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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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feine Accentuationen, die Koloraturen durch perlenden Fluß aus, aber es war
alles etwas ungleich, die Stimme sowol als der Vortrag. Frl. Tietjenö
hat eine zwar nicht starke Stimme, aber von vorzüglicher Weichheit, Lieblich¬
keit und Rundung und vereinigt damit eine sehr gute Technik, aber sie ver¬
mochte nur in geringem Grade ihre Darstellungen geistig zu beleben. Roger
trat einige Male auf und war nicht gut bei Stimme, trotzdem riß er das
Publicum als Edgardo in Lucia, wo er alle seine geistigen Kräfte aufbot,
zur Begeisterung hin, die nur den Leistungen des genialen Künstlers folgt.
An solchen Abenden sieht man selbst das kalte berliner Publicum in einer
Stimmung, die man fast für unmöglich halten sollte, und fühlt sich zurückver¬
setzt in die Zeiten der Kindheit, wo die uns jetzt so vertraute und alltäglich
gewordene Theaterwelt noch den Nimbus des Uebernatürlichen an sich hatte.
Wir wollen nicht im Ernste alles vertreten, was -Roger macht; aber unter
manchem Verwerflichen liegen Goldkörner, wie sie kein andrer Sänger heutiger
Zeit zu Tage fördert. -- Ein paar kleinere Gastspiele ohne künstlerisches In¬
teresse übergehe ich. Auch über die nicht mehr eristirende Krollsche Oper kann
ich schweigen, obschon einige hier noch nicht gegebene französische Opern dort
zur Aufführung kamen, denn das Personal war zu ungleich, das Ensemble
trotz des tüchtigen Orchesters zu kleinstädtisch.

An die Schilderung der Opernzustände schließe ich eine Uebersicht der
regelmäßigen Concerte an, die uns in ihrer Mehrzahl in das Gebiet der
Instrumentalmusik führen. Wenn es schon für die Oper und das Oratorium
zu beklagen ist, daß das Neue so schwer in Berlin zur Aufführung gelangt,
so gilt dies noch mehr von diesem Zweig der Musik. Wir sind keineswegs
dafür, daß das Neue einen übermäßigen Platz einnehme; aber es müßte denen,
die sich ernstlicher für Musik interessiren, Gelegenheit gegeben sein, es zu hören.
Viele kleine Städte sind soweit, daß sich der musikalische Theil der Bevölke¬
rung ein Urtheil über die Erscheinungen der Gegenwart bilden kann, -- und
auf das Urtheil kommt es hier zunächst mehr an, als auf den künstlerischen
Genuß; und Berlin, von dessen Bewohnern alle Künstler klagen, daß sie nicht
um zu genießen, sondern um zu urtheilen, Concerte und Theater besuchen,
zeigt ein so geringes Urtheilsverlangen, daß wir noch fast nichts von Verlioz,
von Wagner, Liszt, Brahms, Franz u. s. w. gehört haben. Ja selbst Schu¬
mann und Gabe sind noch ziemlich unbekannt; noch mehr, sogar von Franz
Schubert ist nur sehr weniges in weitern Kreisen bekannt.

Der Zukunft erwächst eine Ausgabe in neuer Organisation des musikali¬
schen Lebens, deren Lösung für Berlin um so schwieriger werden wird, als hier
mehr als anderwärts das Neue zurückgehalten worden ist. Doch haben ver¬
schiedene Umstände im vorigen Winter uns bereits einen vorläufigen Einblick
in die "Zukunftsmusik" gewährt; der nächste Winter wird, wie es den An-


feine Accentuationen, die Koloraturen durch perlenden Fluß aus, aber es war
alles etwas ungleich, die Stimme sowol als der Vortrag. Frl. Tietjenö
hat eine zwar nicht starke Stimme, aber von vorzüglicher Weichheit, Lieblich¬
keit und Rundung und vereinigt damit eine sehr gute Technik, aber sie ver¬
mochte nur in geringem Grade ihre Darstellungen geistig zu beleben. Roger
trat einige Male auf und war nicht gut bei Stimme, trotzdem riß er das
Publicum als Edgardo in Lucia, wo er alle seine geistigen Kräfte aufbot,
zur Begeisterung hin, die nur den Leistungen des genialen Künstlers folgt.
An solchen Abenden sieht man selbst das kalte berliner Publicum in einer
Stimmung, die man fast für unmöglich halten sollte, und fühlt sich zurückver¬
setzt in die Zeiten der Kindheit, wo die uns jetzt so vertraute und alltäglich
gewordene Theaterwelt noch den Nimbus des Uebernatürlichen an sich hatte.
Wir wollen nicht im Ernste alles vertreten, was -Roger macht; aber unter
manchem Verwerflichen liegen Goldkörner, wie sie kein andrer Sänger heutiger
Zeit zu Tage fördert. — Ein paar kleinere Gastspiele ohne künstlerisches In¬
teresse übergehe ich. Auch über die nicht mehr eristirende Krollsche Oper kann
ich schweigen, obschon einige hier noch nicht gegebene französische Opern dort
zur Aufführung kamen, denn das Personal war zu ungleich, das Ensemble
trotz des tüchtigen Orchesters zu kleinstädtisch.

An die Schilderung der Opernzustände schließe ich eine Uebersicht der
regelmäßigen Concerte an, die uns in ihrer Mehrzahl in das Gebiet der
Instrumentalmusik führen. Wenn es schon für die Oper und das Oratorium
zu beklagen ist, daß das Neue so schwer in Berlin zur Aufführung gelangt,
so gilt dies noch mehr von diesem Zweig der Musik. Wir sind keineswegs
dafür, daß das Neue einen übermäßigen Platz einnehme; aber es müßte denen,
die sich ernstlicher für Musik interessiren, Gelegenheit gegeben sein, es zu hören.
Viele kleine Städte sind soweit, daß sich der musikalische Theil der Bevölke¬
rung ein Urtheil über die Erscheinungen der Gegenwart bilden kann, — und
auf das Urtheil kommt es hier zunächst mehr an, als auf den künstlerischen
Genuß; und Berlin, von dessen Bewohnern alle Künstler klagen, daß sie nicht
um zu genießen, sondern um zu urtheilen, Concerte und Theater besuchen,
zeigt ein so geringes Urtheilsverlangen, daß wir noch fast nichts von Verlioz,
von Wagner, Liszt, Brahms, Franz u. s. w. gehört haben. Ja selbst Schu¬
mann und Gabe sind noch ziemlich unbekannt; noch mehr, sogar von Franz
Schubert ist nur sehr weniges in weitern Kreisen bekannt.

Der Zukunft erwächst eine Ausgabe in neuer Organisation des musikali¬
schen Lebens, deren Lösung für Berlin um so schwieriger werden wird, als hier
mehr als anderwärts das Neue zurückgehalten worden ist. Doch haben ver¬
schiedene Umstände im vorigen Winter uns bereits einen vorläufigen Einblick
in die „Zukunftsmusik" gewährt; der nächste Winter wird, wie es den An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/36>, abgerufen am 24.08.2024.