Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ist nicht ein einziger Fall vorgekommen, wo das türkische Feuer nicht seine
Inferiorität dem nissischen gegenüber empfunden hätte; dagegen wurde der erste
Feldzug des jetzigen Krieges gleich mit Siegen eröffnet, die wesentlich das Werk
der osmamschen Artillerie waren. Diese letztere Waffe hatte bereits Anerken¬
nung vor Ausbruch des heutigen Kampfes; die Infanterie dagegen bekam eine
bessere Waffenausrüstung erst im Laufe desselben. Ein Theil des Redif hat
gegenwärtig noch das Steinschloßgewehr.

Man wolle hierin keinen Widerspruch mit der bei den neusten Festungs¬
kämpfen und Ortsvertheidigungen oft aufgestellten und mit Recht für begründet
anerkannten Behauptung finden: daß die türkische nationale Bewaffnung bei
diesen ausnahmsweise" Gelegenheiten ihre Ueberlegenheit bewährt habe. Bei
Erstürmung einer Schanze, wo die taktische Ordnung sich außer Wirksamkeit be¬
findet, ist nämlich das Gefecht als ein Aggregat von Einzelkämpfen anzusehen,
das Feuergewehr leistet wenig mehr, ausgenommen beim Beginn des Ren-
contres und wo es flankirend wirkt, weil man sich zu nahe befindet; auch das
lange Gewehr erweist sich als Unpraktisch und die Entscheidung fällt dem
Säbel und Handschar anheim, eben weil sie kurz sind.

Die neuere Taktik kennt nur für das Feuergefecht die zerstreute Ordnung;
im Handgemenge, und wenn alles auf die blanke Waffe gesetzt ist, will sie
durch die Macht des Stoßes (Colonne) siegen. Diese Wirkung mit dicht ge¬
schlossenen Massen und mittelst des Druckes der zurückgestellten Glieder auf
die vorderen hat einige Aehnlichkeit mit den Principien der altgriechischen Taktik
(Phalanx). Es bezeichnet aber offenbar eine Lücke in unsrer heutigen militärischen
Ausbildung, daß wir das System des Einzelfechtens auf die Schußwaffe be¬
schränkt haben und nicht zugleich auf das Bajonett ausdehnen. (Die Uebun¬
gen im sogenannten Bajonettiren sind nur ein schwacher Anfang.) Die Schwäche
des heutigen Systems tritt allerdings auf Erercierplätzen und bei Feldmanö¬
vern in der Umgegend von Berlin und Potsdam wenig hervor, aber in einem
Terrain wie das in der europäischen Türkei und in Taurien wird es fühlbar.
Frankreich scheint verhältnißmäßig am weitestell dem angedeuteten Ziele entgegen¬
geschritten zu sein, indem eS in Algerien mit der Bedeutung des Einzelkampfes
bekannt geworden, in seinen Zuaven sich eine Truppe schuf, welche wesentlich
auf die Anwendung desselben als Angriffsform eingeschult und zugleich mit
Rücksicht darauf bewaffnet ist.

Die Anwendung dieser neuen Methode scheint es im Wesentlichen zu sein,
welche der französischen neueren Taktik den Charakter des Ungestüms verliehen
hat, den sie ungeachtet ihrer starken Hinneigung zu der offensiven Gefechtsfüh¬
rung dennoch früher und auch unter dem großen Napoleon nicht in dem
Maße besaß. Die großen Schlachten des Kaisers lassen sich den geometrischen
Elementen ihrer Anordnung nach natürlich nicht unter einen Gesichtspunkt


ist nicht ein einziger Fall vorgekommen, wo das türkische Feuer nicht seine
Inferiorität dem nissischen gegenüber empfunden hätte; dagegen wurde der erste
Feldzug des jetzigen Krieges gleich mit Siegen eröffnet, die wesentlich das Werk
der osmamschen Artillerie waren. Diese letztere Waffe hatte bereits Anerken¬
nung vor Ausbruch des heutigen Kampfes; die Infanterie dagegen bekam eine
bessere Waffenausrüstung erst im Laufe desselben. Ein Theil des Redif hat
gegenwärtig noch das Steinschloßgewehr.

Man wolle hierin keinen Widerspruch mit der bei den neusten Festungs¬
kämpfen und Ortsvertheidigungen oft aufgestellten und mit Recht für begründet
anerkannten Behauptung finden: daß die türkische nationale Bewaffnung bei
diesen ausnahmsweise» Gelegenheiten ihre Ueberlegenheit bewährt habe. Bei
Erstürmung einer Schanze, wo die taktische Ordnung sich außer Wirksamkeit be¬
findet, ist nämlich das Gefecht als ein Aggregat von Einzelkämpfen anzusehen,
das Feuergewehr leistet wenig mehr, ausgenommen beim Beginn des Ren-
contres und wo es flankirend wirkt, weil man sich zu nahe befindet; auch das
lange Gewehr erweist sich als Unpraktisch und die Entscheidung fällt dem
Säbel und Handschar anheim, eben weil sie kurz sind.

Die neuere Taktik kennt nur für das Feuergefecht die zerstreute Ordnung;
im Handgemenge, und wenn alles auf die blanke Waffe gesetzt ist, will sie
durch die Macht des Stoßes (Colonne) siegen. Diese Wirkung mit dicht ge¬
schlossenen Massen und mittelst des Druckes der zurückgestellten Glieder auf
die vorderen hat einige Aehnlichkeit mit den Principien der altgriechischen Taktik
(Phalanx). Es bezeichnet aber offenbar eine Lücke in unsrer heutigen militärischen
Ausbildung, daß wir das System des Einzelfechtens auf die Schußwaffe be¬
schränkt haben und nicht zugleich auf das Bajonett ausdehnen. (Die Uebun¬
gen im sogenannten Bajonettiren sind nur ein schwacher Anfang.) Die Schwäche
des heutigen Systems tritt allerdings auf Erercierplätzen und bei Feldmanö¬
vern in der Umgegend von Berlin und Potsdam wenig hervor, aber in einem
Terrain wie das in der europäischen Türkei und in Taurien wird es fühlbar.
Frankreich scheint verhältnißmäßig am weitestell dem angedeuteten Ziele entgegen¬
geschritten zu sein, indem eS in Algerien mit der Bedeutung des Einzelkampfes
bekannt geworden, in seinen Zuaven sich eine Truppe schuf, welche wesentlich
auf die Anwendung desselben als Angriffsform eingeschult und zugleich mit
Rücksicht darauf bewaffnet ist.

Die Anwendung dieser neuen Methode scheint es im Wesentlichen zu sein,
welche der französischen neueren Taktik den Charakter des Ungestüms verliehen
hat, den sie ungeachtet ihrer starken Hinneigung zu der offensiven Gefechtsfüh¬
rung dennoch früher und auch unter dem großen Napoleon nicht in dem
Maße besaß. Die großen Schlachten des Kaisers lassen sich den geometrischen
Elementen ihrer Anordnung nach natürlich nicht unter einen Gesichtspunkt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100926"/>
            <p xml:id="ID_1390" prev="#ID_1389"> ist nicht ein einziger Fall vorgekommen, wo das türkische Feuer nicht seine<lb/>
Inferiorität dem nissischen gegenüber empfunden hätte; dagegen wurde der erste<lb/>
Feldzug des jetzigen Krieges gleich mit Siegen eröffnet, die wesentlich das Werk<lb/>
der osmamschen Artillerie waren. Diese letztere Waffe hatte bereits Anerken¬<lb/>
nung vor Ausbruch des heutigen Kampfes; die Infanterie dagegen bekam eine<lb/>
bessere Waffenausrüstung erst im Laufe desselben. Ein Theil des Redif hat<lb/>
gegenwärtig noch das Steinschloßgewehr.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1391"> Man wolle hierin keinen Widerspruch mit der bei den neusten Festungs¬<lb/>
kämpfen und Ortsvertheidigungen oft aufgestellten und mit Recht für begründet<lb/>
anerkannten Behauptung finden: daß die türkische nationale Bewaffnung bei<lb/>
diesen ausnahmsweise» Gelegenheiten ihre Ueberlegenheit bewährt habe. Bei<lb/>
Erstürmung einer Schanze, wo die taktische Ordnung sich außer Wirksamkeit be¬<lb/>
findet, ist nämlich das Gefecht als ein Aggregat von Einzelkämpfen anzusehen,<lb/>
das Feuergewehr leistet wenig mehr, ausgenommen beim Beginn des Ren-<lb/>
contres und wo es flankirend wirkt, weil man sich zu nahe befindet; auch das<lb/>
lange Gewehr erweist sich als Unpraktisch und die Entscheidung fällt dem<lb/>
Säbel und Handschar anheim, eben weil sie kurz sind.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1392"> Die neuere Taktik kennt nur für das Feuergefecht die zerstreute Ordnung;<lb/>
im Handgemenge, und wenn alles auf die blanke Waffe gesetzt ist, will sie<lb/>
durch die Macht des Stoßes (Colonne) siegen. Diese Wirkung mit dicht ge¬<lb/>
schlossenen Massen und mittelst des Druckes der zurückgestellten Glieder auf<lb/>
die vorderen hat einige Aehnlichkeit mit den Principien der altgriechischen Taktik<lb/>
(Phalanx). Es bezeichnet aber offenbar eine Lücke in unsrer heutigen militärischen<lb/>
Ausbildung, daß wir das System des Einzelfechtens auf die Schußwaffe be¬<lb/>
schränkt haben und nicht zugleich auf das Bajonett ausdehnen. (Die Uebun¬<lb/>
gen im sogenannten Bajonettiren sind nur ein schwacher Anfang.) Die Schwäche<lb/>
des heutigen Systems tritt allerdings auf Erercierplätzen und bei Feldmanö¬<lb/>
vern in der Umgegend von Berlin und Potsdam wenig hervor, aber in einem<lb/>
Terrain wie das in der europäischen Türkei und in Taurien wird es fühlbar.<lb/>
Frankreich scheint verhältnißmäßig am weitestell dem angedeuteten Ziele entgegen¬<lb/>
geschritten zu sein, indem eS in Algerien mit der Bedeutung des Einzelkampfes<lb/>
bekannt geworden, in seinen Zuaven sich eine Truppe schuf, welche wesentlich<lb/>
auf die Anwendung desselben als Angriffsform eingeschult und zugleich mit<lb/>
Rücksicht darauf bewaffnet ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1393" next="#ID_1394"> Die Anwendung dieser neuen Methode scheint es im Wesentlichen zu sein,<lb/>
welche der französischen neueren Taktik den Charakter des Ungestüms verliehen<lb/>
hat, den sie ungeachtet ihrer starken Hinneigung zu der offensiven Gefechtsfüh¬<lb/>
rung dennoch früher und auch unter dem großen Napoleon nicht in dem<lb/>
Maße besaß. Die großen Schlachten des Kaisers lassen sich den geometrischen<lb/>
Elementen ihrer Anordnung nach natürlich nicht unter einen Gesichtspunkt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0472] ist nicht ein einziger Fall vorgekommen, wo das türkische Feuer nicht seine Inferiorität dem nissischen gegenüber empfunden hätte; dagegen wurde der erste Feldzug des jetzigen Krieges gleich mit Siegen eröffnet, die wesentlich das Werk der osmamschen Artillerie waren. Diese letztere Waffe hatte bereits Anerken¬ nung vor Ausbruch des heutigen Kampfes; die Infanterie dagegen bekam eine bessere Waffenausrüstung erst im Laufe desselben. Ein Theil des Redif hat gegenwärtig noch das Steinschloßgewehr. Man wolle hierin keinen Widerspruch mit der bei den neusten Festungs¬ kämpfen und Ortsvertheidigungen oft aufgestellten und mit Recht für begründet anerkannten Behauptung finden: daß die türkische nationale Bewaffnung bei diesen ausnahmsweise» Gelegenheiten ihre Ueberlegenheit bewährt habe. Bei Erstürmung einer Schanze, wo die taktische Ordnung sich außer Wirksamkeit be¬ findet, ist nämlich das Gefecht als ein Aggregat von Einzelkämpfen anzusehen, das Feuergewehr leistet wenig mehr, ausgenommen beim Beginn des Ren- contres und wo es flankirend wirkt, weil man sich zu nahe befindet; auch das lange Gewehr erweist sich als Unpraktisch und die Entscheidung fällt dem Säbel und Handschar anheim, eben weil sie kurz sind. Die neuere Taktik kennt nur für das Feuergefecht die zerstreute Ordnung; im Handgemenge, und wenn alles auf die blanke Waffe gesetzt ist, will sie durch die Macht des Stoßes (Colonne) siegen. Diese Wirkung mit dicht ge¬ schlossenen Massen und mittelst des Druckes der zurückgestellten Glieder auf die vorderen hat einige Aehnlichkeit mit den Principien der altgriechischen Taktik (Phalanx). Es bezeichnet aber offenbar eine Lücke in unsrer heutigen militärischen Ausbildung, daß wir das System des Einzelfechtens auf die Schußwaffe be¬ schränkt haben und nicht zugleich auf das Bajonett ausdehnen. (Die Uebun¬ gen im sogenannten Bajonettiren sind nur ein schwacher Anfang.) Die Schwäche des heutigen Systems tritt allerdings auf Erercierplätzen und bei Feldmanö¬ vern in der Umgegend von Berlin und Potsdam wenig hervor, aber in einem Terrain wie das in der europäischen Türkei und in Taurien wird es fühlbar. Frankreich scheint verhältnißmäßig am weitestell dem angedeuteten Ziele entgegen¬ geschritten zu sein, indem eS in Algerien mit der Bedeutung des Einzelkampfes bekannt geworden, in seinen Zuaven sich eine Truppe schuf, welche wesentlich auf die Anwendung desselben als Angriffsform eingeschult und zugleich mit Rücksicht darauf bewaffnet ist. Die Anwendung dieser neuen Methode scheint es im Wesentlichen zu sein, welche der französischen neueren Taktik den Charakter des Ungestüms verliehen hat, den sie ungeachtet ihrer starken Hinneigung zu der offensiven Gefechtsfüh¬ rung dennoch früher und auch unter dem großen Napoleon nicht in dem Maße besaß. Die großen Schlachten des Kaisers lassen sich den geometrischen Elementen ihrer Anordnung nach natürlich nicht unter einen Gesichtspunkt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/472
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/472>, abgerufen am 15.01.2025.