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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Gegenstand novellistischer Darstellung macht. Die Ki ltabendg eschich ten sind
ein sehr anerkennenswerther Beitrag für die Kenntniß des Schweizer Bauer-
lebenS. Zwar wird das Vorbild GotthelsS, welches wir in jedem Augenblick
wiedererkennen, nicht erreicht, aber man darf sich doch nicht schämen, die bei¬
den Dichter nebeneinander zu nennen. Die Farben, die der Verfasser anwen¬
det, sind kräftig und springen lebhaft ins Auge; sie entsprechen den zahlreichen
Holzschnitten, mit denen das Buch verziert ist und die zuweilen sehr charak¬
teristisch, zuweilen aber auch recht unbeholfen und schwerfällig sind. Die Ge¬
sinnung deö Verfassers steht uns in mancher Beziehung näher, als die des
Pastors von Lützelflieh; sie ist ohne jene Beimischung von Orthodoxie, die
uns in den Dorfgeschichten Gotthelfs doch zuweilen verstimmt hat. --

Die Münchner Geschichten aus den vergangenen Jahrhunderten sind
lebhaft und anschaulich erzählt und wir begrüßen diese weitere Localisirung
der Novelle mit Freuden. Nur durch individuelle, an bestimmte Oertlichkei-
ten und Zustände gebundene Charakterbilder gewinnt die deutsche Geschichte
jene Farbe, die uns die vergangenen Zeiten gegenwärtig macht. In der Com-
position und dem Stil hätte der Verfasser etwas mehr Strenge anwenden
sollen. --

Die Neuen Erzählungen von Horn sind in der bekannten Weise des
Verfassers. Den Vorzug geben wir dem Büchlein vom Feldmarschall Blücher,
welches wol verdient, ein weitverbreitetes Volksbuch zu werden. In den an¬
der" Geschichten, namentlich im Ostindienfahrer und dem Kongoneger, werden
wir seltsamerweise mitunter an E. Sue erinnert. Die Geschichte von dem
Bösewicht, dessen Oberkörper in dem Nachen einer Schlange stecken bleibt,
während die Beine von den Wölfen abgefressen werden, geht sogar noch über
Sue heraus: Die conservativ-liberale Gesinnung des Verfassers ist anerken¬
nenswert!). --

Die Märchen für die Jugend sind zweckmäßig ausgewählt und gut
und einfach erzählt. Der Verfasser hat seine liebevolle Theilnahme für das Leben
deS Volks schon vielseitig an den Tag gelegt und wir stimmen ganz mit ihm
überein, wenn er den deutschen Volksmärchen eine hohe pädagogische Bedeu¬
tung beilegt. In der mythologischen Auslegung scheinen uns die neuen
Märchensammler etwas zu weit zu gehen. ES war Von Seiten der Gebrüder
Guam eine Scholle, für Poesie und Wissenschaft gleich werthvolle Entdeckung,
daß sich mitunter hinter einem ehrbaren Schneider niemand Geringeres ver¬
steckte, als der Gott Thor; aber hinter allen Schneidern des Märchens Götter¬
bilder zu suchen, scheint uns doch zu gewagt zu sein. So gut wie die Araber
sich eine Reihe höchst liebenswürdiger und interessanter Geschichten erdachten,
die außer allem Zusammenhang mit ihrer Religion standen, so werden es doch
wol auch die Deutschen im Stande gewesen sein, und die Jneinanderbildung


Gegenstand novellistischer Darstellung macht. Die Ki ltabendg eschich ten sind
ein sehr anerkennenswerther Beitrag für die Kenntniß des Schweizer Bauer-
lebenS. Zwar wird das Vorbild GotthelsS, welches wir in jedem Augenblick
wiedererkennen, nicht erreicht, aber man darf sich doch nicht schämen, die bei¬
den Dichter nebeneinander zu nennen. Die Farben, die der Verfasser anwen¬
det, sind kräftig und springen lebhaft ins Auge; sie entsprechen den zahlreichen
Holzschnitten, mit denen das Buch verziert ist und die zuweilen sehr charak¬
teristisch, zuweilen aber auch recht unbeholfen und schwerfällig sind. Die Ge¬
sinnung deö Verfassers steht uns in mancher Beziehung näher, als die des
Pastors von Lützelflieh; sie ist ohne jene Beimischung von Orthodoxie, die
uns in den Dorfgeschichten Gotthelfs doch zuweilen verstimmt hat. —

Die Münchner Geschichten aus den vergangenen Jahrhunderten sind
lebhaft und anschaulich erzählt und wir begrüßen diese weitere Localisirung
der Novelle mit Freuden. Nur durch individuelle, an bestimmte Oertlichkei-
ten und Zustände gebundene Charakterbilder gewinnt die deutsche Geschichte
jene Farbe, die uns die vergangenen Zeiten gegenwärtig macht. In der Com-
position und dem Stil hätte der Verfasser etwas mehr Strenge anwenden
sollen. —

Die Neuen Erzählungen von Horn sind in der bekannten Weise des
Verfassers. Den Vorzug geben wir dem Büchlein vom Feldmarschall Blücher,
welches wol verdient, ein weitverbreitetes Volksbuch zu werden. In den an¬
der» Geschichten, namentlich im Ostindienfahrer und dem Kongoneger, werden
wir seltsamerweise mitunter an E. Sue erinnert. Die Geschichte von dem
Bösewicht, dessen Oberkörper in dem Nachen einer Schlange stecken bleibt,
während die Beine von den Wölfen abgefressen werden, geht sogar noch über
Sue heraus: Die conservativ-liberale Gesinnung des Verfassers ist anerken¬
nenswert!). —

Die Märchen für die Jugend sind zweckmäßig ausgewählt und gut
und einfach erzählt. Der Verfasser hat seine liebevolle Theilnahme für das Leben
deS Volks schon vielseitig an den Tag gelegt und wir stimmen ganz mit ihm
überein, wenn er den deutschen Volksmärchen eine hohe pädagogische Bedeu¬
tung beilegt. In der mythologischen Auslegung scheinen uns die neuen
Märchensammler etwas zu weit zu gehen. ES war Von Seiten der Gebrüder
Guam eine Scholle, für Poesie und Wissenschaft gleich werthvolle Entdeckung,
daß sich mitunter hinter einem ehrbaren Schneider niemand Geringeres ver¬
steckte, als der Gott Thor; aber hinter allen Schneidern des Märchens Götter¬
bilder zu suchen, scheint uns doch zu gewagt zu sein. So gut wie die Araber
sich eine Reihe höchst liebenswürdiger und interessanter Geschichten erdachten,
die außer allem Zusammenhang mit ihrer Religion standen, so werden es doch
wol auch die Deutschen im Stande gewesen sein, und die Jneinanderbildung


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[0111] Gegenstand novellistischer Darstellung macht. Die Ki ltabendg eschich ten sind ein sehr anerkennenswerther Beitrag für die Kenntniß des Schweizer Bauer- lebenS. Zwar wird das Vorbild GotthelsS, welches wir in jedem Augenblick wiedererkennen, nicht erreicht, aber man darf sich doch nicht schämen, die bei¬ den Dichter nebeneinander zu nennen. Die Farben, die der Verfasser anwen¬ det, sind kräftig und springen lebhaft ins Auge; sie entsprechen den zahlreichen Holzschnitten, mit denen das Buch verziert ist und die zuweilen sehr charak¬ teristisch, zuweilen aber auch recht unbeholfen und schwerfällig sind. Die Ge¬ sinnung deö Verfassers steht uns in mancher Beziehung näher, als die des Pastors von Lützelflieh; sie ist ohne jene Beimischung von Orthodoxie, die uns in den Dorfgeschichten Gotthelfs doch zuweilen verstimmt hat. — Die Münchner Geschichten aus den vergangenen Jahrhunderten sind lebhaft und anschaulich erzählt und wir begrüßen diese weitere Localisirung der Novelle mit Freuden. Nur durch individuelle, an bestimmte Oertlichkei- ten und Zustände gebundene Charakterbilder gewinnt die deutsche Geschichte jene Farbe, die uns die vergangenen Zeiten gegenwärtig macht. In der Com- position und dem Stil hätte der Verfasser etwas mehr Strenge anwenden sollen. — Die Neuen Erzählungen von Horn sind in der bekannten Weise des Verfassers. Den Vorzug geben wir dem Büchlein vom Feldmarschall Blücher, welches wol verdient, ein weitverbreitetes Volksbuch zu werden. In den an¬ der» Geschichten, namentlich im Ostindienfahrer und dem Kongoneger, werden wir seltsamerweise mitunter an E. Sue erinnert. Die Geschichte von dem Bösewicht, dessen Oberkörper in dem Nachen einer Schlange stecken bleibt, während die Beine von den Wölfen abgefressen werden, geht sogar noch über Sue heraus: Die conservativ-liberale Gesinnung des Verfassers ist anerken¬ nenswert!). — Die Märchen für die Jugend sind zweckmäßig ausgewählt und gut und einfach erzählt. Der Verfasser hat seine liebevolle Theilnahme für das Leben deS Volks schon vielseitig an den Tag gelegt und wir stimmen ganz mit ihm überein, wenn er den deutschen Volksmärchen eine hohe pädagogische Bedeu¬ tung beilegt. In der mythologischen Auslegung scheinen uns die neuen Märchensammler etwas zu weit zu gehen. ES war Von Seiten der Gebrüder Guam eine Scholle, für Poesie und Wissenschaft gleich werthvolle Entdeckung, daß sich mitunter hinter einem ehrbaren Schneider niemand Geringeres ver¬ steckte, als der Gott Thor; aber hinter allen Schneidern des Märchens Götter¬ bilder zu suchen, scheint uns doch zu gewagt zu sein. So gut wie die Araber sich eine Reihe höchst liebenswürdiger und interessanter Geschichten erdachten, die außer allem Zusammenhang mit ihrer Religion standen, so werden es doch wol auch die Deutschen im Stande gewesen sein, und die Jneinanderbildung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/111>, abgerufen am 26.06.2024.