Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

entzogen, was auf seine Bildung sehr vortheilhaft hätte einwirken können. --
Der fragliche Artikel ist von Haym in Halle, dem ehemaligen Redacteur der
Berliner Konstitutionellen Zeitung. Er ist die Frucht außerordentlich gründ¬
licher Studien und mit einer Unparteilichkeit geschriebn,, die dem Verfasser
Ehre macht und die gewiß jeden Leser befriedigen wird. Nach unsrer Ansicht
hat man die Bedeutung dieses höchst begabten Mannes für unsre Literatur
überschätzt. Die warmen Anpreisungen seines Freundes Barnhagen und dann
die heftige Polemik in den Halleschen Jahrbüchern lenkten die Aufmerksamkeit
des Publicums in einer Weise auf ihn, die in den Thatsachen nicht ganz die
genügende Grundlage fand. Gentz hat mit großem Geschick die neuen politi¬
schen Theorien mit der Praxis des Staatslebens, die ihm bequem war, zu
vereinbaren gewußt, aber neue Ideen hat er nicht aufgestellt, und in die
praktische Politik hat er auch nicht selbstständig eingegriffen. Indem man nun
die Genialität seiner Begabung zu hoch anschlug, fühlte mau sich auf der
andern Seite gedrungen, seinem bösen Willen desto schlimmere Dinge nach¬
zusagen, und in einer Zeit, wo alles generalisirt wurde, nahm man keinen
Anstand, in Gentz die Verkörperung des dämonischen, völkerfeindlichen Prin¬
cips der egoistischen Genußsucht zu suchen. In dieser Beziehung hatte ihm
Varnhagen einen schlimmen Dienst geleistet, als er seine Briefe an Rahel
veröffentlichte. Es kamen Stellen darin vor, die man nun nach Herzenslust
ausbeuten konnte, um jenes Princip der mephistophelischen Politik zu con-
struiren. "Ich bin sehr alt und schlecht geworden, ich bin teuflisch blasirt,
ich habe für nichts mehr Interesse, als für das Frühstück und meine Meubles
u. s. w." Reißt man diese Selbstgeständnisse einer schönen Seele aus dem
Zusammenhang, so muß man in der That sehr wunderliche Betrachtungen
daran knüpfen; im Zusammenhang klingen sie nicht so arg. Die geistreiche
Frau schrieb ihrem Freunde so seltsame und unerhörte Dinge, daß er sich
sichtlich anstrengt, seinerseits das Unerhörteste und Unmöglichste auszudenken,
um nur einigermaßen auf der Höhe der Korrespondenz zu bleiben. Außerdem
appellirte sie in Dingen, aus die er nicht eingehen konnte oder wollte, so leb¬
haft und nachdrücklich an sein Gefühl, daß er alles aufbot, um ihr nachzu¬
weisen, sein Gefühl sei ganz kalt und erstorben. Es ist mit gedruckten Briefen
eine eigne Sache. Wenn man in diesen flüchtigen Mittheilungen die inner¬
sten Geheimnisse des Herzens aufspüren will, so möchte man doch zuweilen
M falscher Fährte gehen. -- Für die Kulturgeschichte bietet das Leben von
Gentz immer ein sehr interessantes Bild, und wir glauben, daß die gegen¬
wärtige Abhandlung dasselbe vollständig erschöpft und jedes weitere Studium
unnöthig macht.




entzogen, was auf seine Bildung sehr vortheilhaft hätte einwirken können. —
Der fragliche Artikel ist von Haym in Halle, dem ehemaligen Redacteur der
Berliner Konstitutionellen Zeitung. Er ist die Frucht außerordentlich gründ¬
licher Studien und mit einer Unparteilichkeit geschriebn,, die dem Verfasser
Ehre macht und die gewiß jeden Leser befriedigen wird. Nach unsrer Ansicht
hat man die Bedeutung dieses höchst begabten Mannes für unsre Literatur
überschätzt. Die warmen Anpreisungen seines Freundes Barnhagen und dann
die heftige Polemik in den Halleschen Jahrbüchern lenkten die Aufmerksamkeit
des Publicums in einer Weise auf ihn, die in den Thatsachen nicht ganz die
genügende Grundlage fand. Gentz hat mit großem Geschick die neuen politi¬
schen Theorien mit der Praxis des Staatslebens, die ihm bequem war, zu
vereinbaren gewußt, aber neue Ideen hat er nicht aufgestellt, und in die
praktische Politik hat er auch nicht selbstständig eingegriffen. Indem man nun
die Genialität seiner Begabung zu hoch anschlug, fühlte mau sich auf der
andern Seite gedrungen, seinem bösen Willen desto schlimmere Dinge nach¬
zusagen, und in einer Zeit, wo alles generalisirt wurde, nahm man keinen
Anstand, in Gentz die Verkörperung des dämonischen, völkerfeindlichen Prin¬
cips der egoistischen Genußsucht zu suchen. In dieser Beziehung hatte ihm
Varnhagen einen schlimmen Dienst geleistet, als er seine Briefe an Rahel
veröffentlichte. Es kamen Stellen darin vor, die man nun nach Herzenslust
ausbeuten konnte, um jenes Princip der mephistophelischen Politik zu con-
struiren. „Ich bin sehr alt und schlecht geworden, ich bin teuflisch blasirt,
ich habe für nichts mehr Interesse, als für das Frühstück und meine Meubles
u. s. w." Reißt man diese Selbstgeständnisse einer schönen Seele aus dem
Zusammenhang, so muß man in der That sehr wunderliche Betrachtungen
daran knüpfen; im Zusammenhang klingen sie nicht so arg. Die geistreiche
Frau schrieb ihrem Freunde so seltsame und unerhörte Dinge, daß er sich
sichtlich anstrengt, seinerseits das Unerhörteste und Unmöglichste auszudenken,
um nur einigermaßen auf der Höhe der Korrespondenz zu bleiben. Außerdem
appellirte sie in Dingen, aus die er nicht eingehen konnte oder wollte, so leb¬
haft und nachdrücklich an sein Gefühl, daß er alles aufbot, um ihr nachzu¬
weisen, sein Gefühl sei ganz kalt und erstorben. Es ist mit gedruckten Briefen
eine eigne Sache. Wenn man in diesen flüchtigen Mittheilungen die inner¬
sten Geheimnisse des Herzens aufspüren will, so möchte man doch zuweilen
M falscher Fährte gehen. — Für die Kulturgeschichte bietet das Leben von
Gentz immer ein sehr interessantes Bild, und wir glauben, daß die gegen¬
wärtige Abhandlung dasselbe vollständig erschöpft und jedes weitere Studium
unnöthig macht.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0109" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98961"/>
          <p xml:id="ID_340" prev="#ID_339"> entzogen, was auf seine Bildung sehr vortheilhaft hätte einwirken können. &#x2014;<lb/>
Der fragliche Artikel ist von Haym in Halle, dem ehemaligen Redacteur der<lb/>
Berliner Konstitutionellen Zeitung. Er ist die Frucht außerordentlich gründ¬<lb/>
licher Studien und mit einer Unparteilichkeit geschriebn,, die dem Verfasser<lb/>
Ehre macht und die gewiß jeden Leser befriedigen wird. Nach unsrer Ansicht<lb/>
hat man die Bedeutung dieses höchst begabten Mannes für unsre Literatur<lb/>
überschätzt. Die warmen Anpreisungen seines Freundes Barnhagen und dann<lb/>
die heftige Polemik in den Halleschen Jahrbüchern lenkten die Aufmerksamkeit<lb/>
des Publicums in einer Weise auf ihn, die in den Thatsachen nicht ganz die<lb/>
genügende Grundlage fand. Gentz hat mit großem Geschick die neuen politi¬<lb/>
schen Theorien mit der Praxis des Staatslebens, die ihm bequem war, zu<lb/>
vereinbaren gewußt, aber neue Ideen hat er nicht aufgestellt, und in die<lb/>
praktische Politik hat er auch nicht selbstständig eingegriffen. Indem man nun<lb/>
die Genialität seiner Begabung zu hoch anschlug, fühlte mau sich auf der<lb/>
andern Seite gedrungen, seinem bösen Willen desto schlimmere Dinge nach¬<lb/>
zusagen, und in einer Zeit, wo alles generalisirt wurde, nahm man keinen<lb/>
Anstand, in Gentz die Verkörperung des dämonischen, völkerfeindlichen Prin¬<lb/>
cips der egoistischen Genußsucht zu suchen. In dieser Beziehung hatte ihm<lb/>
Varnhagen einen schlimmen Dienst geleistet, als er seine Briefe an Rahel<lb/>
veröffentlichte. Es kamen Stellen darin vor, die man nun nach Herzenslust<lb/>
ausbeuten konnte, um jenes Princip der mephistophelischen Politik zu con-<lb/>
struiren. &#x201E;Ich bin sehr alt und schlecht geworden, ich bin teuflisch blasirt,<lb/>
ich habe für nichts mehr Interesse, als für das Frühstück und meine Meubles<lb/>
u. s. w." Reißt man diese Selbstgeständnisse einer schönen Seele aus dem<lb/>
Zusammenhang, so muß man in der That sehr wunderliche Betrachtungen<lb/>
daran knüpfen; im Zusammenhang klingen sie nicht so arg. Die geistreiche<lb/>
Frau schrieb ihrem Freunde so seltsame und unerhörte Dinge, daß er sich<lb/>
sichtlich anstrengt, seinerseits das Unerhörteste und Unmöglichste auszudenken,<lb/>
um nur einigermaßen auf der Höhe der Korrespondenz zu bleiben. Außerdem<lb/>
appellirte sie in Dingen, aus die er nicht eingehen konnte oder wollte, so leb¬<lb/>
haft und nachdrücklich an sein Gefühl, daß er alles aufbot, um ihr nachzu¬<lb/>
weisen, sein Gefühl sei ganz kalt und erstorben. Es ist mit gedruckten Briefen<lb/>
eine eigne Sache. Wenn man in diesen flüchtigen Mittheilungen die inner¬<lb/>
sten Geheimnisse des Herzens aufspüren will, so möchte man doch zuweilen<lb/>
M falscher Fährte gehen. &#x2014; Für die Kulturgeschichte bietet das Leben von<lb/>
Gentz immer ein sehr interessantes Bild, und wir glauben, daß die gegen¬<lb/>
wärtige Abhandlung dasselbe vollständig erschöpft und jedes weitere Studium<lb/>
unnöthig macht.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0109] entzogen, was auf seine Bildung sehr vortheilhaft hätte einwirken können. — Der fragliche Artikel ist von Haym in Halle, dem ehemaligen Redacteur der Berliner Konstitutionellen Zeitung. Er ist die Frucht außerordentlich gründ¬ licher Studien und mit einer Unparteilichkeit geschriebn,, die dem Verfasser Ehre macht und die gewiß jeden Leser befriedigen wird. Nach unsrer Ansicht hat man die Bedeutung dieses höchst begabten Mannes für unsre Literatur überschätzt. Die warmen Anpreisungen seines Freundes Barnhagen und dann die heftige Polemik in den Halleschen Jahrbüchern lenkten die Aufmerksamkeit des Publicums in einer Weise auf ihn, die in den Thatsachen nicht ganz die genügende Grundlage fand. Gentz hat mit großem Geschick die neuen politi¬ schen Theorien mit der Praxis des Staatslebens, die ihm bequem war, zu vereinbaren gewußt, aber neue Ideen hat er nicht aufgestellt, und in die praktische Politik hat er auch nicht selbstständig eingegriffen. Indem man nun die Genialität seiner Begabung zu hoch anschlug, fühlte mau sich auf der andern Seite gedrungen, seinem bösen Willen desto schlimmere Dinge nach¬ zusagen, und in einer Zeit, wo alles generalisirt wurde, nahm man keinen Anstand, in Gentz die Verkörperung des dämonischen, völkerfeindlichen Prin¬ cips der egoistischen Genußsucht zu suchen. In dieser Beziehung hatte ihm Varnhagen einen schlimmen Dienst geleistet, als er seine Briefe an Rahel veröffentlichte. Es kamen Stellen darin vor, die man nun nach Herzenslust ausbeuten konnte, um jenes Princip der mephistophelischen Politik zu con- struiren. „Ich bin sehr alt und schlecht geworden, ich bin teuflisch blasirt, ich habe für nichts mehr Interesse, als für das Frühstück und meine Meubles u. s. w." Reißt man diese Selbstgeständnisse einer schönen Seele aus dem Zusammenhang, so muß man in der That sehr wunderliche Betrachtungen daran knüpfen; im Zusammenhang klingen sie nicht so arg. Die geistreiche Frau schrieb ihrem Freunde so seltsame und unerhörte Dinge, daß er sich sichtlich anstrengt, seinerseits das Unerhörteste und Unmöglichste auszudenken, um nur einigermaßen auf der Höhe der Korrespondenz zu bleiben. Außerdem appellirte sie in Dingen, aus die er nicht eingehen konnte oder wollte, so leb¬ haft und nachdrücklich an sein Gefühl, daß er alles aufbot, um ihr nachzu¬ weisen, sein Gefühl sei ganz kalt und erstorben. Es ist mit gedruckten Briefen eine eigne Sache. Wenn man in diesen flüchtigen Mittheilungen die inner¬ sten Geheimnisse des Herzens aufspüren will, so möchte man doch zuweilen M falscher Fährte gehen. — Für die Kulturgeschichte bietet das Leben von Gentz immer ein sehr interessantes Bild, und wir glauben, daß die gegen¬ wärtige Abhandlung dasselbe vollständig erschöpft und jedes weitere Studium unnöthig macht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/109
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/109>, abgerufen am 23.07.2024.