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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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hatten. Zu ihnen aber waren als Kinder der Landstraße zahlreiche Bettel¬
mönche gekommen, welche die Kutte benutzten, um von den gläubigen Frauen
Geschenke zu erschwindeln, und ein spitzes Messer oder einen verrosteten Dolch
zu verstecken; ferner entlassene Landsknechte, als gesetzlose und brutale Strolche
der Schrecken der Dörfer und eine Plage für einzeln stehende Gehöfte. Außer¬
dem Gauner aller Art, Schatzgräber, Wunderdoktoren, Leute, welche Merk¬
würdigkeiten zeigten, die sie aus Welschland oder gar über das Mittelmeer
gebracht haben wollten. Dahinter schlüpften Zigeuner, die schon seit dem
11. Jahrhundert zuweilen um die Klöster und Bauernhöfe geschlichen
waren, seit dem 13. in großen Banden über das westliche Europa. Un¬
ter solchen Wanderern war seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die Classe
der fahrenden Schüler vielleicht die zahlreichste, ja sie war in manchen
Gegenden zu einer wahren Landplage geworden. Im Ausgange des Mittel¬
alters hatte die Begierde, die alten Sprachen zu lernen und durch solche
Gelehrsamkeit die Privilegien des geistlichen Standes zu erwerben, die un¬
tern Schichten des Volkes wie eine Modekrankheit ergriffen. Da überhaupt
noch wenig Bücher gedruckt und diese sehr schwer zü erwerben waren, so konnte
man nur von den unwissenden Geistlichen der Heimath oder an den wenig
zahlreichen Gelehrtenschulen die geheimnißvollen Kenntnisse erwerben, welche
ihren Besitzer aus der hungernden, gedrückten und zukunftlosen Masse des
Volkes herausheben sollten. Die Sehnsucht, ein Gelehrter zu werden, war da¬
mals in die Seelen der Armen gefahren, wie jetzt der fieberhafte Drang, in
fernen Goldländern sein Glück zu machen, und Kinder und halbwüchsige Bur¬
schen liefen aus den entlegensten Thälern hinein in die unbekannte Welt, die
Wissenschaft zu suchen. Wo eine lateinische Schule war, bei einem Stift oder
in dem reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich die Kinder
des Volkes durch, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, verwildert
und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie durch die
Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die Stifter, welche
die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte gaben solchen
Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager'in besondern Häusern, aber ihren
Lebensunterhalt mußten diese sich zum größten Theil erbetteln. Die Aufsicht,
welche über sie geübt wurde, war sehr gering, nur darauf hielt man streng,
daß in der Zügellosigkeit ihres Lebens Methode war; unter bestimmten Formen
und nur in gewissen Stadttheilen war zu betteln erlaubt. Wie überall, wo
sich Deutsche im Mittelalter zusammenfanden, so bildete sich auch unter diesen
Schülern eine Organisation aus, ein Pennalismus, der eine Menge von
Bräuchen und unsittliche" Gesetzen hatte, dem aber jeder einzelne verfiel, und
neben demselben die rohe Poesie eines abenteuerlichen Lebens, welche viele ver¬
darb und nur von guten Naturen ohne Schaden für ihr späteres Leben über-


hatten. Zu ihnen aber waren als Kinder der Landstraße zahlreiche Bettel¬
mönche gekommen, welche die Kutte benutzten, um von den gläubigen Frauen
Geschenke zu erschwindeln, und ein spitzes Messer oder einen verrosteten Dolch
zu verstecken; ferner entlassene Landsknechte, als gesetzlose und brutale Strolche
der Schrecken der Dörfer und eine Plage für einzeln stehende Gehöfte. Außer¬
dem Gauner aller Art, Schatzgräber, Wunderdoktoren, Leute, welche Merk¬
würdigkeiten zeigten, die sie aus Welschland oder gar über das Mittelmeer
gebracht haben wollten. Dahinter schlüpften Zigeuner, die schon seit dem
11. Jahrhundert zuweilen um die Klöster und Bauernhöfe geschlichen
waren, seit dem 13. in großen Banden über das westliche Europa. Un¬
ter solchen Wanderern war seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die Classe
der fahrenden Schüler vielleicht die zahlreichste, ja sie war in manchen
Gegenden zu einer wahren Landplage geworden. Im Ausgange des Mittel¬
alters hatte die Begierde, die alten Sprachen zu lernen und durch solche
Gelehrsamkeit die Privilegien des geistlichen Standes zu erwerben, die un¬
tern Schichten des Volkes wie eine Modekrankheit ergriffen. Da überhaupt
noch wenig Bücher gedruckt und diese sehr schwer zü erwerben waren, so konnte
man nur von den unwissenden Geistlichen der Heimath oder an den wenig
zahlreichen Gelehrtenschulen die geheimnißvollen Kenntnisse erwerben, welche
ihren Besitzer aus der hungernden, gedrückten und zukunftlosen Masse des
Volkes herausheben sollten. Die Sehnsucht, ein Gelehrter zu werden, war da¬
mals in die Seelen der Armen gefahren, wie jetzt der fieberhafte Drang, in
fernen Goldländern sein Glück zu machen, und Kinder und halbwüchsige Bur¬
schen liefen aus den entlegensten Thälern hinein in die unbekannte Welt, die
Wissenschaft zu suchen. Wo eine lateinische Schule war, bei einem Stift oder
in dem reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich die Kinder
des Volkes durch, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, verwildert
und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie durch die
Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die Stifter, welche
die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte gaben solchen
Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager'in besondern Häusern, aber ihren
Lebensunterhalt mußten diese sich zum größten Theil erbetteln. Die Aufsicht,
welche über sie geübt wurde, war sehr gering, nur darauf hielt man streng,
daß in der Zügellosigkeit ihres Lebens Methode war; unter bestimmten Formen
und nur in gewissen Stadttheilen war zu betteln erlaubt. Wie überall, wo
sich Deutsche im Mittelalter zusammenfanden, so bildete sich auch unter diesen
Schülern eine Organisation aus, ein Pennalismus, der eine Menge von
Bräuchen und unsittliche» Gesetzen hatte, dem aber jeder einzelne verfiel, und
neben demselben die rohe Poesie eines abenteuerlichen Lebens, welche viele ver¬
darb und nur von guten Naturen ohne Schaden für ihr späteres Leben über-


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[0429] hatten. Zu ihnen aber waren als Kinder der Landstraße zahlreiche Bettel¬ mönche gekommen, welche die Kutte benutzten, um von den gläubigen Frauen Geschenke zu erschwindeln, und ein spitzes Messer oder einen verrosteten Dolch zu verstecken; ferner entlassene Landsknechte, als gesetzlose und brutale Strolche der Schrecken der Dörfer und eine Plage für einzeln stehende Gehöfte. Außer¬ dem Gauner aller Art, Schatzgräber, Wunderdoktoren, Leute, welche Merk¬ würdigkeiten zeigten, die sie aus Welschland oder gar über das Mittelmeer gebracht haben wollten. Dahinter schlüpften Zigeuner, die schon seit dem 11. Jahrhundert zuweilen um die Klöster und Bauernhöfe geschlichen waren, seit dem 13. in großen Banden über das westliche Europa. Un¬ ter solchen Wanderern war seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die Classe der fahrenden Schüler vielleicht die zahlreichste, ja sie war in manchen Gegenden zu einer wahren Landplage geworden. Im Ausgange des Mittel¬ alters hatte die Begierde, die alten Sprachen zu lernen und durch solche Gelehrsamkeit die Privilegien des geistlichen Standes zu erwerben, die un¬ tern Schichten des Volkes wie eine Modekrankheit ergriffen. Da überhaupt noch wenig Bücher gedruckt und diese sehr schwer zü erwerben waren, so konnte man nur von den unwissenden Geistlichen der Heimath oder an den wenig zahlreichen Gelehrtenschulen die geheimnißvollen Kenntnisse erwerben, welche ihren Besitzer aus der hungernden, gedrückten und zukunftlosen Masse des Volkes herausheben sollten. Die Sehnsucht, ein Gelehrter zu werden, war da¬ mals in die Seelen der Armen gefahren, wie jetzt der fieberhafte Drang, in fernen Goldländern sein Glück zu machen, und Kinder und halbwüchsige Bur¬ schen liefen aus den entlegensten Thälern hinein in die unbekannte Welt, die Wissenschaft zu suchen. Wo eine lateinische Schule war, bei einem Stift oder in dem reichen Kirchspiel einer großen Stadt, dahin schlugen sich die Kinder des Volkes durch, oft unter den größten Leiden und Entbehrungen, verwildert und entsittlicht durch das mühevolle Wandern auf der Straße, wie durch die Unsicherheit ihres Lebens in dem Bereich der Schule. Denn die Stifter, welche die Schule eingerichtet hatten, oder die Bürgerschaften der Städte gaben solchen Fremden zwar zuweilen Obdach und Lager'in besondern Häusern, aber ihren Lebensunterhalt mußten diese sich zum größten Theil erbetteln. Die Aufsicht, welche über sie geübt wurde, war sehr gering, nur darauf hielt man streng, daß in der Zügellosigkeit ihres Lebens Methode war; unter bestimmten Formen und nur in gewissen Stadttheilen war zu betteln erlaubt. Wie überall, wo sich Deutsche im Mittelalter zusammenfanden, so bildete sich auch unter diesen Schülern eine Organisation aus, ein Pennalismus, der eine Menge von Bräuchen und unsittliche» Gesetzen hatte, dem aber jeder einzelne verfiel, und neben demselben die rohe Poesie eines abenteuerlichen Lebens, welche viele ver¬ darb und nur von guten Naturen ohne Schaden für ihr späteres Leben über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/429>, abgerufen am 22.07.2024.