Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.Wicklung andrer Staaten einen ganz eigenthümlichen Charakter zeigt. Was Wir gestehen, daß es uns durch die Lectüre des ersten Bandes nicht ganz Diejenige Richtung ist längst verurtheilt, welche auch die größesten Welt¬ Wicklung andrer Staaten einen ganz eigenthümlichen Charakter zeigt. Was Wir gestehen, daß es uns durch die Lectüre des ersten Bandes nicht ganz Diejenige Richtung ist längst verurtheilt, welche auch die größesten Welt¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0410" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100864"/> <p xml:id="ID_1221" prev="#ID_1220"> Wicklung andrer Staaten einen ganz eigenthümlichen Charakter zeigt. Was<lb/> wir so lange schmerzlich entbehrt haben, eine Geschichte unseres Staates, das<lb/> wird — so scheint es — uns jetzt zu Theil werden; und daß ein Historiker<lb/> ersten Ranges, dessen Umsicht, dessen Scharfblick, dessen lebendige Ausdrucks¬<lb/> weise sich nicht minder bei der Schilderung eigenthümlicher Charaktere, wie bei<lb/> der Darstellung und Entwirrung verwickelter Verhältnisse bereits hinlänglich<lb/> bewährt haben, sich dieser großen Ausgabe unterzieht, ist ein Umstand, der<lb/> nicht blos den freudigsten Dank des preußischen Volkes, sondern die Aufmerk¬<lb/> samkeit der gesammten Nation hervorrufen muß..</p><lb/> <p xml:id="ID_1222"> Wir gestehen, daß es uns durch die Lectüre des ersten Bandes nicht ganz<lb/> klar geworden ist, weshalb Droysen Anstand genommen hat, sein Werk unter<lb/> einem anspruchsvolleren, dem Inhalt desselben mehr entsprechenden Titel zu<lb/> veröffentlichen. Die Enttäuschung, daß wir, statt einer besonders für die Be¬<lb/> urtheilung der Gegenwart wichtigen Skizze der preußischen Politiker aus der<lb/> Feder eines hervorragenden Historikers und gewiegten Politikers, ein viel beten-<lb/> derberes Werk von bleibendem Werth erhalten, ist zwar höchst angenehm; aber<lb/> daß überhaupt eine Enttäuschung nothwendig ist, wird der schnellen Verbreitung<lb/> des Buchs nicht förderlich sein und wir wünschten lebhaft, daß die Gedanken<lb/> des berühmten Verfassers nicht erst nach Decennien, sondern womöglich sofort ein<lb/> innerstes Eigenthum der deutschen Nation würden; und dazu würde dienlich ge¬<lb/> wesen sein, wenn bereits aus dem Namen des Buchs zu erkennen gewesen wäre,<lb/> daß es,die schmerzlichste Lücke unsrer historischen Literatur auszufüllen trachtet. Das<lb/> allerdings ist leicht zu erkennen, daß Droysen nicht eigentlich eine Geschichte<lb/> des preußischen Staats oder gar des preußischen Volks zu schreiben beabsich¬<lb/> tigt; er liefert nicht eine chronologische Darstellung sämmtlicher bedeutenden<lb/> Ereignisse und Wechselfälle, die unsre Vorfahren bekümmerten und erfreuten,<lb/> er gibt mehr Betrachtungen über die Geschichte unseres Staates, eine Ausein¬<lb/> andersetzung der großen Momente, welche seine Entwicklung, sein Wachsthum,<lb/> seine Schicksale begreiflich machen, gedankenvolle Abhandlungen, die um so<lb/> bedeutender sind, als durch die Ausscheidung des Nebensächlichen, durch die suc¬<lb/> cessive Ablösung der unwesentlichen Hüllen das eigentliche Lebensprin¬<lb/> cip des Staates vor unserm aufmerksamen Auge bloßgelegt wird und die<lb/> um so lautere Bewunderung verlangen, je bedenklicher die Gefahren sind, die<lb/> bei einer solchen BeHandlungsweise überwunden werden mußten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1223" next="#ID_1224"> Diejenige Richtung ist längst verurtheilt, welche auch die größesten Welt¬<lb/> begebenheiten aus kleinlichen persönlichen Anlässen herzuleiten beflissen war; sie<lb/> spukt höchstens noch in den Köpfen solcher Personen, die durch die Doctrin,<lb/> daß die Geschichte ein Konglomerat von Zufälligkeiten sei, daß z. B. die Ge¬<lb/> fahr einer Revolution nicht langsam heranreife, sondern manchmal hereinbreche,<lb/> „wenn ein Droschkenpferd fällt," sich in eine fatalistische Anschauungsweise</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0410]
Wicklung andrer Staaten einen ganz eigenthümlichen Charakter zeigt. Was
wir so lange schmerzlich entbehrt haben, eine Geschichte unseres Staates, das
wird — so scheint es — uns jetzt zu Theil werden; und daß ein Historiker
ersten Ranges, dessen Umsicht, dessen Scharfblick, dessen lebendige Ausdrucks¬
weise sich nicht minder bei der Schilderung eigenthümlicher Charaktere, wie bei
der Darstellung und Entwirrung verwickelter Verhältnisse bereits hinlänglich
bewährt haben, sich dieser großen Ausgabe unterzieht, ist ein Umstand, der
nicht blos den freudigsten Dank des preußischen Volkes, sondern die Aufmerk¬
samkeit der gesammten Nation hervorrufen muß..
Wir gestehen, daß es uns durch die Lectüre des ersten Bandes nicht ganz
klar geworden ist, weshalb Droysen Anstand genommen hat, sein Werk unter
einem anspruchsvolleren, dem Inhalt desselben mehr entsprechenden Titel zu
veröffentlichen. Die Enttäuschung, daß wir, statt einer besonders für die Be¬
urtheilung der Gegenwart wichtigen Skizze der preußischen Politiker aus der
Feder eines hervorragenden Historikers und gewiegten Politikers, ein viel beten-
derberes Werk von bleibendem Werth erhalten, ist zwar höchst angenehm; aber
daß überhaupt eine Enttäuschung nothwendig ist, wird der schnellen Verbreitung
des Buchs nicht förderlich sein und wir wünschten lebhaft, daß die Gedanken
des berühmten Verfassers nicht erst nach Decennien, sondern womöglich sofort ein
innerstes Eigenthum der deutschen Nation würden; und dazu würde dienlich ge¬
wesen sein, wenn bereits aus dem Namen des Buchs zu erkennen gewesen wäre,
daß es,die schmerzlichste Lücke unsrer historischen Literatur auszufüllen trachtet. Das
allerdings ist leicht zu erkennen, daß Droysen nicht eigentlich eine Geschichte
des preußischen Staats oder gar des preußischen Volks zu schreiben beabsich¬
tigt; er liefert nicht eine chronologische Darstellung sämmtlicher bedeutenden
Ereignisse und Wechselfälle, die unsre Vorfahren bekümmerten und erfreuten,
er gibt mehr Betrachtungen über die Geschichte unseres Staates, eine Ausein¬
andersetzung der großen Momente, welche seine Entwicklung, sein Wachsthum,
seine Schicksale begreiflich machen, gedankenvolle Abhandlungen, die um so
bedeutender sind, als durch die Ausscheidung des Nebensächlichen, durch die suc¬
cessive Ablösung der unwesentlichen Hüllen das eigentliche Lebensprin¬
cip des Staates vor unserm aufmerksamen Auge bloßgelegt wird und die
um so lautere Bewunderung verlangen, je bedenklicher die Gefahren sind, die
bei einer solchen BeHandlungsweise überwunden werden mußten.
Diejenige Richtung ist längst verurtheilt, welche auch die größesten Welt¬
begebenheiten aus kleinlichen persönlichen Anlässen herzuleiten beflissen war; sie
spukt höchstens noch in den Köpfen solcher Personen, die durch die Doctrin,
daß die Geschichte ein Konglomerat von Zufälligkeiten sei, daß z. B. die Ge¬
fahr einer Revolution nicht langsam heranreife, sondern manchmal hereinbreche,
„wenn ein Droschkenpferd fällt," sich in eine fatalistische Anschauungsweise
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