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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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gemäß den eignen Sprachgesetzen organisch umzugestalten, diese fremden Formen
zu eignen, zu originalen. Der deutsche Alexandriner war nicht ganz der fran¬
zösische, die Ottave Goethes nicht die des Tasso, der Herametcr Klopstocks gar
nicht der des Homer, noch weniger der goethesche oder Schillersche, aber auch
nicht der von Voß oder Wolf; freilich hatte überall das Original seine un¬
erreichbaren Vorzüge, aber sie waren eigne schöne Gebilde, die, je nach der
Genialität der Hand, die den ersten glücklichen Wurf that oder der Emsigkeit,
mit der man sich sie anzueignen suchte, entweder sogleich oder nach und nach be¬
liebt und heimisch wurden. Noch jetzt stößt wol einer oder der andere in der Louise
oder in Hermann und Dorothea, oder in einem Schillerschen Epigramm an, aber
die Masse der Gebildeten hat sich auch der Form bemächtigt, liebt und versteht
sie und kümmert sich wenig darum, daß die Gelehrten sagen, daß das schlechte
Herameter oder Distichen seien. Groß ist die Zahl derer, die die rhyth¬
mische Schönheit eines "Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh" oder
des "Laß, o laß, Freund, stieben den Staub Neapels?" empfinden gelernt
haben, auch wenn sie nichts von Asklepiadeisch oder Sapphisch wissen; braucht
ein unverbildetes Ohr sie ja nur richtig vorlesen zu hören! Herders Eid, Goe¬
thes Zueignung, Chamissos Salas y Gomez, manche Platensche Sonette und
Parabasen wissen., die Meisten, die eine etwas höhere Schulbildung durchgemacht
haben, halb auswendig. All daS aber sind, sagt man, undeutsche Formen;
nur der Volksliederton oder die einfache gereimte und die Nibelungenstrophe
sind uns natürlich. Als ob die Gelehrten zu bestimmen hätten, was uns na¬
türlich sei. Was unser Ohr ergötzt und unser Herz bewegt, das ist natürlich.
Und gelingt ersteres nicht ohne einige Lehre und'Anleitung, so erinnere man
sich, daß die Orange nicht darum ungenießbar ist, weil vielleicht einer bei der
ersten Bekanntschaft in die bittre Schale hineinbeißt. In.der That kommt es
mir so vor, wie wenn der Deutsche sich verbieten wollte, Orangen und Feigen
zu essen, weil sie bei ihm nicht wachsen und weil sie frisch vom Baume besser
schmecken. Wie wenn der gesteigerte Völkerverkehr nun auch noch Datteln
und Schirastrauben und indische Nüsse bringt? Ich fürchte, man hat sich
bereits gewöhnt, von fremder Frucht zu naschen!

Liegt also wol die beste Vertheidigung jener Dichtungen im Erfolg, so
kann solche allerdings für die dritte Gattung, die stilhafte Uebersetzung,
geführt werden. Die Kunst ist noch neu und doch haben sich ihr, seit
Ramler 1769 mit fünfzehn horazischen stilhaft übersetzten Oden auftrat und
Voß 1781 so die deutsche Odyssee folgen ließ, Herder 1778 diese Strenge
auch auf die neuern Sprachen in seinen so unendlich wirksamen Stim¬
men der Völker in Liedern anwandte und A. W, Schlegel sie mit dem
Shakespeare endlich W. v. Humboldt (1816) mit seinem bewundernswürdigen
Agamemnon zur höchsten Stufe erhoben hatte, eine Menge der edelsten Kräfte


gemäß den eignen Sprachgesetzen organisch umzugestalten, diese fremden Formen
zu eignen, zu originalen. Der deutsche Alexandriner war nicht ganz der fran¬
zösische, die Ottave Goethes nicht die des Tasso, der Herametcr Klopstocks gar
nicht der des Homer, noch weniger der goethesche oder Schillersche, aber auch
nicht der von Voß oder Wolf; freilich hatte überall das Original seine un¬
erreichbaren Vorzüge, aber sie waren eigne schöne Gebilde, die, je nach der
Genialität der Hand, die den ersten glücklichen Wurf that oder der Emsigkeit,
mit der man sich sie anzueignen suchte, entweder sogleich oder nach und nach be¬
liebt und heimisch wurden. Noch jetzt stößt wol einer oder der andere in der Louise
oder in Hermann und Dorothea, oder in einem Schillerschen Epigramm an, aber
die Masse der Gebildeten hat sich auch der Form bemächtigt, liebt und versteht
sie und kümmert sich wenig darum, daß die Gelehrten sagen, daß das schlechte
Herameter oder Distichen seien. Groß ist die Zahl derer, die die rhyth¬
mische Schönheit eines „Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh" oder
des „Laß, o laß, Freund, stieben den Staub Neapels?" empfinden gelernt
haben, auch wenn sie nichts von Asklepiadeisch oder Sapphisch wissen; braucht
ein unverbildetes Ohr sie ja nur richtig vorlesen zu hören! Herders Eid, Goe¬
thes Zueignung, Chamissos Salas y Gomez, manche Platensche Sonette und
Parabasen wissen., die Meisten, die eine etwas höhere Schulbildung durchgemacht
haben, halb auswendig. All daS aber sind, sagt man, undeutsche Formen;
nur der Volksliederton oder die einfache gereimte und die Nibelungenstrophe
sind uns natürlich. Als ob die Gelehrten zu bestimmen hätten, was uns na¬
türlich sei. Was unser Ohr ergötzt und unser Herz bewegt, das ist natürlich.
Und gelingt ersteres nicht ohne einige Lehre und'Anleitung, so erinnere man
sich, daß die Orange nicht darum ungenießbar ist, weil vielleicht einer bei der
ersten Bekanntschaft in die bittre Schale hineinbeißt. In.der That kommt es
mir so vor, wie wenn der Deutsche sich verbieten wollte, Orangen und Feigen
zu essen, weil sie bei ihm nicht wachsen und weil sie frisch vom Baume besser
schmecken. Wie wenn der gesteigerte Völkerverkehr nun auch noch Datteln
und Schirastrauben und indische Nüsse bringt? Ich fürchte, man hat sich
bereits gewöhnt, von fremder Frucht zu naschen!

Liegt also wol die beste Vertheidigung jener Dichtungen im Erfolg, so
kann solche allerdings für die dritte Gattung, die stilhafte Uebersetzung,
geführt werden. Die Kunst ist noch neu und doch haben sich ihr, seit
Ramler 1769 mit fünfzehn horazischen stilhaft übersetzten Oden auftrat und
Voß 1781 so die deutsche Odyssee folgen ließ, Herder 1778 diese Strenge
auch auf die neuern Sprachen in seinen so unendlich wirksamen Stim¬
men der Völker in Liedern anwandte und A. W, Schlegel sie mit dem
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Agamemnon zur höchsten Stufe erhoben hatte, eine Menge der edelsten Kräfte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/373>, abgerufen am 24.08.2024.