dem modernen Dichter nicht öloS um eine leichte Erzählung, sondern auch
um einen bündigen Ausdruck allgemeiner Wahrheiten zu thun. Seine kernhafte
Ausdrucksweise, seine gemüthliche Herzlichkeit und seine lyrisch-epigrammatische
Schärfe haben etwas Deutsches. Seine Art zu erzählen weicht ganz von der
hergebrachten geistreich-gesprächigen, aber häufig oberflächlichen Manier Lafon-
taines ab. Selten greift or nach allegorischen Personiftcationen und neben der
Thier- und Pflanzenwelt, die er so frisch zu gestalten versteht, sind es leblose
Gegenstände, die in nähere Beziehung zur Menschenwelt treten, welche Lacham¬
beaudie auf ganz originelle Weise zu beleben weiß. Glocke, Blitzableiter, Weg¬
zeiger, Holz und Kohle, Schwert und Buch, der Säbel und die Trompete, die


Grenzboten. I. I86!i.
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[0201] tungen in Frankreich gefunden haben, ein noch Sprechenderer als jener ist, daß jetzt die zehnte Auflage vor uns liegt. Sie sind beim französischen Publicum allerdings sehr beliebt, und es darf umsomehr befremden, daß sie in Deutschland, wo man der fremden Literatur soviel Aufmerksamkeit schenkt, noch sowenig gekannt zu sein scheinen, als sie die Anerkennung, welche sie bei der Akademie und bei der französischen Lesewelt ge¬ funden haben, wirklich verdienen. Lafontaines Fabeln stehen, was die Form, die Leichtigkeit und Eleganz der Erzählung betrifft, unübertroffen da. Diese Vereinigung der naiven und kräftigen Sprache des Jahrhunderts von Franz I. mit der koketten und glän- zenden Eleganz der Zeit Ludwigs XlV. muß heute noch bewundert werden. Dem Inhalt nach aber geben wir den Fabeln des modernen Dichters den Vorzug. Die Nonchalance des großen Jahrhunderts war der leichten, brillanten Erzählungö- weise Lafontaines günstig, aber sie drückte ihr Gepräge auch dem Inhalt auf. Denn ihre sittliche Tüchtigkeit hält kaum die Kritik aus, und nur die traditionelle Routine, die blinde Vorliebe für classische Namen konnte diese Fabeln der Jugend als Musterstücke in die Hand geben. Die Weltweisheit, die ihrer Moral zugruudeliegt, ist häufig unedel, und zum wenigsten philisterhaft, keines¬ wegs geeignet, das jugendliche Gefühl für Recht und Wahrheit zu entwickeln und zu kräftigen. Die Anschauung, die sich in ihnen kundgibt, hat oft etwas Schroffes, ihre Moral legt dort, wo sie nicht ganz verwerflich ist, größten- theils mehr Nachoruck auf eine gewisse theoretische, als auf die menschliche, auf die lebenswarme Rechtsidee. Lachambeaudie ist hierin grade das Gegentheil Lafontaines. Seine Fabeln sind nicht griechischen und lateinischen Stoffen nachgebildet, sondern fast immer neu und originell. Sie zeichnen sich durchaus durch freie und moderne Welt¬ anschauung aus. Er kleidet ernste und tiefe Wahrheiten in das leichte Gewand der Fabel, aber er ist bestimmter und hurtiger in der Form als sein berühmter Vorgänger. Wenn ihm häufig jene Leichtigkeit, jenes liebenswürdige Sich- gehenlassen Lafontaines fehlt, so liegt daS in der Absicht seines Strebens. Es ist dem modernen Dichter nicht öloS um eine leichte Erzählung, sondern auch um einen bündigen Ausdruck allgemeiner Wahrheiten zu thun. Seine kernhafte Ausdrucksweise, seine gemüthliche Herzlichkeit und seine lyrisch-epigrammatische Schärfe haben etwas Deutsches. Seine Art zu erzählen weicht ganz von der hergebrachten geistreich-gesprächigen, aber häufig oberflächlichen Manier Lafon- taines ab. Selten greift or nach allegorischen Personiftcationen und neben der Thier- und Pflanzenwelt, die er so frisch zu gestalten versteht, sind es leblose Gegenstände, die in nähere Beziehung zur Menschenwelt treten, welche Lacham¬ beaudie auf ganz originelle Weise zu beleben weiß. Glocke, Blitzableiter, Weg¬ zeiger, Holz und Kohle, Schwert und Buch, der Säbel und die Trompete, die Grenzboten. I. I86!i.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/201>, abgerufen am 26.06.2024.