Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ersten Ausweg hat Oestreich zwar stets in der Hand, aber es scheint ihn nicht
betreten zu wollen. Sollte also der Kampf gegen Nußland zu einem Zerwürf-
niß zwischen Frankreich und Oestreich führen, so wird der Kampf nicht an der
Donau, sondern am Po ausgefochten werden.'

Für den Italiener, vielleicht für den Weltbürger überhaupt, mochteeine
solche Aussicht viel Verlockendes haben, für den Deutschen gewiß nicht; denn
wir würden den Zwist der feindlichen Herrscher bezahlen müssen. Unter diesen
Umständen hat Preußen wieder eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Es scheint,
als ob die deutschen Mittelstaaten der Sache der Westmächte nicht mehr so
abgeneigt sind, wie früher. Wenn nun Preußen sein gewichtiges Ansehn in
die Wagschale legt, so zweifeln w^r nicht daran, daß Oestreich, welches ja der
Form nach noch immer am Decembervertrag hängt, sich der Mitwirkung nicht
entziehen wird. In der preußischen Thronrede ist gesagt worden, man wolle
keinen Vertrag eingehen, dessen Folgen man nicht übersehen könne, und der
Grundsatz ist an sich auch wohl ganz richtig; aber wie' das Verhältniß der
beiden kriegführenden Mächte jetzt steht, scheinen die Folgen nicht schwer zu
übersehen. In dieser Beziehung ist die Rede des Kaiser Napoleon beim Schluß
der pariser Industrieausstellung beachtenswert!). Wenn heute die gesammten
deutschen Mächte den von den Alliirten in den wiener Conferenzen aufgestellten
Friedensforderungen beitreten, so schließen sich morgen auch Schweden und
Dänemark an, und Rußland erleidet bann nicht blos einen äußerlichen Zwang,
sondern es kann auch mit einem Schein von Anstand zurücktreten, denn dem
Willen des gesammten Europa zu weichen kann auch den stolzesten Staat nicht
demüthigen.

Wenn also infolge einer solchen Erklärung der deutschen Staaten der
Friede geschlossen wird, so entgeht zwar Deutschland der Gewinn, auf den es
bei einer frühern Betheiligung 'an dem Unternehmen rechnen konnte, aber es
vermeldet auch die drohende Gefahr eines zerrüttenden Conflicts. Aus den vier
Garantiepunkren gewinnt Deutschland freilich direkt nichts, aber wenn es selbststän¬
dig dem Bund der Großmächte beitritt, kann es wenigstens den bedeutendsten seiner
nationalen Ansprüche zur Geltung bringen, die Revision des londoner Proto¬
kolls über die dänische Erbfolge, und jener Gewinn, wenn er auch erst in Zu¬
kunft eintritt, daß^ die Herzogthümer nicht ganz für Deutschland verloren
gehen, ist doch bedeutend genug, um ein Risico zu übernehmen, das bei der
gegenwärtigen Sachlage keines ist.




'Grenzboten. IV. 18os.!>8

ersten Ausweg hat Oestreich zwar stets in der Hand, aber es scheint ihn nicht
betreten zu wollen. Sollte also der Kampf gegen Nußland zu einem Zerwürf-
niß zwischen Frankreich und Oestreich führen, so wird der Kampf nicht an der
Donau, sondern am Po ausgefochten werden.'

Für den Italiener, vielleicht für den Weltbürger überhaupt, mochteeine
solche Aussicht viel Verlockendes haben, für den Deutschen gewiß nicht; denn
wir würden den Zwist der feindlichen Herrscher bezahlen müssen. Unter diesen
Umständen hat Preußen wieder eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Es scheint,
als ob die deutschen Mittelstaaten der Sache der Westmächte nicht mehr so
abgeneigt sind, wie früher. Wenn nun Preußen sein gewichtiges Ansehn in
die Wagschale legt, so zweifeln w^r nicht daran, daß Oestreich, welches ja der
Form nach noch immer am Decembervertrag hängt, sich der Mitwirkung nicht
entziehen wird. In der preußischen Thronrede ist gesagt worden, man wolle
keinen Vertrag eingehen, dessen Folgen man nicht übersehen könne, und der
Grundsatz ist an sich auch wohl ganz richtig; aber wie' das Verhältniß der
beiden kriegführenden Mächte jetzt steht, scheinen die Folgen nicht schwer zu
übersehen. In dieser Beziehung ist die Rede des Kaiser Napoleon beim Schluß
der pariser Industrieausstellung beachtenswert!). Wenn heute die gesammten
deutschen Mächte den von den Alliirten in den wiener Conferenzen aufgestellten
Friedensforderungen beitreten, so schließen sich morgen auch Schweden und
Dänemark an, und Rußland erleidet bann nicht blos einen äußerlichen Zwang,
sondern es kann auch mit einem Schein von Anstand zurücktreten, denn dem
Willen des gesammten Europa zu weichen kann auch den stolzesten Staat nicht
demüthigen.

Wenn also infolge einer solchen Erklärung der deutschen Staaten der
Friede geschlossen wird, so entgeht zwar Deutschland der Gewinn, auf den es
bei einer frühern Betheiligung 'an dem Unternehmen rechnen konnte, aber es
vermeldet auch die drohende Gefahr eines zerrüttenden Conflicts. Aus den vier
Garantiepunkren gewinnt Deutschland freilich direkt nichts, aber wenn es selbststän¬
dig dem Bund der Großmächte beitritt, kann es wenigstens den bedeutendsten seiner
nationalen Ansprüche zur Geltung bringen, die Revision des londoner Proto¬
kolls über die dänische Erbfolge, und jener Gewinn, wenn er auch erst in Zu¬
kunft eintritt, daß^ die Herzogthümer nicht ganz für Deutschland verloren
gehen, ist doch bedeutend genug, um ein Risico zu übernehmen, das bei der
gegenwärtigen Sachlage keines ist.




'Grenzboten. IV. 18os.!>8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100919"/>
          <p xml:id="ID_1373" prev="#ID_1372"> ersten Ausweg hat Oestreich zwar stets in der Hand, aber es scheint ihn nicht<lb/>
betreten zu wollen. Sollte also der Kampf gegen Nußland zu einem Zerwürf-<lb/>
niß zwischen Frankreich und Oestreich führen, so wird der Kampf nicht an der<lb/>
Donau, sondern am Po ausgefochten werden.'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1374"> Für den Italiener, vielleicht für den Weltbürger überhaupt, mochteeine<lb/>
solche Aussicht viel Verlockendes haben, für den Deutschen gewiß nicht; denn<lb/>
wir würden den Zwist der feindlichen Herrscher bezahlen müssen. Unter diesen<lb/>
Umständen hat Preußen wieder eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Es scheint,<lb/>
als ob die deutschen Mittelstaaten der Sache der Westmächte nicht mehr so<lb/>
abgeneigt sind, wie früher. Wenn nun Preußen sein gewichtiges Ansehn in<lb/>
die Wagschale legt, so zweifeln w^r nicht daran, daß Oestreich, welches ja der<lb/>
Form nach noch immer am Decembervertrag hängt, sich der Mitwirkung nicht<lb/>
entziehen wird. In der preußischen Thronrede ist gesagt worden, man wolle<lb/>
keinen Vertrag eingehen, dessen Folgen man nicht übersehen könne, und der<lb/>
Grundsatz ist an sich auch wohl ganz richtig; aber wie' das Verhältniß der<lb/>
beiden kriegführenden Mächte jetzt steht, scheinen die Folgen nicht schwer zu<lb/>
übersehen. In dieser Beziehung ist die Rede des Kaiser Napoleon beim Schluß<lb/>
der pariser Industrieausstellung beachtenswert!). Wenn heute die gesammten<lb/>
deutschen Mächte den von den Alliirten in den wiener Conferenzen aufgestellten<lb/>
Friedensforderungen beitreten, so schließen sich morgen auch Schweden und<lb/>
Dänemark an, und Rußland erleidet bann nicht blos einen äußerlichen Zwang,<lb/>
sondern es kann auch mit einem Schein von Anstand zurücktreten, denn dem<lb/>
Willen des gesammten Europa zu weichen kann auch den stolzesten Staat nicht<lb/>
demüthigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1375"> Wenn also infolge einer solchen Erklärung der deutschen Staaten der<lb/>
Friede geschlossen wird, so entgeht zwar Deutschland der Gewinn, auf den es<lb/>
bei einer frühern Betheiligung 'an dem Unternehmen rechnen konnte, aber es<lb/>
vermeldet auch die drohende Gefahr eines zerrüttenden Conflicts. Aus den vier<lb/>
Garantiepunkren gewinnt Deutschland freilich direkt nichts, aber wenn es selbststän¬<lb/>
dig dem Bund der Großmächte beitritt, kann es wenigstens den bedeutendsten seiner<lb/>
nationalen Ansprüche zur Geltung bringen, die Revision des londoner Proto¬<lb/>
kolls über die dänische Erbfolge, und jener Gewinn, wenn er auch erst in Zu¬<lb/>
kunft eintritt, daß^ die Herzogthümer nicht ganz für Deutschland verloren<lb/>
gehen, ist doch bedeutend genug, um ein Risico zu übernehmen, das bei der<lb/>
gegenwärtigen Sachlage keines ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 'Grenzboten. IV. 18os.!&gt;8</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0465] ersten Ausweg hat Oestreich zwar stets in der Hand, aber es scheint ihn nicht betreten zu wollen. Sollte also der Kampf gegen Nußland zu einem Zerwürf- niß zwischen Frankreich und Oestreich führen, so wird der Kampf nicht an der Donau, sondern am Po ausgefochten werden.' Für den Italiener, vielleicht für den Weltbürger überhaupt, mochteeine solche Aussicht viel Verlockendes haben, für den Deutschen gewiß nicht; denn wir würden den Zwist der feindlichen Herrscher bezahlen müssen. Unter diesen Umständen hat Preußen wieder eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Es scheint, als ob die deutschen Mittelstaaten der Sache der Westmächte nicht mehr so abgeneigt sind, wie früher. Wenn nun Preußen sein gewichtiges Ansehn in die Wagschale legt, so zweifeln w^r nicht daran, daß Oestreich, welches ja der Form nach noch immer am Decembervertrag hängt, sich der Mitwirkung nicht entziehen wird. In der preußischen Thronrede ist gesagt worden, man wolle keinen Vertrag eingehen, dessen Folgen man nicht übersehen könne, und der Grundsatz ist an sich auch wohl ganz richtig; aber wie' das Verhältniß der beiden kriegführenden Mächte jetzt steht, scheinen die Folgen nicht schwer zu übersehen. In dieser Beziehung ist die Rede des Kaiser Napoleon beim Schluß der pariser Industrieausstellung beachtenswert!). Wenn heute die gesammten deutschen Mächte den von den Alliirten in den wiener Conferenzen aufgestellten Friedensforderungen beitreten, so schließen sich morgen auch Schweden und Dänemark an, und Rußland erleidet bann nicht blos einen äußerlichen Zwang, sondern es kann auch mit einem Schein von Anstand zurücktreten, denn dem Willen des gesammten Europa zu weichen kann auch den stolzesten Staat nicht demüthigen. Wenn also infolge einer solchen Erklärung der deutschen Staaten der Friede geschlossen wird, so entgeht zwar Deutschland der Gewinn, auf den es bei einer frühern Betheiligung 'an dem Unternehmen rechnen konnte, aber es vermeldet auch die drohende Gefahr eines zerrüttenden Conflicts. Aus den vier Garantiepunkren gewinnt Deutschland freilich direkt nichts, aber wenn es selbststän¬ dig dem Bund der Großmächte beitritt, kann es wenigstens den bedeutendsten seiner nationalen Ansprüche zur Geltung bringen, die Revision des londoner Proto¬ kolls über die dänische Erbfolge, und jener Gewinn, wenn er auch erst in Zu¬ kunft eintritt, daß^ die Herzogthümer nicht ganz für Deutschland verloren gehen, ist doch bedeutend genug, um ein Risico zu übernehmen, das bei der gegenwärtigen Sachlage keines ist. 'Grenzboten. IV. 18os.!>8

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/465
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/465>, abgerufen am 23.06.2024.