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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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leugnet, daß in dem hier Gelieferten und in den Begebenheiten und Ereig¬
nissen, welche berührt werden, irgendein Fingerzeig über den Uebergang Goethes,
aus dem wirklichen Leben in die Poesie gegeben werde, es könne ein solcher
Uebergang möglicherweise (!) überhaupt gar nicht stattfinden; die Poesie könne
nur Gestalten, die sich in der gemeine" Wirklichkeit bewegten, ihr entlehnen
und damit ihr Reich zu einem individuellen erheben; die Begebenheiten seien
hier aber so durch und durch prosaischer nicht allein, sondern größtentheils
wahrhaft spießbürgerlicher Natur, daß sie nur negativ dazu beigetragen haben
könnten, die Flamme der Kunst in Goethe zu entzünden, indem er die Macht
der gemeinen Wirklichkeit an sich selbst wie an andern empfunden habe.
Solcher Nadvtage gegenüber, die selbst einen obstinaten Leser des Repertoriums
erschrecken müßte, wird man allerdings versucht, dem Referenten einzuräumen,
daß "die gemeine Wirklichkeit immer und ewig bleibt, was sie ist." Allein es
scheint wie ein Fatum, daß die Leipziger Kritik sich Goethe gegenüber blamirt.
Als der Theil von Wahrheit und Dichtung erschienen war, in welchem der
Aufenthalt in Leipzig geschildert ist, fand sich in der Bibliothek der schönen
Wissenschaften ein Recensent, dem es auch um die gemeine Wirklichkeit zu thun
war und der von seinem Studiengenossen Goethe am bemerkenswerthesten fand,
daß er mäßige Schulkenntnisse besaß, unorthographisch schrieb und die Vor¬
lesungen bei Ernesti nicht eben sehr fleißig besuchte -- und aus so einem Men-
sehen sollte etwas geworden sein!

Das Publicum hat anders geurtheilt als das Repertorium und den Aus¬
spruch der Grenzboten wahrgemacht, baß, wenn manche der Goethescher Brief-
sammlungen nur für die stille Gemeinde waren, dH sich in gleichmäßiger Ver¬
ehrung um'Goethe sammelte, diese für das gesammte deutsche Volk sei: es ist
bereits die zweite Auflage erschienen.

Die Weise der Publication dieser Briefe kann man musterhaft nennen.
Vielleicht dürfte manchem, der von der dauernden, so schwer zu besiegenden
Abneigung der Familie gegen die Veröffentlichung derselben gehörthat und daß
schon im Jahre 1853 eine Anzahl Bogen gedruckt waren, die dann unterdrückt
wurden, der Verdacht sich aufdrängen, die Ausgabe sei eine willkürlich verstüm¬
melte. Eine Vergleichung der jetzt erschienenen Sammlung mil jenen unter¬
drückten Bogen zeigt aber vielmehr, daß der Legationsrath A. Kestner manches
fortzulassen für gut befunden hatte -- man sieht freilich gar nicht ein weshalb
-- was jetzt aufgenommen worden ist, so daß man .icwiß überzeugt sein darf,
daß nichts Wesentliches übergangen ist. Mit richtigem Takt ist auch dasjenige
aus Kestners Briefen und Aufzeichnungen ausgewählt, was zur Erläuterung
dienen kann; der Herausgeber hat, wo er über Personen oder Sachen eine
Aufklärung zu geben wußte, diese in zweckmäßiger Kürze mitgetheilt und mit


leugnet, daß in dem hier Gelieferten und in den Begebenheiten und Ereig¬
nissen, welche berührt werden, irgendein Fingerzeig über den Uebergang Goethes,
aus dem wirklichen Leben in die Poesie gegeben werde, es könne ein solcher
Uebergang möglicherweise (!) überhaupt gar nicht stattfinden; die Poesie könne
nur Gestalten, die sich in der gemeine» Wirklichkeit bewegten, ihr entlehnen
und damit ihr Reich zu einem individuellen erheben; die Begebenheiten seien
hier aber so durch und durch prosaischer nicht allein, sondern größtentheils
wahrhaft spießbürgerlicher Natur, daß sie nur negativ dazu beigetragen haben
könnten, die Flamme der Kunst in Goethe zu entzünden, indem er die Macht
der gemeinen Wirklichkeit an sich selbst wie an andern empfunden habe.
Solcher Nadvtage gegenüber, die selbst einen obstinaten Leser des Repertoriums
erschrecken müßte, wird man allerdings versucht, dem Referenten einzuräumen,
daß „die gemeine Wirklichkeit immer und ewig bleibt, was sie ist." Allein es
scheint wie ein Fatum, daß die Leipziger Kritik sich Goethe gegenüber blamirt.
Als der Theil von Wahrheit und Dichtung erschienen war, in welchem der
Aufenthalt in Leipzig geschildert ist, fand sich in der Bibliothek der schönen
Wissenschaften ein Recensent, dem es auch um die gemeine Wirklichkeit zu thun
war und der von seinem Studiengenossen Goethe am bemerkenswerthesten fand,
daß er mäßige Schulkenntnisse besaß, unorthographisch schrieb und die Vor¬
lesungen bei Ernesti nicht eben sehr fleißig besuchte — und aus so einem Men-
sehen sollte etwas geworden sein!

Das Publicum hat anders geurtheilt als das Repertorium und den Aus¬
spruch der Grenzboten wahrgemacht, baß, wenn manche der Goethescher Brief-
sammlungen nur für die stille Gemeinde waren, dH sich in gleichmäßiger Ver¬
ehrung um'Goethe sammelte, diese für das gesammte deutsche Volk sei: es ist
bereits die zweite Auflage erschienen.

Die Weise der Publication dieser Briefe kann man musterhaft nennen.
Vielleicht dürfte manchem, der von der dauernden, so schwer zu besiegenden
Abneigung der Familie gegen die Veröffentlichung derselben gehörthat und daß
schon im Jahre 1853 eine Anzahl Bogen gedruckt waren, die dann unterdrückt
wurden, der Verdacht sich aufdrängen, die Ausgabe sei eine willkürlich verstüm¬
melte. Eine Vergleichung der jetzt erschienenen Sammlung mil jenen unter¬
drückten Bogen zeigt aber vielmehr, daß der Legationsrath A. Kestner manches
fortzulassen für gut befunden hatte — man sieht freilich gar nicht ein weshalb
— was jetzt aufgenommen worden ist, so daß man .icwiß überzeugt sein darf,
daß nichts Wesentliches übergangen ist. Mit richtigem Takt ist auch dasjenige
aus Kestners Briefen und Aufzeichnungen ausgewählt, was zur Erläuterung
dienen kann; der Herausgeber hat, wo er über Personen oder Sachen eine
Aufklärung zu geben wußte, diese in zweckmäßiger Kürze mitgetheilt und mit


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[0172] leugnet, daß in dem hier Gelieferten und in den Begebenheiten und Ereig¬ nissen, welche berührt werden, irgendein Fingerzeig über den Uebergang Goethes, aus dem wirklichen Leben in die Poesie gegeben werde, es könne ein solcher Uebergang möglicherweise (!) überhaupt gar nicht stattfinden; die Poesie könne nur Gestalten, die sich in der gemeine» Wirklichkeit bewegten, ihr entlehnen und damit ihr Reich zu einem individuellen erheben; die Begebenheiten seien hier aber so durch und durch prosaischer nicht allein, sondern größtentheils wahrhaft spießbürgerlicher Natur, daß sie nur negativ dazu beigetragen haben könnten, die Flamme der Kunst in Goethe zu entzünden, indem er die Macht der gemeinen Wirklichkeit an sich selbst wie an andern empfunden habe. Solcher Nadvtage gegenüber, die selbst einen obstinaten Leser des Repertoriums erschrecken müßte, wird man allerdings versucht, dem Referenten einzuräumen, daß „die gemeine Wirklichkeit immer und ewig bleibt, was sie ist." Allein es scheint wie ein Fatum, daß die Leipziger Kritik sich Goethe gegenüber blamirt. Als der Theil von Wahrheit und Dichtung erschienen war, in welchem der Aufenthalt in Leipzig geschildert ist, fand sich in der Bibliothek der schönen Wissenschaften ein Recensent, dem es auch um die gemeine Wirklichkeit zu thun war und der von seinem Studiengenossen Goethe am bemerkenswerthesten fand, daß er mäßige Schulkenntnisse besaß, unorthographisch schrieb und die Vor¬ lesungen bei Ernesti nicht eben sehr fleißig besuchte — und aus so einem Men- sehen sollte etwas geworden sein! Das Publicum hat anders geurtheilt als das Repertorium und den Aus¬ spruch der Grenzboten wahrgemacht, baß, wenn manche der Goethescher Brief- sammlungen nur für die stille Gemeinde waren, dH sich in gleichmäßiger Ver¬ ehrung um'Goethe sammelte, diese für das gesammte deutsche Volk sei: es ist bereits die zweite Auflage erschienen. Die Weise der Publication dieser Briefe kann man musterhaft nennen. Vielleicht dürfte manchem, der von der dauernden, so schwer zu besiegenden Abneigung der Familie gegen die Veröffentlichung derselben gehörthat und daß schon im Jahre 1853 eine Anzahl Bogen gedruckt waren, die dann unterdrückt wurden, der Verdacht sich aufdrängen, die Ausgabe sei eine willkürlich verstüm¬ melte. Eine Vergleichung der jetzt erschienenen Sammlung mil jenen unter¬ drückten Bogen zeigt aber vielmehr, daß der Legationsrath A. Kestner manches fortzulassen für gut befunden hatte — man sieht freilich gar nicht ein weshalb — was jetzt aufgenommen worden ist, so daß man .icwiß überzeugt sein darf, daß nichts Wesentliches übergangen ist. Mit richtigem Takt ist auch dasjenige aus Kestners Briefen und Aufzeichnungen ausgewählt, was zur Erläuterung dienen kann; der Herausgeber hat, wo er über Personen oder Sachen eine Aufklärung zu geben wußte, diese in zweckmäßiger Kürze mitgetheilt und mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/172>, abgerufen am 25.08.2024.