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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Wenige Reisende, die den Werther gelesen -- und wer hätte das nicht?
- kommen wol in diese Gegend, ohne die durch Goethe gefeierten Plätze
aufzusuchen; jeder ist überrascht durch die Wahrheit und Frische der Localfarben
in seinen Schilderungen. Ein Freund, der vor kurzem dort sich umgesehen
hat, gestattet einige Bruchstücke aus seinem Tagebuch mitzutheilen, das, wenn
es in des greisen Dichters Hände gelangt wäre, ihn wol auch zu wiederholten
Spiegelungen veranlaßt haben möchte. Leider können seine hübschen Zeich¬
nungen nicht auch mitgetheilt werden.'

"Wetzlar, 2. October,1834, im herzoglichen Haus am Domplatz. Unten
im alten Gasthof ist ein langer, niedriger Saal, in den sich gleich die Scenen
der Ordensceremonien verlegen ließen. An der Wand hängt natürlich Lottes
Bild. Kaum war ich a.us dem Hause getreten, als sich ein kleiner wohl¬
gekleideter Straßenjunge mir zum Führer anbot mit der unerfragten Ver¬
sicherung, er sei über den Werther und alles dahin einschlagende sehr wohl
unterrichtet. Mit Freuden schlug ich ein ohne das belehrende Geleit seiner
Freunde abzuweisen, welche mit der Liebenswürdigkeit napoletanischer Q-uaglioni
sich uns anschlössen."

"Das deutsche Haus liegt hoch oben nahe beim Domplatz/ von welchem
eine enge Gasse zwischen zwei Gartenmauern etwas bergan grade aus den
Thorweg zuführt. Es ist ein großes Gehöft für ein ausgedehntes landwirth-
schastliches Gewerbe umgeben von einer alten dicken Mauer. Durch diesen
Thorweg kommt man in den Hos, der dem Haus zu etwas aufwärts geht.
Gleich links ist ein acht oder zehn Fenster breites zweistöckiges Wohnhaus an
die Umgebungsmauer gelehnt und auf sie gesetzt; daran stößt ein massiver hoher
Speicher mit vergitterten Fenstern. Dem Eingang gegenüber liegt das Haupt¬
gebäude von altersgrauer Farbe mit hohem Schieferdach; auf dessen anderer
Seite ein kleiner jetzt wüster Garten liegt, an dessen Hinterer Mauer das schwarze
Kreuz des deutschen Ordens angemalt ist. Dann folgt eine hohe Scheuer mit
dem Kuhstall, ein Hof mit Ställen für Kleinvieh, und endlich ein kleiner
Garten, der wieder an den Eingang stößt. Der Boden desselben liegt wol
fünf Fuß höher als die Höfe; darin steht ein verfallenes Lusthäuschen, von
dessen vergitterten Fenstern matt auf die gegenüberliegenden Gärten sieht. Hier
mag die Scene gar manches Gespräches gewesen sein!"

"Das Haupthaus hat eine steinerne Freitreppe mit eisernem Geländer,
welche aus die schwere Hausthüre zuführt. Im Flur steht sogleich die schwarze
Treppe mit einem Geländer starker viereckiger Pfeiler entgegen, sie führt in
einiger Dunkelheit durch alle Stockwerke, in jedem der obern ist ein Vorplatz:
Treppe und Vorplatz nehmen ein volles Drittel des Hausraums ein. Zu jeder
Seite der Treppe sind zwei etwas niedrige Zimmer; aus den Fenstern der obern
hat man eine sehr freundliche Aussicht. Von den Häusern der Stadt sieht


Wenige Reisende, die den Werther gelesen — und wer hätte das nicht?
- kommen wol in diese Gegend, ohne die durch Goethe gefeierten Plätze
aufzusuchen; jeder ist überrascht durch die Wahrheit und Frische der Localfarben
in seinen Schilderungen. Ein Freund, der vor kurzem dort sich umgesehen
hat, gestattet einige Bruchstücke aus seinem Tagebuch mitzutheilen, das, wenn
es in des greisen Dichters Hände gelangt wäre, ihn wol auch zu wiederholten
Spiegelungen veranlaßt haben möchte. Leider können seine hübschen Zeich¬
nungen nicht auch mitgetheilt werden.'

„Wetzlar, 2. October,1834, im herzoglichen Haus am Domplatz. Unten
im alten Gasthof ist ein langer, niedriger Saal, in den sich gleich die Scenen
der Ordensceremonien verlegen ließen. An der Wand hängt natürlich Lottes
Bild. Kaum war ich a.us dem Hause getreten, als sich ein kleiner wohl¬
gekleideter Straßenjunge mir zum Führer anbot mit der unerfragten Ver¬
sicherung, er sei über den Werther und alles dahin einschlagende sehr wohl
unterrichtet. Mit Freuden schlug ich ein ohne das belehrende Geleit seiner
Freunde abzuweisen, welche mit der Liebenswürdigkeit napoletanischer Q-uaglioni
sich uns anschlössen."

„Das deutsche Haus liegt hoch oben nahe beim Domplatz/ von welchem
eine enge Gasse zwischen zwei Gartenmauern etwas bergan grade aus den
Thorweg zuführt. Es ist ein großes Gehöft für ein ausgedehntes landwirth-
schastliches Gewerbe umgeben von einer alten dicken Mauer. Durch diesen
Thorweg kommt man in den Hos, der dem Haus zu etwas aufwärts geht.
Gleich links ist ein acht oder zehn Fenster breites zweistöckiges Wohnhaus an
die Umgebungsmauer gelehnt und auf sie gesetzt; daran stößt ein massiver hoher
Speicher mit vergitterten Fenstern. Dem Eingang gegenüber liegt das Haupt¬
gebäude von altersgrauer Farbe mit hohem Schieferdach; auf dessen anderer
Seite ein kleiner jetzt wüster Garten liegt, an dessen Hinterer Mauer das schwarze
Kreuz des deutschen Ordens angemalt ist. Dann folgt eine hohe Scheuer mit
dem Kuhstall, ein Hof mit Ställen für Kleinvieh, und endlich ein kleiner
Garten, der wieder an den Eingang stößt. Der Boden desselben liegt wol
fünf Fuß höher als die Höfe; darin steht ein verfallenes Lusthäuschen, von
dessen vergitterten Fenstern matt auf die gegenüberliegenden Gärten sieht. Hier
mag die Scene gar manches Gespräches gewesen sein!"

„Das Haupthaus hat eine steinerne Freitreppe mit eisernem Geländer,
welche aus die schwere Hausthüre zuführt. Im Flur steht sogleich die schwarze
Treppe mit einem Geländer starker viereckiger Pfeiler entgegen, sie führt in
einiger Dunkelheit durch alle Stockwerke, in jedem der obern ist ein Vorplatz:
Treppe und Vorplatz nehmen ein volles Drittel des Hausraums ein. Zu jeder
Seite der Treppe sind zwei etwas niedrige Zimmer; aus den Fenstern der obern
hat man eine sehr freundliche Aussicht. Von den Häusern der Stadt sieht


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[0174] Wenige Reisende, die den Werther gelesen — und wer hätte das nicht? - kommen wol in diese Gegend, ohne die durch Goethe gefeierten Plätze aufzusuchen; jeder ist überrascht durch die Wahrheit und Frische der Localfarben in seinen Schilderungen. Ein Freund, der vor kurzem dort sich umgesehen hat, gestattet einige Bruchstücke aus seinem Tagebuch mitzutheilen, das, wenn es in des greisen Dichters Hände gelangt wäre, ihn wol auch zu wiederholten Spiegelungen veranlaßt haben möchte. Leider können seine hübschen Zeich¬ nungen nicht auch mitgetheilt werden.' „Wetzlar, 2. October,1834, im herzoglichen Haus am Domplatz. Unten im alten Gasthof ist ein langer, niedriger Saal, in den sich gleich die Scenen der Ordensceremonien verlegen ließen. An der Wand hängt natürlich Lottes Bild. Kaum war ich a.us dem Hause getreten, als sich ein kleiner wohl¬ gekleideter Straßenjunge mir zum Führer anbot mit der unerfragten Ver¬ sicherung, er sei über den Werther und alles dahin einschlagende sehr wohl unterrichtet. Mit Freuden schlug ich ein ohne das belehrende Geleit seiner Freunde abzuweisen, welche mit der Liebenswürdigkeit napoletanischer Q-uaglioni sich uns anschlössen." „Das deutsche Haus liegt hoch oben nahe beim Domplatz/ von welchem eine enge Gasse zwischen zwei Gartenmauern etwas bergan grade aus den Thorweg zuführt. Es ist ein großes Gehöft für ein ausgedehntes landwirth- schastliches Gewerbe umgeben von einer alten dicken Mauer. Durch diesen Thorweg kommt man in den Hos, der dem Haus zu etwas aufwärts geht. Gleich links ist ein acht oder zehn Fenster breites zweistöckiges Wohnhaus an die Umgebungsmauer gelehnt und auf sie gesetzt; daran stößt ein massiver hoher Speicher mit vergitterten Fenstern. Dem Eingang gegenüber liegt das Haupt¬ gebäude von altersgrauer Farbe mit hohem Schieferdach; auf dessen anderer Seite ein kleiner jetzt wüster Garten liegt, an dessen Hinterer Mauer das schwarze Kreuz des deutschen Ordens angemalt ist. Dann folgt eine hohe Scheuer mit dem Kuhstall, ein Hof mit Ställen für Kleinvieh, und endlich ein kleiner Garten, der wieder an den Eingang stößt. Der Boden desselben liegt wol fünf Fuß höher als die Höfe; darin steht ein verfallenes Lusthäuschen, von dessen vergitterten Fenstern matt auf die gegenüberliegenden Gärten sieht. Hier mag die Scene gar manches Gespräches gewesen sein!" „Das Haupthaus hat eine steinerne Freitreppe mit eisernem Geländer, welche aus die schwere Hausthüre zuführt. Im Flur steht sogleich die schwarze Treppe mit einem Geländer starker viereckiger Pfeiler entgegen, sie führt in einiger Dunkelheit durch alle Stockwerke, in jedem der obern ist ein Vorplatz: Treppe und Vorplatz nehmen ein volles Drittel des Hausraums ein. Zu jeder Seite der Treppe sind zwei etwas niedrige Zimmer; aus den Fenstern der obern hat man eine sehr freundliche Aussicht. Von den Häusern der Stadt sieht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/174>, abgerufen am 23.07.2024.